Eine islamische Perspektive auf JesusEinfach menschlich

Im Islam kommt Jesus eine herausgehobene Stellung als Prophet zu. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in islamischer und christlicher Theologie grundlegende theologische Differenzen im Verständnis seiner Gestalt gibt.

Ein Mensch springt in die Luft
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Jesus, der Sohn Marias, einer der größten Propheten des Islam, fasziniert Musliminnen und Muslime seit Jahrhunderten. Seine Gottergebenheit, sein hingebungsvoller Gottesdienst, asketischer Lebensstil und die barmherzige Beziehung, die er zu seiner Mutter pflegte, machen Jesus zu einem der beliebtesten Beispiele in islamischer Literatur, Spiritualität und Mystik. Im Koran werden seine Geburt, sein Prophetentum und seine Wunder oft erwähnt. Ihm werden Titel verliehen wie Jesus, der Sohn Marias, Messias, ein Wort von Gott und ein Geist von ihm. Er wird außerdem als Diener Gottes beschrieben, als Prophet, Bote, Wunderwirker, sowie dass er selbst ein Zeichen oder Wunder war, und ein „Vorzeichen“ oder „Wissen“ vom Ende der Zeit.

Der Hadith, die zweite Schriftquelle im Islam, enthält ebenfalls zahlreiche Verweise auf Jesus und seine Rolle als Prophet. Im Hadith lassen sich zwei Hauptthemen ausmachen, eines in Bezug auf Jesu irdisches Leben und ein anderes auf den Christus der letzten Tage. Einerseits werden sein hingebungsvoller Gottesdienst, seine Spiritualität und sein asketischer Lebensstil betont, andererseits werden sein Herabsteigen vom Himmel und seine Rolle am Ende der Zeiten im Detail ausgeführt. Von diesen Schriften inspiriert, haben muslimische Theologen und Mystiker über Jahrhunderte ihren Blick auf Jesu Leben und Sendung ausgeprägt und zum Ausdruck gebracht. Die Beziehung zwischen Mohammed und Jesus wird als etwas Besonderes betrachtet, wie es der Prophet Mohammed selbst beschreibt: „Sowohl im Diesseits als auch im Jenseits bin ich von allen Jesus, dem Sohn Marias, am nächsten. Die Propheten sind Brüder in väterlicher Linie; ihre Mütter sind verschieden, aber ihre Religion ist eine“ (Bukhārī, Sahīh). In einer anderen Erzählung führt Mohammed weiter aus: „Zwischen mir und ihm (Jesus) gibt es keinen anderen Propheten“ (Bukhārī, Sahīh). Diese Aussage des Propheten unterstreicht einerseits die Bedeutung Jesu für den islamischen Glauben und die islamische Tradition und andererseits den universalen und inklusiven Charakter koranischer Prophetologie. Der Koran nennt etwa 25 prophetische Figuren namentlich und erzählt ihre Geschichten als Teil einer langen Heilsgeschichte der Menschheit. Einer der koranischen Verse besagt, dass es „keine Gemeinschaft gibt, in der nicht ein Warner auftrat“ (Koran 35:24). Mit anderen Worten: Jede menschliche Gemeinschaft hat zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte göttliche Rechtleitung erfahren.

Manche der Propheten werden im Koran explizit genannt. Darüber hinaus gibt es etliche, deren Geschichte nicht erzählt wird, wenngleich ihre Existenz prinzipiell anerkannt wird. Das Prophetentum beginnt mit Adam, dem Vater der Menschheit, und erreicht seinen Abschluss und seine Erfüllung in Mohammed, khātam al-nabiyyīn, dem „Siegel der Propheten“ (Koran 33:40). Die Schrift drängt ihre Lesenden: „Sprecht: ‚Wir glauben an Gott und was auf uns herabgesandt ward, und was auf Abraham und Ismael, auf Isaak und Jakob und auf die Stämme herabgesandt ward. Und an das, was Mose und was Jesus überbracht ward und was überbracht ward den Propheten von ihrem Herrn. Wir machen zwischen keinem von ihnen einen Unterschied. Wir sind ihm ergeben!‘“ (Koran 2:136; vgl. 3:85). Theologisch wird dieser Vers oft so interpretiert, dass er die Kontinuität und Universalität der Religion zeigt, nämlich den wahren Monotheismus, wie ihn alle Propheten lehrten, die von Gott, dem Schöpfer des Universums, ernannt wurden. Daher auch die bereits erwähnte Aussage des Propheten Mohammed, dass „die Propheten Brüder in väterlicher Linie sind; ihre Mütter sind verschieden, aber ihre Religion ist eine“.

Die Religion ist eine, insofern sie einen gemeinsamen Ursprung hat, von Gott offenbart und inspiriert wird. Die verschiedenen Mütter hingegen implizieren, dass es unterschiedliche sharī‘as oder Religionsgesetze gibt, mit denen die Propheten betraut wurden. Sie mögen zwar auf verschiedene Weisen Gott gedient haben, auch ihre Speisegebote und Gesetze zur Regelung gesellschaftlicher Interaktion mögen sich erheblich voneinander unterschieden haben, doch im Glaubensbekenntnis war die Botschaft, die sie übermittelten, ein- und dieselbe: der Glaube an Gott, den Allmächtigen, den immerwährenden Schöpfer und Erhalter des Universums, in Verbindung mit dem Gebot, das Mohammed so zusammenfasst: „Seid barmherzig mit denen, die auf der Erde sind, und der Eine, der im Himmel ist, wird euch barmherzig sein“ (Tirmidhī, Sunan). Diese Nähe zwischen Jesus und Mohammed könnte auf ein Doppeltes anspielen: Es gibt nicht nur eine zeitliche Nähe zwischen Jesus, auf den Mohammed in der Heilsgeschichte der Menschheit folgt, sondern auch bei seinem zweiten Kommen im Eschaton – ein Thema, das im Hadith stark betont wird – wird auf Jesus Mohammed folgen. Diese Nähe zwischen den beiden Propheten bezieht sich einerseits auf die Vergangenheit, die bereits geschehen ist, sie ist aber zugleich wichtig für eine noch ausstehende Zukunft. Auch sagt der Koran über Jesus aus, dass er „nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und Geist von ihm“ ist (Koran 4:171). Die Ehrentitel „Wort Gottes“ und „Geist Gottes“ sind dabei auf keine Weise mit denen in christlicher Theologie vergleichbar. Jesus ist zwar Gottes „Wort“, aber sicherlich nicht im Sinn eines präexistenten Logos. Muslimische Exegeten beziehen diesen Titel ausschließlich auf Jesu wundersame Empfängnis. Mit anderen Worten verweist er darauf, dass Jesus durch den göttlichen Befehl „Sei!“ (kun) erschaffen wurde. Nach koranischer Kosmologie erfolgt nicht nur die Erschaffung Jesu, sondern auch die Erschaffung der ganzen Welt durch ebendiesen göttlichen Befehl. „Wenn er eine Sache will, lautet sein Befehl doch nur, dass er zu ihr sagt: ‚Sei!‘ Und dann ist sie“ (Koran 36:82). Diesem Muster folgt Gottes schöpferische Kraft und Aktivität generell. Dennoch wurde der Ehrentitel „Wort Gottes“ nach muslimischer Tradition insbesondere Jesus gegeben, um ihn aufgrund seiner wundersamen Geburt ohne einen Vater zu ehren. Jesus wird also nicht mit dem Wort Gottes gleichgesetzt, sondern als Ergebnis von Gottes schöpferischer Kraft gesehen, die durch sein Wort in die Tat umgesetzt wird.

Aufgrund seiner wundersamen Geburt vergleicht der Koran die Erschaffung Jesu außerdem mit der Adams: „Siehe, vor Gott gleicht Jesus Adam. Aus Staub erschuf er ihn, dann sagte er zu ihm: ‚Sei!‘ Und dann war er.“ Von dieser koranischen Denkweise inspiriert, stellten muslimische Theologen weitere Parallelen zwischen Jesus und Eva heraus und entwickelten so das Konzept der vier Formen der Erschaffung von Menschen: Einerseits gibt es Adam, der weder aus einem Mann noch einer Frau erschaffen wurde; der Rest der Menschheit wurde durch männliche und weibliche Eltern erschaffen. Zwischen diesen beiden Formen gibt es zwei Ausnahmen: Eva, die nur aus einem Mann erschaffen wurde und Jesus, der nur aus einer Frau erschaffen wurde. Muslimische Gelehrte erwähnen oft dieses vierfache Paradigma, das impliziert, dass Jesus nicht für göttlich gehalten werden sollte, weil auch Adam und Eva nicht für göttlich gehalten werden. Insbesondere die Erschaffung Adams, der weder Mutter noch Vater hatte, wird als noch wundersamer als die Erschaffung Jesu betrachtet. Die islamische Theologie versteht Jesu wundersame Empfängnis ohne einen menschlichen Vater als eine göttliche Gunst, die ihm erwiesen wurde, und niemals als eine Anspielung auf irgendeine Form göttlicher Qualität. Dieser Unterschied zwischen Jesus und anderen Propheten ist kein Indiz seiner göttlichen Sohnschaft wie im christlichen Glauben. Es handelt sich vielmehr um eine Unterscheidung im Vorzug, da Gott in seiner Schöpfung begünstigt, wen er möchte.

Das vierfache Modell menschlicher Erschaffung, das Adam, Eva, Jesus und die restliche Menschheit umfasst, beinhaltet stets eine gewisse Form von geschöpflicher Tätigkeit, mal mehr, mal weniger sichtbar. Doch für Mystiker wie den andalusischen Sufi Ibn ‘Arabī aus dem 13. Jahrhundert und seinen damaszenischen Interpreten ‘Abd al-Ghanī al-Nābulusī aus dem 18. Jahrhundert, die in allem, was sie beobachten, nur Gott sehen, spielen geschöpfliche Handlungen trotz unserer oberflächlichen Wahrnehmungen keine wirkliche Rolle. Es ist allein Gott, der die wahre Macht hat, zu handeln. Nach NābulusīsKosmologie besteht im Blick auf göttliche Handlungen also kein Unterschied zwischen der Erschaffung Jesu und der der restlichen Menschheit. Wer Gott wahrhaft kennt, sieht keinen Unterschied zwischen Jesu Erschaffung und der Erschaffung eines jeden anderen Menschen. Denn wer Gott wahrhaft kennt, erblickt allein Gottes Hand in allem, das im Universum geschieht, statt dinglichen Gründen oder sichtbaren oder unsichtbaren Wirkungen irgendwelche Macht zuzuschreiben. Aufgrund dieser unterschiedlichen Haltungen zu Jesus, seiner Natur und seiner Rolle bei der Rettung der Menschheit diskutieren Muslime und Christen seit ihren ersten Begegnungen intensiv über die christlichen Lehren der Trinität, der Inkarnation und Göttlichkeit Jesu. Der Koran verneint Jesu Göttlichkeit kategorisch. Er war demnach weder Gott noch der Sohn Gottes (vgl. Koran 5:17, 72, 116; 9:30). Indem sie dem koranischen Prinzip der absoluten Transzendenz Gottes folgt, weist islamische Theologie nachdrücklich die Inkarnation zurück. Es ist weder möglich, dass ein Mensch ein Gott wird, noch, dass Gott Mensch wird; dies ist das Hauptprinzip, das der muslimischen Kritik der Inkarnationen zugrunde liegt.

Ein vielschichtiges Panorama

Im Laufe der Geschichte hat Jesus in theologischen und spirituellen Diskursen des Islam ein Panorama reichlich unterschiedlicher Bedeutungen und Vorstellungen hervorgerufen. Viele Schriften haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, muslimische Wahrnehmungen Jesu zu gestalten und zu prägen. Nicht nur dogmatische Literatur, sondern auch und insbesondere fromme und mystische Texte haben zu einer Entwicklung dessen beigetragen, wie Muslime Jesus verstehen, nämlich als spirituellen Führer und als Vorbild, dem man folgen soll. Er dient als Vorbild für eine ernste Frömmigkeit und den Verzicht auf weltliche Genüsse (zuhd). Während jeder Prophet für einen relativ eng umrissenen Charakter steht – Hiob für göttlichen Trost nach Mühen, Noah für Dankbarkeit, Adam für Reue – wird Jesus als der Schutzheilige muslimischer Askese gesehen. Wie man in asketischen Sprichwörtern und Geschichten, die der Historiker Tarif Khalidi auf Englisch zusammengestellt hat, beobachten kann, steht Jesus für vier Kardinaltugenden: Armut, Demut, Stille und Geduld (The Muslim Jesus, Cambridge 2003). Der Islam versteht sich selbst historisch gesehen als göttliche, reparative Antwort auf die Spaltungen, in die das Christentum zum Zeitpunkt des siebten Jahrhunderts verfallen war. Er glaubt, dass er entscheidende Lösungen für die Kernfragen des Glaubensstreits bietet – für die zwei Naturen Christi, die Trinität, die stellvertretende Sühne und das Priestertum. In den umsichtigen koranischen Stellen, die diese Fragen zu lösen versuchen, und die Muslime als Ausdruck einer überwältigenden göttlichen Liebe verstehen, lassen sich Charakteristika muslimischer Konzepte von Göttlichkeit erkennen: Gott ist einer, aber auch allbarmherzig und allliebend. Daher ist verständlich, dass Musliminnen und Muslime schon immer eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus empfunden haben – einem Jesus, der auf unkomplizierte Weise menschlich ist und in dessen Innenleben und Mühen wir uns hineinversetzen können.

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