Zerbrechlich - auf Englisch "fragile"

Ich sitze am Tisch und schaue in unseren Garten. Ein mäßiger Südwestwind spielt mit den Blättern der großen Weide. Zarte, schmale, braungrüne, gelbrote Blätter wie Lanzenspitzen. Doch nicht geschaffen, um wehzutun. Geschaffen zur Erholung der Augen, zum Versteck des Nestes, zum Ein- und Ausatmen des Baumes.

Als ob das Blatt einen Frühling und Sommer lang nur darauf gewartet hätte, fallen zu dürfen. Eben, als ich schaue, löst es sich vom Zweig. Nimmt Abschied von einem langen Sommer. Nimm Abschied vom Zweig, der es über Platzregen, Gewitterstürme und Mittagshitze trug.

Es fällt in einer großen Schönheit und Zartheit. Dreht, zwirbelt und wirbelt, zeigt sich von allen Seiten, in allen Farben. Dann fällt es sacht neben der Sternmagnolie zu Boden. Ich kann die letzten zwei Meter nicht mehr mit den Blicken verfolgen. Doch hat sich mir diese Leichtigkeit und Freude eingeprägt.

Später gehe ich zur Weide. Da liegen Tausende kleiner, schmaler, vielfarbiger Blätter. Sie waren vorher nicht zu unterscheiden. Sie sind jetzt wieder nicht mehr zu unterscheiden. Doch das Fallen jedes einzelnen war sein Fallen. Diese Sekunden des Fluges machten aus dem Blatt in der Masse ein einzelnes Blatt. Der Höhepunkt in seiner Geschichte. So jedenfalls schien es mir, als ich Zeuge dieses Fallens war.

So ist der Herbst die Jahreszeit des Abschieds, und deutlicher wird als sonst die Zerbrechlichkeit. Farben verblassen, Blätter werden zertreten, Blätter und Stiele zerfallen.

Ich nehme zwei meiner Lieblingslieder, eines von Sting und eines von Loreena McKennitt. Die deutschen Übersetzungen finden Sie im Internet.

Sting, Fragile

If blood will flow when flesh and steel are one
Drying in the colour of the evening sun
Tomorrow’s rain will wash the stains away
But something in our minds will always stay.
Perhaps this final act was meant
To clinch a lifetime’s argument
That nothing comes from violence
And nothing ever could
For all those born beneath an angry star
Lest we forget how fragile we are
On and on the rain will fall like tears from a star,
like tears from a star
On and on the rain will say how fragile we are,
how fragile we are
On and on the rain will fall like tears from a star,
like tears from a star
On and on the rain will say how fragile we are,
how fragile we are
How fragile we are, how fragile we are

Loreena McKennitt - Dante’s prayer

When the dark wood fell before me
And all the paths were overgrown
When the priests of pride say there is no other way
I tilled the sorrows of stone.

I did not believe because I could not see
You came to me in the night
When the dawn seemed forever lost
You showed me your love in the light of the stars.

Cast your eyes on the ocean
Cast your soul to the sea
When the dark night seems endless
please remember me.

Then the mountain rose before me
By the deep well of desire
From the fountain of forgiveness
Beyond the ice and the fire.

Cast your eyes to the ocean
Cast your soul to the sea
When the dark night seems endless
please remember me.

Though we share this humble path, alone
How fragile is the heart
Oh give these clay feet wings to fly
To touch the face of the stars.

Breathe life into this feeble heart
Lift this mortal veil of fear
Take these crumbled hopes, etched with tears
We’ll rise above these earthly cares.

Cast your eyes to the ocean
Cast your soul to the sea
When the dark night seems endless
Please remember me
Please remember me.

Beiden Großen ist die Zerbrechlichkeit nicht fremd. Sie wenden die Zerbrechlichkeit auf den stabilsten Muskel an. Das Herz. Die Alten sahen Sinn und Verstand noch im Herzen.

Bei Hanns-Walter Wolf lernte ich:

leb - der vernünftige Mensch

In der Regel wird das anthropologisch wichtigste Wort des AT mit „Herz“ übersetzt. 858 Mal kommt es im AT vor. Dieser Begriff ist fast ausschließlich dem Menschen zugeordnet.

Doch auch diese Übersetzung ist irreführend. Folgende Bedeutungen sind möglich:

1. Herz

„Es erstarb ihm sein Herz im Innern und er wurde zu Stein.“ (1. Samuel 25,37)
„Es bricht mein Herz in der Brust, es zittern alle meine Gebeine.“ (Jeremia 23,9)
„Mein Herz flattert. Es verlässt mich die Kraft. Meiner Augen Licht entschwindet mir.“ (Psalm 38,11)
Das AT gibt allerdings nirgendwo zu erkennen, dass es den Zusammenhang von Herztätigkeit und Pulsschlag kennt. Das Herz jedenfalls ist das zentrale Organ vor allem in Krankheiten, bei Überanstrengungen.
Das Herz bleibt ein unzugängliches Organ, deshalb kann man auch vom Herzen des Meeres (Sprüche 30,18) oder des Himmels (5. Mose 4,11) reden. Herz steht also in diesem Zusammenhang für alles Unzugängliche und Unerforschliche: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.“ (1. Samuel 16,7)

2. Gefühl

Diese Bedeutung mag von den „Erregungszuständen“ des kranken Herzens her verständlich sein.
In Psalm 25,17 betet ein Leidender: „Löse meines Herzens Bedrängnisse! Aus meinen Nöten führe mich heraus.“ Der erste Satz heißt wörtlich: Weite die Verengungen meines Herzens!
„… du weitest mein Herz“ (Psalm 119,32) heißt: Du befreist mich.
„Des Leibes Leben ist ein gelassenes Herz, aber Übereifer ist Knochenfraß.“ (Sprüche 14,30)
Das Herz ist Sitz von Freude und Kummer, Mut und Angst

3. Verlangen

Das Herz wird auch als Sitz des Begehrens (ähnlich näphäsch) betrachtet: „Begehre nicht im Herzen nach ihrer Schönheit.“ (Sprüche 6,25)

4. Vernunft

„In den weitaus meisten Fällen werden vom Herzen intellektuelle, rationale Fähigkeiten ausgesagt, also genau das, was wir dem Kopf und genauer dem Hirn zuschreiben“ (77).
„Des Klugen Herz sucht Erkenntnis.“ (Sprüche 15,14)
„Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, dass wir heimbringen ein weises Herz.“ (Psalm 90,12)
Als ein hörendes (!) Organ ist das Herz weise und einsichtig. Deshalb bittet Salomo Gott um ein „hörendes Herz“ (1. Könige 3,9ff). Das Herz ist also als (Weisheit) empfangendes Organ gedacht. „Alles umfasst es, was wir Kopf und Hirn zusprechen: Erkenntnisvermögen, Vernunft, Verstehen, Einsicht, Bewusstsein, Gedächtnis, Wissen, Nachdenken, Urteilen, Orientierung, Verstand.“(84)

5. Willensentschluss

„Des Menschen Herz plant seinen Weg, Jahwe aber lenkt den Schritt.“ (Sprüche 16,9)
„Tu alles, was in deinem Herzen ist. Ich bin dabei. Wie dein Herz ist mein Herz“, sagt Jonathans Waffenträger zu diesem (1. Samuel 14,6).
„Du sollst Jahwe, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen. (Willen) lieben und mit deiner ganzen näphäsch (Begehren) und mit allen deinen Kräften.“ (5. Mose 6,5)
Das Herz als (Gottes Wort) hörendes Organ ist das Zentrum des bewusst lebenden Menschen.
(Vgl. H. W. Wolf, Anthropologie)

Sehen wir die ganze Breite dessen, was „leb“ im AT bedeuten kann, vielleicht verstehen wir die Zerbrechlichkeit der Herzen, die die Bibel kennt - einmal ganz davon abgesehen, dass sich „fragile“ im Englischen eben anders anhört als Zerbrechlichkeit im Deutschen.

Ob mein Sohn Christoph Recht hat, der meinte, das deutsche „Zerbrechlichkeit“ bezöge sich auf Sachen wie Glas, das englische „fragile“ eher auf den zerbrechlichen Menschen?

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