Liedpredigt zu "Gott ist gegenwärtig", EG 165

Mystik ist in. Wenn darunter der Versuch zu verstehen ist, „sich der unmittelbaren Gegenwart Gottes bewusst zu werden" (McGinn), so macht das bekannte Lied „Gott ist gegenwärtig" neugierig. Dies umso mehr, als sich nämlich auch sein Dichter Gerhard Tersteegen als Mystiker, ja als der Mystiker des Protestantismus erweist.

Bis vor kurzem hielt ich Tersteegen für einen jener „Stillen im Lande", einen reformierten Pietisten vom Niederrhein, von dem einige Lieder im Gesangbuch stehen. Aber in Tersteegen steckt viel mehr. Als Dichter hat er 122 Lieder und 1200 Verse und geistliche Schlussreime verfasst. Ungemein sprachbegabt hat er, der nur eine Kaufmannslehre als Ausbildung hatte, sich theologisch weitergebildet, einen Kinderkatechismus geschrieben, die Bibel in allen Ursprachen beherrscht. Als (Erweckungs-)Prediger hat er im Rheinland bleibende Spuren hinterlassen. Er ist der Vater der ersten evangelischen Kommunität, lebte als Eremit, wirkte als Naturheilkundiger und Apotheker, bewährte sich in einer Korrespondenz von Tausenden von Briefen als Seelsorger und geistlicher Begleiter.
Schließlich und vor allem beeindruckt er als Kenner und Meister der geistlichen Tradition: Er übersetzte, veröffentlichte Texte aus der (romanischen) Mystik. Er scherte sich wenig um konfessionelle Scheuklappen und gab weiter, was für ihn zum Zentrum seines Lebens und Glaubens geworden war: Leben in der Gegenwart Gottes. Dieses Programm hat er nicht erfunden. Er entdeckt es im von vielen missachteten Strom mystischer Lebenswege vor seiner Zeit. Was es mit einem solchen Leben auf sich hat, wie man sich die „Gegenwart Gottes" bewusst machen kann, entfaltet er unermüdlich, auch in seinem Lied: Gott ist gegenwärtig.

Strophe 1-2
„Leben in der Gegenwart Gottes" ist nach Tersteegen das „kurze und sehr einfache Mittel", seinem Leben Tiefgang zu geben. Tersteegen weiß um eine dreifache Gegenwart Gottes: in der „Allgegenwart Gottes", des Schöpfers - in der „Gnadengegenwart Gottes" in Jesus Christus und dank der „inwohnenden Gegenwart Gottes" im Zustand innigster Nähe zwischen Gott und Mensch. „Gott ist in der Mitte" ist Bekenntnis: Damit ist gesagt, um wen es in meinem Leben vorrangig gehen soll. Gott ist mir geradezu leiblich nah. In meinem Herzen finden Gott und Mensch zueinander. Damit erfährt das Herz Aufwertung als geistig-geistliches Organ der Erkenntnis. Nicht der Verstand ist das Maß aller Dinge. Tersteegen weiß sich mit den Mystikern einig, die predigten: Vom Verstand ins Herz! Dem schloss er sich wohlgemerkt zur Zeit der Aufklärung an, in der manche bereit waren, der menschlichen Vernunft einen Altar zu bauen. Sich Gott auch leiblich „in der Mitte" des Menschen vorzustellen, schafft Intensität, Gewissheit und gleichzeitig eine nüchterne Distanz zu allen Formen äußerlichen Glaubensvollzuges. Tersteegen ging es deshalb nicht anders als vielen Mystikerinnen und Mystiker: Der Konflikt mit Kirchenhierarchie und Pfarrerstand war vorprogrammiert und bedeutete etliche Jahre staatlich verhängtes Predigtverbot. Sich Gott allein verpflichtet zu wissen kann unbequem werden und schützt nicht vor Konflikten - weder in noch mit „der Kirche".

Strophe 3
Die Liebeserklärung „Du allein sollst es sein" hat Konsequenzen für die eigene Lebenspraxis. Tersteegen hat selbst - in den Anfangsjahren extrem asketisch - vorgelebt, was es heißt, Gott alles im eigenen Leben sein zu lassen. Weil er jegliche Abbildung verwehrt hat, gibt es kein Bild von ihm. Weil der Kaufmannsberuf ihm zu sehr Ablenkung war, zog er sich in eine Hütte zurück, um als Leinen-, später als Seidenweber seinen Unterhalt zu verdienen. Er verbrachte lange Zeit in völligem Rückzug aus der Öffentlichkeit. Am Gründonnerstag 1724 hat er sich in seiner „Verschreibung" ganz Christus überantwortet. Er mied die Eitelkeiten der Welt, soll - als Friedrich der Große ihn als den klugen Verfasser einer Schrift gegen „den Weltweisen von Sanssouci" kennen lernen wollte - eine Begegnung ausgeschlagen haben. Ein Leben in Rückzug und Gottbesinnung, strukturiert durch den Tagesablauf mit Tätigkeit, Gebetszeit und geistlichem Studium war für ihn die Folge der alleinigen Ausrichtung auf Gott. „Wir entsagen willig" steht für den freien Entschluss dazu. Jede Form von Zwang und Nötigung hat er zeitlebens abgelehnt, wenn auch Verbindlichkeit und Konsequenz seinen geistlichen Weg kennzeichnen. In einer seiner Lieblingsformulierungen beschreibt er diesen Lebensentwurf als „der Eigenheit entsinken": Nicht mit dem Strom schwimmen, nicht von jeder Mode und Aufgeregtheit hin- und hergeworfen werden, „verleugnen" im Sinne von Loslassen all dessen, was für ihn nicht mehr wesentlich ist. Das folgt daraus, wenn Gott als Lebensmitte auf alles ausstrahlt. Sein asketischer Zug wurde mit den Jahren milder. Deshalb täte man ihm Unrecht, wollte man ihn für einen „kill of joy" und Miesepeter halten. Sich aller „Erdenlust und Freuden" zu enthalten höre ich als ständige Übung darin, herauszufinden, was mich näher zu Gott führt oder eher in ein zerstreutes und damit oberflächliches Leben.

Strophe 4
Als Lebensregel hat Tersteegen gedichtet: „Nicht gelehrt und nicht geehrt, unbekannt und eingewandt,/ nichts mehr haben, nichts mehr sorgen,/ willenlos in Gott geborgen/ nur der Ewigkeit gemein: Dies soll meine Regel sein." Ein Leben in innerer und äußerer Konzentration ist damit auf den Punkt gebracht. Tersteegen ging seinen Weg in größter innerer Freiheit: Sein Erbe verteilte er unter Bedürftige, was zum endgültigen Zerwürfnis mit seinen Geschwistern führte. Er behielt seine geistig-geistliche Unabhängigkeit. Wenn andere sich ereiferten, dass er sich mit katholischen geistlichen Lebensläufen abgab, erkannte er in solchen Beispielen gottergebenen Lebens Leuchtfeuer, die auch in seine Zeit und darüber hinaus auszustrahlen vermögen. In seinen drei Bänden „Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen" hat er sein größtes Opus geschaffen. Über Jahre beschäftigte er sich mit Quellen und Texten und hat das Thema „Heilige als geistliche Vorbilder" als einer der Ersten im Protestantismus erkannt. Wir haben uns an interkonfessionelle und interreligiöse Begegnungen gewöhnt. Zu seinen Lebzeiten provozierte er damit so manchen Skandal. Dass er sich vom Kirchenbetrieb fern hielt und selbst in der ihm gegenübergelegenen Kirche nicht mehr am Abendmahl teilnahm, empfanden die als ungehörig, für die sich Christsein im „äußeren Gottesdienst" erschöpft. Doch was zählen Menschenmeinungen, Anerkennung oder Verleumdung, wenn es darum geht, allzeit „wie die Engel vor Gott stehen und ihn gegenwärtig sehen"! Im Wechsel von „wir" zu „ich" kündigt sich an, dass der Weg hin auf Gott den Menschen als Einzelnen Gott näher bringt und zu persönlichen Begegnung und Auseinandersetzung führt.

Strophe 5.6
Wenn es zur Gottesbegegnung kommt, tut sich Sprache schwer damit, auszudrücken, was erfahren wird. Ist es ein personaler oder a-personaler Gott, der mich erwartet? Auch bei Tersteegen findet sich durch das ganze Lied der Wechsel vom einen zum anderen. Hier überwiegen die geradezu entgrenzten Bilder, um die Allgegenwart Gottes zu fassen: „Grund", „Meer", „Luft", „Sonne" stehen für Dimensionen jenseits jeder menschlichen Einschränkung. Wer bisher im Zweifel ist, ob das wirklich der dichterische Ausdruck eines Mystikers ist, bekommt mit den Worten „Ich in dir/ du in mir" den letzten Hinweis: Das ist die klassische sog. mystische Austauschformel. Der Mensch wirft sich in Gott, setzt sich seiner prägenden Kraft und Energie aus, lässt auf ganz existenzielle Weise Gott alles werden und sich selbst los. Das ist Überlassung im tiefsten Grund. Dem entspricht, dass Tersteegen die bekannte Johannesstelle „damit sie alle eins seien" (Joh 17,21) verstanden hat als Einswerden mit Christus, wie er wesensmäßig eins mit Gott ist. Wer daraus lebt, wird mehr und mehr von sich abzusehen lernen, um immer und überall ganz auf Gott ausgerichtet zu leben.

Strophe 7
Wer die Sprache und Bilder der mystischen Erfahrung kennt, weiß, was Tersteegen meint und anklingen lässt, wenn er vom Zustand „reines Herzens" schreibt: Das ist der Mensch, der frei ist von den Verstrickungen des menschlichen Herzens, zu reiner Liebe fähig, im wahrsten Sinne selbst-los, weil die Liebe zu Gott alles umschmilzt. Der „Adler" ist in der geistlichen Tradition Symbol für das Tier, das Gott am nächsten kommt. Wer Gott erfahren oder gar schauen darf, tut dies nicht um besonderer Erfahrungen willen, mit denen sich angeben ließe. Dem gewonnenen Seelenfrieden geht es auch jetzt nicht darum, nach außen zu glänzen oder sich auf dem Markt der Eitelkeiten zu behaupten. Deshalb ist sich ein solches Leben genug in Abgeschiedenheit, Stille, Wendung nach innen, tiefem Frieden. „Einfältig" verstehen wir heute als Ausdruck von Beschränktheit. Nicht so Tersteegen: In diesem Wort verbirgt sich der Gegenentwurf zu einem Leben der Viel-Falt und Zerstreuungen. Wer Gott alles sein lässt, lernt, sich auf eines auszurichten. Damit ist dem Herzen die Frage gestellt: Was sammelt, was zerstreut?

Strophe 8
Das Lied schließt im Gestus und Ton der Bitte. Darin zeigt sich Selbstzurücknahme des Menschen, der nicht selbst am liebsten Gott sein will, sondern weiß, wem Anbetung gebührt. Der „unmittelbaren Gegenwart Gottes bewusst zu bleiben", das bedarf des Beistands der Nähe Gottes, die uns mehr und mehr zu den Menschen macht, als die uns Gott gemeint hat. All die erwünschten und ersehnten Veränderungen erreichen wir nicht durch Willensanstrengung. Sie sind Geschenke Gottes. Noch etwas wird am Ende zurechtgerückt: Entgegen allen Vorurteilen hat ein Leben in konsequenter Ausrichtung auf Gott nichts mit Weltflucht zu tun. So hilfreich ausgesonderte Räume und Zeiten sind, sich Gott zuzuwenden: Die Übung im Alltag besteht darin, überall, selbst in alltäglichen Erfahrungen und Verrichtungen sich der Gegenwart Gottes bewusst zu bleiben: „Wo ich geh/sitz und steh" - es gibt nichts, wo Gott mir nicht nahe ist. In seinen geistlichen Sinnsprüchen hat das Tersteegen so auf den Punkt gebracht: „Wenn ich bei der Arbeit stehe, esse, trinke, sitz und gehe/ach, das Herz ist anderswo, unberührt und innig froh./Nur im Geist mit Gott gemein, DA muss meine Wohnung sein."
Das ist ganz im protestantischen Geist verstanden, der den Alltag aufwertet gegenüber dem vermeintlich besseren Leben hinter Klostermauern. Man muss nicht erst Mönch oder Heilige werden, um ein gotterfülltes Leben zu führen. Da, wo ich lebe und mich im Alltag bewähre, ist die Gegenwart Gottes ebenso wirklich und wirksam wie in Augenblicken der Andacht, des Gottesdienstes oder der geistlichen Übung.
Tersteegen hat uns durch sein Lebenszeugnis und mit diesem Lied vorgesungen: Mein Alltag kann zur ständigen Übung werden, sich der Gegenwart Gottes bewusst zu bleiben. Indem ich kurz innehalte, die Arbeit einmal aus der Hand lege, mich vom Läuten der Glocken an den gegenwärtigen Gott erinnern lasse. Das mag mich verändern, wie es Tersteegen selbst erfahren hat: „Ich wählte vormals Ort und Zeit/zum Beten und zur Einsamkeit,/nun bet ich stets im stillen Sinn/nun bin ich einsam, wo ich bin."

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