Vertraut den neuen Wegen – Liedpredigt über EG 395,1-3

In seinem Buch mit Lebenserinnerungen unter dem Titel „Sag meinen Kindern, dass sie weiterziehn“ erzählt der emeritierte Theologieprofessor aus Jena, Klaus-Peter Hertzsch, aus dem aufregenden Jahr 1989: Seine Patentochter wollte im August in Eisenach ihre Hochzeit feiern. Der Vater der Braut, ein Pfarrer in Thüringen, bat den Patenonkel, ein neues Lied für die Hochzeit auf eine bekannte Melodie zu schreiben, am besten auf die Melodie „Du meine Seele, singe ...“.
Professor Hertzsch fragte zurück: „Was für einen Trauspruch haben die jungen Leute denn ausgesucht?“ Antwort: 1. Mose 12. Die Geschichte vom Aufbruch Abrahams in ein neues Land: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“
„Das war ein guter Trautext“, schreibt Klaus-Peter Hertzsch, „denn bei der Trauung geht es um Aufbruch ins Künftige, Aufbruch unter Gottes Aufruf und Zusage.“
So schrieb er am Abend vor der Trauung noch schnell drei Strophen des gewünschten Hochzeitsliedes. Der Brautvater holte sie spät abends im Hotel in Eisenach ab und machte im Pfarrbüro noch genügend Kopien. Am nächsten Tag wurde in der Annenkirche zu Eisenach zum ersten Mal gesungen: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist ...“ Nach der bekannten Melodie „Du meine Seele, singe ...“
Stellen wir uns vor, wir seien dabei gewesen, und singen die erste Strophe auf die genannte Melodie.

(Vers 1 singen)

Was mag das junge Brautpaar in Thüringen gedacht haben, als man dieses neue Lied sang? Auch in der damaligen DDR war die Ehe eine problematische Sache geworden so wie auch im Westen. Und eine kirchliche Trauung war längst nicht mehr üblich. Wofür auch? Kam es doch einzig und allein auf die emotionale Bindung, die sexuelle Attraktion und die weltanschauliche Übereinstimmung an. „Was Gott zusammengefügt hat ...“ Das klingt da wie Worte von einem andern Stern oder aus einer längst vergangenen Zeit.
Und nun wird den jungen Leuten von dem alternden Professor der praktischen Theologie ein Interpretationsangebot gemacht, wie sie ihre Ehe verstehen können: als Auszug in das Gelobte Land.
Das Gelobte Land ist ja nicht etwas, das wir selber ausdenken, erfinden und herrichten können. Das Gelobte Land ist da, das gibt es schon. Wir müssen uns aufmachen und es finden.
Das Gelobte Land der Ehe ist dann gerade nicht die altehrwürdige bürgerliche Institution, zu der wir wieder zurückkehren müssen. Das Gelobte Land liegt nie in der Vergangenheit. Kirchliche Trauung ist dann nicht Nostalgie, ist nicht Märchenhochzeit. Das Gelobte Land liegt immer vor uns. Die Hochzeit ist der erste Schritt im Vertrauen darauf, dass jeder Tag ein Schritt mehr in ein schon bereitetes Land ist.
Menschen, die so voll Vertrauen in die Zukunft gehen, sind ein Segen für die Erde. Der Blick zurück lehrt uns, dass wir uns nicht selbst geboren haben. Auch der Ehepartner ist nicht von uns geschaffen worden. Wenn das klar ist, wird so etwas wie Führung deutlich. Dann ist Ehe ein gemeinsamer Auftrag. So singt es wenigstens der zweite Vers, den wir jetzt anstimmen wollen:

(Vers 2 singen. Melodie wie Vers 1)

Klaus-Peter Hertzsch erzählt weiter, wie die Teilnehmer an jener Hochzeit im August 89 die kopierten Zettel mitgenommen haben, weil ihnen das neue Lied über den besonderen Anlass hinaus gefiel.
Und als sein Freund, Professor Jürgen Henkys, in Berlin seinen 60. Geburtstag feierte, schickte er ihm dieses Lied in der Meinung, es passe ja auch ganz gut zu einem runden Geburtstag und sei zudem ein ganz persönliches Geschenk, ein selbst gemachtes, was ja immer von besonderem Wert ist.
Jener Jürgen Henkys war aber auch Mitglied der Gesangbuchkommission, die das neue Evangelische Gesangbuch zusammenstellen sollte. Eigentlich war die Arbeit schon getan, die Auswahl der Lieder praktisch fertig. Dennoch brachte Jürgen Henkys sein Geburtstagsgeschenk in die letzte Sitzung mit und sagte, es gäbe eigentlich zu wenig Lieder in dem neuen EG, die von vertrauensvollem Aufbruch singen. Und er hätte da eins zum Geburtstag bekommen. Ob man dies nicht noch in letzter Minute in die Liste der Gesangbuchlieder aufnehmen wolle. Und er las vor: „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist ...“ Die Kommission nickte. Das Lied war angenommen. Auf solchen Wegen kommen manchmal Lieder ins Gesangbuch.
Nun war der Herbst 1989 eine ganz besondere Zeit. Sie ist ja dann als Wende in die Geschichte eingegangen. Etwas von den Spannungen und Hoffnungen dieser Wendezeit schwingt ja auch in diesem Liede mit, ohne dass dies vom Verfasser beabsichtigt war. Mitte Oktober war Erich Honecker zurückgetreten. Mitte November ging am Buß- und Bettag die Friedensdekade zu Ende mit einem ökumenischen Abschlussgottesdienst. In der Stadtkirche St. Michael zu Jena sang die versammelte Gemeinde zum ersten Mal das neue Lied „Vertraut den neuen Wegen ...“, aber nach der Melodie „Lob Gott getrost mit Singen“, die auch im Gesangbuch gewählt ist.
Versuchen wir, uns in die Gefühle der versammelten Christen in Jena hineinzuversetzen, die etwas Neues kommen spürten, aber nicht wussten, was da werden würde, indem wir die dritte Strophe singen:

(Vers 3 singen)

Wie klingen diese Verse heute, 17 Jahre später? Das Lied hat sich weit verbreitet und wird noch immer gern gesungen. Aus den Hoffnungen von damals ist Normalisierung, bei vielen sogar Enttäuschung geworden. Von den vielen Möglichkeiten, was aus der Wende alles hätte werden können, hat sich nur eine verwirklicht: dass die alte Bundesrepublik um fünf neue Länder erweitert wurde. Es ist müßig, zu lamentieren, dass es auch bessere Wege gegeben hätte. Die aufregende Zeit der Wende ist vorbei. Die alten Probleme des Ost-West-Gegensatzes und der atomaren Bedrohung sind ad acta gelegt. Dafür sind neue, drohende Probleme entstanden: die Globalisierung, die demographische Entwicklung, der drohende Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme, der Wertezerfall, der Terrorismus usw.
Können wir dagegen mit dem Optimismus dieses Liedes ansingen, den Jürgen Henkys als „vertrauensvollen Aufbruch“ gekennzeichnet hat?
Das Lied ist sicher kein lyrisches Meisterwerk. Doch eine Zeile zieht mich immer wieder in ihren Bann, sie könnte ich immer wieder singen: „Die Zukunft ist sein Land.“
Die Zukunft ist sozusagen die Domäne Gottes. In Wirklichkeit weiß ja niemand, was die Zukunft bringen wird. Alles hängt an seidenen Fäden. Die menschliche Vernunft, die doch so viel zuwege gebracht hat, empfindet dies als Beleidigung und versucht, ihre Ohnmacht zu kaschieren, indem sie Zukunftsprognosen und Hochrechnungen erstellt. Aber es werden immer die Zustände der Gegenwart hochgerechnet. Und meistens kommen Katastrophen heraus. Eine hochgerechnete Gegenwart ist aber immer noch Gegenwart, keine Zukunft. Aber die echte Zukunft bleibt Gottes Domäne. Deshalb und nur deshalb steht da keine schwarze Katastrophe am Horizont. Deshalb und nur deshalb dürfen wir es wagen zu singen:
„Die Zukunft ist sein Land ... Das Land ist hell und weit.“

(Verse 1-3 singen)

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