Anders Glauben ist nötigKirche – über-flüssig

Die Erwartung, die Kirche würde sich aus eigener Kraft in die Lage bringen, sich zu reformieren, ist absurd geworden. Daran ändert auch der gerade zu Ende gegangene Synodale Weg in Deutschland nichts. Es ist Zeit für eine Selbstrelativierung.

Blick Innenraum Kirche
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Eine Kirche, die von sich glaubt, unbedingt gebraucht zu werden und gesellschaftlich, kulturell, politisch, sozialstaatlich und so weiter unersetzbar zu sein, ohne sich tatsächlich von diesem anderen ihrer selbst her zu erfassen, macht sich überflüssig. Mit dieser Haltung mangelnden elementaren Respekts würde besonders die katholische Kirche sich damit verwechseln, wofür sie eigentlich da ist. Das vertieft ihre gravierende Krise weiter rasant, weil sie so die falschen Lehren aus ihrem desaströsen Abstieg ziehen würde. Zugleich drängt sich der Eindruck auf, dass ihre Leitungsspitze gleichwohl nach wie vor der Meinung ist, man müsse sich nicht groß darum kümmern, wie katholische Kirche außerhalb von ihr angesehen und eingeschätzt, abgehakt und manchmal auch verachtet wird. Es werden hier und dort zwar viele und auch ernsthafte und bedenkenswerte Worte darum gemacht, man wolle Anderes und man müsse anders werden. Nimmt man jedoch entsprechend einem biblischen Ratschlag die Taten als Grundlage der Einschätzung, sieht es anders aus. Das prekäre Außen und seine Zumutung werden zwischen störend und lästig angesehen, weil sie nicht zu der innerkirchlich gerade vom Papst Franziskus ins Zentrum gestellten Synodalität passen, die sich mit sich selbst befassen soll, aber nicht unbedingt – oder sogar unbedingt nicht? – mit den Inhalten, die zu jenen prekären Einschätzungen führen.

Das hat jetzt ausgestrahlt. So haben die vatikanischen Machtdemonstrationen auf den deutschen synodalen Weg ohne mit der Wimper zu zucken zugreifen können. Sie haben zwar keinen Gehorsam gefunden, der vorauseilt, der sich aber doch vorausgeschleppt hat. Das machte aus eigentlich unvermeidlichen Standpunktbildungen zu entscheidenden Problemen entweder Entscheidungen, dass geprüft werden soll, ob geprüft werden kann, oder Beschlüsse für nun mögliche Aktionsradien, die lediglich dem gesellschaftlich und existentiell Selbstverständlichen und längst verschämt Praktizierten nachhinken können. Mit Nonchalance setzte sich die Herrschaftstaktik des Hinhaltens und Verschiebens in Szene. Aus den vielen Erwartungen, bei diesem Weg als Last Exit doch die nötigen Veränderungen hinzubekommen, ist wieder einmal ein Warten auf Godot geworden, von dem man schon weiß, dass er nicht kommt, und zwar nicht von oben, aber offenbar auch nicht von unten. Die Erwartung, diese Kirche würde sich aus eigener Kraft in die Lage bringen, sich zu reformieren, ist absurd geworden. Dieses Fenster hat sich für Deutschland mit der Frankfurter Versammlung geschlossen; es wird sich voraussichtlich dann weltkirchlich diesen oder spätestens nächsten Herbst schließen.

Es gibt aus dem vergangenen Winter eine Warnung, wenn Reformstau duldsam hingenommen wird. Beim Gas aus Russland wurde offenkundig: Es geht auch ohne. Nach einem Jahr des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zeigt sich, dass russisches Gas überflüssig und ersetzbar ist. Das kostet mehr und die alternative Beschaffung ist komplizierter, aber Europa und Deutschland kommen ohne aus. Was noch vor einem Jahr undenkbar war, wird zur neuen Normalität. Über die katholische Kirche lässt sich das auch sagen, wenn man es als Analogie nimmt, also ähnlich bei größerer Unähnlichkeit. Die katholische Kirche unterstützt den Angriffskrieg nicht wie die russisch-orthodoxe Kirche, daher taugt die Analogie. Diese stellt die herbe Einsicht in den Raum, wie sehr die katholische Kirche für immer mehr Menschen überflüssig und ersetzbar ist und zwar auch in den gefährlichen Erfahrungen des Lebens, in denen es Menschen kalt ums Herz und unbehaust in der Seele wird. Und es handelt sich nicht zuletzt um Menschen aus ihrer eigenen Mitte.

Oberflächlich paradoxe Entwicklung

Das gilt, obwohl manche in der verfassten Politik, Wirtschaft und Wissenschaft davon ausgehen, es ginge gesellschaftlich und staatlich in den rasanten Veränderungen nicht ohne eine einfluss-reiche katholische Kirche, auch wenn sie als schleichende Schnecke kaum vom Fleck kommt. Die Kirchenmitglieder denken zunehmend anders. Vielleicht muss man sogar sagen, dass je mehr jemand in der gesellschaftlichen Elite der Kirche fernsteht, desto geringer die Fähigkeit entwickelt ist, sich Caritas-Tätigkeiten, religiöse Begleitung gesellschaftlicher Katastrophen und den christlich motivierten Anteil an der Zivilgesellschaft ohne Kirche vorzustellen. Wer dagegen in Kirche engagiert ist und sich noch mit ihr identifiziert, weiß es besser. Schließlich sehen sich immer mehr Kirchenmitglieder damit konfrontiert, dass sich die eigene Religionsgemeinschaft sehenden Auges überflüssig macht, weil sie auf ihren weltkirchlichen und regionalkirchlichen Leitungsebenen keine hinreichenden Lehren aus ihrem selbst verschuldeten Abstieg zieht. Entsprechend ist der Faden ihrer Geduld gerissen, ohne dass diese Menschen abwinken, es sei ihnen egal.

Wir erleben die nur bei oberflächlichem Blick paradoxe Entwicklung, dass sich insbesondere engagierte und überzeugte Gläubige entschieden abwenden und viele davon auch förmlich austreten. In Österreich waren es für 2022 mehr als 90.000. Das sind ein Viertel mehr als im Jahr davor, was schon das Allzeithoch darstellte. In Deutschland sind keine anderen Zahlen erwartbar. Auch wenn jene Gläubigen, die keine Geduld mehr haben, immer älter werden, wird ihre Einsicht nicht aussterben. Man kann sie nicht aussitzen oder mit Appellen irgendwelcher Kardinäle, doch geduldig zu bleiben, neutralisieren. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind es verschwindend geringe Zahlen, die ihre Existenz mit der katholischen Religionsgemeinschaft noch vergleichbar identifizieren wie jene, die jetzt gehen. Der Anteil der skeptischen und enttäuschten Gläubigen wächst jährlich schneller auf die binnenkirchlich übergroße Mehrheit zu. Dieser Prozess ist keine Schnecke.

Christlich Gläubige sind dazu auch spirituelle und religiöse Gläubigerinnen und Gläubiger ihrer Kirche; sie rückversichern sie mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Daher reagieren sie unvermeidlich darauf, wenn sich ihre Kirche überflüssig macht, weil der massive sexuelle Missbrauch, seine weltweite skandalöse Vertuschung und das Entsetzen darüber außerhalb wie innerhalb für ihre globale Hochhierarchie immer noch offenbar bestenfalls lästig sind, aber nicht integral erschütternd. Sie wird von eigener Unverschämtheit kaum beschämt. Wer in und mit einer Kirche glaubt, die unglaubwürdig geworden ist, muss sich unausweichlich fragen, was das mit der eigenen Glaubwürdigkeit macht. Davon wollen immer mehr Gläubigerinnen und Gläubiger kein Teil mehr sein. Sie schreiben lieber ab, was sie selbst in nicht unerheblichem Maße in diese Kirche innerlich und äußerlich investiert haben. Das reicht mittlerweile bis hinauf zu Generalvikaren und Stadtdekanen und auch das wird weitergehen. Solche Gläubige bauen eine förmlich erklärte oder anonyme Distanzierung auf. Dabei ist die anonyme Distanz wahrscheinlich sogar die nachhaltigere, weil sie auch über eine Enttäuschung keine indirekte Anbindung mehr aufbaut. Wer beim Austrittsakt mit seiner Kirche ins Gericht geht, muss ja mindestens noch einen Akt der Empörung setzen.

Wer jetzt binnenkirchlich meint, darüber könne man doch die Achseln zucken, weil die wahren Katholikinnen und Katholiken so etwas nicht tun würden und endlich jene gingen, die sowieso nicht dazu gehörten, hat nichts von diesem Vorgang verstanden. Es geht dabei ums Ganze des Glaubens, eben seine Glaubwürdigkeit. Es geht nicht um Aperçues zur entscheidenden Hierarchie der Wahrheiten. Für die, deren Geduldsfaden gerissen ist, gilt ausgemacht, dass es ohne Kirche oder zumindest ohne diese Kirche geht. Sie sind die Vorhut einer globalen Entwicklung, die sich anderswo auch dynamisiert wie schon längst in allen einst sehr katholischen Nachbarländern Deutschlands; das schließt andere Kontinente ein. Die anonym Distanzierten belegen ziemlich überzeugend, wie gut es geht, nicht immer wieder kirchlich enttäuscht zu werden. Da hilft es der verfassten institutionellen Kirche gar nicht, dass ihre Steuereinnahmen hierzulande (noch) nicht einbrechen. Sie mag reich bleiben, aber sie wird bedeutungslos; denn ihre Bedeutung hängt an ihrer Glaubwürdigkeit, nicht an ihren Bilanzen.

Der Kipppunkt ist erreicht

Natürlich ist es – wie beim russischen Gas – auch bei diesem „es geht auch ohne“ kostspieliger, langwieriger und nicht so einfach zu ersetzen, was lange selbstverständlich galt. Aber komplex ist es gleichwohl zu machen. Es wird dann viel individueller und anonymer geglaubt. Diese Erfahrung wiederum strahlt nachhaltig auf die noch verbliebenen Mitglieder aus. Sie distanzieren sich zunehmend weniger von den Distanzierten, aber immer mehr von ihrer Kirche. Sie wissen, gleich wie schwierig sich Ersetzungsprozesse erweisen, sie sind doch alle machbar. Aufgrund dieser inneren Distanzierung lässt sich niemand mehr beschuldigen. Die berühmten Sätze von Romano Guardini von 1922 über das nachhaltige innerliche Kirchenerwachen müssten heute anders formuliert werden: „Ein Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche entschläft in den Seelen.“ Und womöglich ist das mit der unabsehbaren Tragweite bloß das Pfeifen von professionellen Theologen wie mir im dunklen Wald, dass doch bitte die eigene Selbstverständlichkeit nicht so markant wegbricht. Es könnte sein, dass die Tragweite historisch gar nicht so weit reicht.

Was soll man dazu sagen? Zunächst einmal ließe sich einwenden, der Vergleich mit dem russischen Gas hinke auch analog. Das gebe ich zu. Das Problem des russischen Gases kam durch einen allgemein unerwarteten militärischen Überfall auf den Tisch. Man musste sehr schnell auf die Abhängigkeit reagieren und den Fehler korrigieren. Bei der katholischen deutschen Kirche ist seit dem Missbrauchsskandal im Berliner Canisius-Kolleg das Problem offensichtlich, wie wenig sachgemäß es von einem früheren Papst war zu sagen, man solle keine Angst haben katholisch zu sein, und das auch zu zeigen. Die Missbrauchsopfer belegen das. Viele der Gläubigen, denen es jetzt reicht, haben sich sehr lange Zeit gelassen, ehe sie tatsächlich dem scheinbar Undenkbaren Raum gaben. Nimmt man das eigentliche Datum für die Zeitenwende in Sachen katholischer sexualisierter und vertuschter Gewalt, die Spotlight-Enthüllungen des Boston Globe am Dreikönigstag 2002, dann war die Latenzzeit sogar noch länger. Dass es gläubigen Menschen mit dieser Kirche reicht und sie durchaus zu ersetzen ist, diese Lawine hat sich  noch ziemlich lange an den Hängen über den katholischen Kirchturmblicken gehalten. Jetzt ist ihr Kipppunkt erreicht und sie zieht immer schneller in die Tiefe.

Was jetzt ins Rutschen gekommen ist, halten weder bange Blicke noch Vogel-Strauß-Politik in binnenkirchlichen Machtzentren auf. Wir werden vielmehr böse davon überrascht, wie wenig man sich dort aus der drohenden Gefahr gemacht hat. Das war unverantwortlich, aber das ändert auch nichts mehr an der verheerenden Wirkung der Lawine. Wer meint, so etwas gäbe es bloß im abgelegenen deutschen Seitental einer global viel größeren katholischen Gebirgswelt, betet sich die Lage gesund. Es ist woanders nicht anders, aber es kann dort noch verheerender kommen. Die schnell anwachsende Einsicht, trotz aller Hochphase eines sich global geradezu rasant ausweitenden Christentums sei Kirche überflüssig, hat eine integrale und globale Wucht.

Das dämmert auch manch früheren und jetzigen Verantwortlichen in Rom. Aber sie verhalten sich emsig bemüht irrational, um die Entwicklung als unangenehmen deutschen Sonderfall abzutun, der sich gefälligst wieder in die Reihen einzuordnen habe. Es wird nicht helfen, den Überbringer der schlechten Nachricht zu attackieren. Er ist nicht das Rohmodell für eine bessere Kirche, sondern bisher nur die Avantgarde dessen, was den anderen weltweit bevorsteht. Oder glaubt jemand ernsthaft, die katholische Kirche käme anderswo glimpflicher mit ihrem sexuellen Missbrauch davon als in Irland, den USA, Australien, Frankreich, Belgien, Österreich, Kanada, Deutschland, weil das woanders alles nicht so schlimm ist? Dieser Glaube drückt keine Hoffnung aus, sondern Illusionen.

Was soll man nun als weiter kirchlich identifizierter Mensch tun? Schutzräume vor dieser Einsicht gibt es keine, weil einerseits alle Warnungen, so würde Kirche mit Vollgas an die Wand gefahren, als miesepetrige Kleingläubigkeit abgetan wurden und andererseits die von Päpsten und Hochhierarchie gepriesenen heilen Welten der Neuen Geistlichen Gemeinschaft längst massiv vom „Verrat der (Gründungs-)Väter“ (Céline Hoyeau) eingeholt wurden. Von der politischen Welt sind keine alternativen Reinigungsräume wie Wahrheitskommissionen zu erwarten, so dass wieder eine auf Treue und Glauben respektierte Kirche entstünde. Nirgendwo auf diesem Planeten hat die katholische Kirche eine über jeden Zweifel und Verdacht erhabene Position.

Ikonen des kirchlichen Scheiterns

Daher ist das erste, was kirchlich identifizierte Menschen tun sollten: sich ohne Wenn und Aber dieser Einsicht stellen. Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten, weil es ein ehernes Gesetz gibt: Je glaubwürdiger Kirche ihre sexualisierte Gewalt und ihre aberwitzigen Vertuschungen aufarbeitet, desto stärker wird die Einsicht, wie unglaubwürdig sie agiert hat und wie systemisch das von ihr selbst verursacht ist. Und je unglaubwürdiger sie aufarbeiten würde, desto brutaler wird die Einsicht einschlagen. Kirche kann den von ihr an ihr selbst verursachten Schaden nicht mehr aufhalten. Derlei Souveränität gibt es auch nicht von oben, wie sich am Papsttum zeigt. Es weckt Berge großer Erwartungen, die dann, wenn sie kreißen, bestenfalls niedliche Nagetiere wie etwa versteckte Fußnoten gebären. Und es geht auch nicht von unten her, wie sich in allen synodalen Prozeduren bisher gezeigt hat. Sie sind sogar umso wirksamer, je mehr sie von dieser Illusion lassen. Innerhalb der Kirche kann man das eigene Scheitern nur mehr gestalten, aber nicht aufhalten. Nachhaltig hinreichend verändert wird Kirche erst von außen.

Wer daher heute in der katholischen Kirche seelsorglich arbeitet, wird Zeit des eigenen Berufslebens nicht mehr für eine glaubwürdige Religionsgemeinschaft einstehen können. Und das eigene – und in großer Mehrheit auch Gott sei Dank so gegebene! – glaubwürdige Arbeiten vor Ort kann daran leider nichts ändern. Man muss sich wirklich nicht wundern, dass es überall dieser Kirche an Nachwuchs fehlt. Man sieht es an ihren Bischöfen bis hinauf zu jenen von Rom bei jedem Missbrauchsgutachten: Bei aller diplomatischen Reverenz, binnenkirchlicher Exzellenz und medialer Präsenz, die weiterhin für sie aufgeboten werden, sind sie die Gesichter des Abstiegs nach unten. Sie sind die Ikonen des kirchlichen Scheiterns.

Was also nun tun? Ich bin nur ein Theologe und daher ist mein Beitrag dazu theologisch. Da sich die Religionsgemeinschaft  überflüssig macht, besteht für die innere Bindung der Gläubigen aneinander die Chance, über-flüssig zu werden. Das ist kein Wortspiel, sondern ein Diskurswechsel. Denn dieses „über-flüssig“ ist nicht zu bekommen, ohne jenes andere einzuräumen. Bekommt man das hin und stellt den Zusammenhang her, erhebt sich eine Pastoralgemeinschaft aus der Asche, die von beiden Modi des Überflüssigen indiziert ist. Erst ihre kleinen, tastenden und meistens unspektakulären Handlungsschritte, die sich zugleich entschieden dem widersetzen, dass es kirchlich so weiter geht wie bisher, die sich in den Weg stellen, wo Verantwortliche glauben damit davon zu kommen, und die deshalb in Intention und Vollzug über sich gravierend hinausweisen, können zum Phönix werden. Das gelingt weder der erschütternden Religionsgemeinschaft noch der erschütterten Glaubensgemeinschaft.

Die katholische Kirche steht am Scheideweg

Was tut man sich kirchlich an, wenn man das einräumt? Es bedeutet ohne Zweifel, die katholische Kirche als Glaubensburg zu relativieren, sie als Religionsidee zu entmythologisieren und sie als pastorale Dienstnehmerin für zwei Größen zu präparieren, die größer sind als sie – die Menschheit und Gott. Das wird allen in ihr zugemutet und verlangt schmerzhafte Demut. Aber dann stellt sich pastoralgemeinschaftlich eine Ermutigung ein, aus dem selbst gebauten Abgrund doch irgendwie mühsam herauszuklettern. Dabei werden manche Routen, die sich zunächst scheinbar anbieten, schließlich doch nicht machbar sein. Wir haben das gerade erlebt.

Es ist theologisch keine so überraschende Einsicht, überflüssig zu sein aufgrund der eigenen Abgründe und über-flüssig zu werden für eine Lebenslinie, die mühselig durch kirchliche Taktiken hindurch über sie hinaus fließt. Auch die moderne Welt ist schließlich flüssig geworden; sie hat keine klaren Abgrenzungen mehr zu Verfügung, die sich auf einfache Entweder-Oder-Binaritäten festnageln lassen. Die Grauzonen weiten sich aus und lassen ihre Immanenz in multiple Krisen geraten, die manche überfordern. Die Kirchenkrise hilft dem aber nicht ab, so als wäre geteiltes Leid halbes Leid. Allerdings hat sich die moderne Zivilisation dem längst gestellt. In der Krise der Immanenz helfen keine Transzendenzversprechen einer katholischen Religionsgemeinschaft, die unglaubwürdig geworden sind, weil sie den Missbrauch mit Gegenwelten begünstigten. Anders zu glauben ist vielmehr nötig.

Das letzte Konzil hat den Glauben an das Über-flüssige bereits formuliert. Es hat wertgeschätzt, was anders als die Kirche ist, und sie selbst verflüssigt. Das Licht der Völker ist Christus und nicht die Kirche, so lehrt es „Lumen Gentium“ 1. Die katholische Kirche ist lediglich ein Antlitz für dieses Licht, aber wenn dort das Licht so verdunkelt und maskiert wird wie im Missbrauch und seinen Vertuschungen, dann wird sich dieses Licht andere Wege suchen. Die katholische Kirche ist kein Präsens Gottes, so sehr sie auch eine Gottesrepräsentanz beanspruchen kann wie die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche im Glaubensbekenntnis. Aber gerade das ist keine Bestandsgarantie für alleinige Repräsentanz, sondern Auftrag zu integralem Präsens. Wenn sie Gottes Mitfließen im Lebensfluss von Menschen und der Menschheit nur im Wege steht und ihm das Wasser abgräbt, ist sie eben überflüssig und zum Über-Fließen unfähig.

An diesem Scheideweg steht die katholische Kirche jetzt. Anerkennt sie, dass sie über-flüssig sein soll und ihre Nicht-Überflüssigkeit nicht länger zelebriert, dann bekommt sie eine Chance auf die beschriebene Pastoralgemeinschaft. Dann kann sie die Größen bedienen, die sie übersteigen und auf die es ankommt. Nur wer sich für verzichtbar hält, kann dem Evangelium Raum geben. Aber wie zum Trotz der konziliaren Zeitenwende vor Jahrzehnten haben buchstäblich alle katholischen Kirchenleitungen seither keine adäquate Form für diese Verflüssigung entwickelt. Entweder waren sie zu wenig innovativ dafür wie Paul VI. und Benedikt XVI. oder sie haben auf die falschen innerkirchlichen Linien gesetzt wie Johannes Paul II. und Franziskus bisher. Ihr Felsentum war davon überfordert. Aber kein Papsttum, das sich nicht selbst zu relativieren in der Lage ist, wird eine über-flüssige Kirchenform finden und gestalten können. Johannes XXIII. ist es gelungen, aber er ist die große Ausnahme.

Es gibt dafür auch eine alte biblische Bauanleitung. Für flüssige Formen genügen keine alten Schläuche. Man kann auch keine Schläuche gebrauchen, die vielleicht noch unbenutzt, aber längst verhärtet und verstaubt herumliegen. Man benötigt neue Schläuche. Aber die zu produzieren, hatte die katholische Kirche bisher nicht den Mut. Wer jedoch Angst davor hat, über-flüssig zu werden, kann nur mit einer Kirche etwas anfangen, die hinter festen Grenzen und trüben Aussichten ein kümmerliches Dasein fristet, um wenigstens in sich verkrümmt bloß nicht überflüssig zu erscheinen. Wer dagegen keine Angst davor hat, die eigene Botschaft flüssig zu halten, wird sich den offenen Räumen aussetzen, in denen immer die Gefahr besteht, dass manche Anliegen versickern, aber in denen erst eine hinreichend fließende Präsensform des Evangeliums zu finden ist. Es ist Zeit für diese Selbstrelativierung. Mit weniger als das wird es dem katholischen religiösen Ressourcenangebot ergehen wie dem russischen Gas.

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