Die durch das Zweite Vatikanische
Konzil in der Liturgiekonstitution
Sacrosanctum Concilium (SC) skizzierte und mit der Herausgabe der Liturgia
Horarum (LH) 1970/71 und anschließend
des deutschen Stundenbuchs (StB) umgesetzte Reform der Tagzeitenliturgie war ähnlich tiefgreifend wie die Reform der Eucharistiefeier. Fünfzig Jahre nach Inkrafttreten
der LH bietet sich die Gelegenheit für eine
kritisch-würdigende Bestandsaufnahme.
Die Theologie der Tagzeiten
Das Konzil traf gewichtige theologische
Aussagen über die Tagzeitenliturgie und
entwarf ein Idealbild einer tagzeitenfeiernden Kirche: Die Tagzeitenliturgie ist
„Heiligung des Tages“ (SC 88). Sie markiert
den Lauf der Zeit, besonders die Übergänge
vom Licht in die Dunkelheit und von der
Dunkelheit ins Licht. Sie gibt dem Tageslauf
einen religiösen Kontext, konkret: biblische
Bezüge – durch Hymnen, Psalmen, Lesungen und Gebete. Die Tagzeitenliturgie bildet
eine von der Kirche kollektiv eingeübte und
auf die individuelle Spiritualität rückwirkende Beziehung zwischen Zeiterfahrung
und Heilsgeschichte. Daher ist die Tagzeitenliturgie Sache der ganzen Kirche, nicht
nur der Kleriker (SC 83–87, 99–100). Die gemeinschaftliche Feier ist dem privaten Gebet vorzuziehen (SC 99) und die Liturgien
sind so anzusetzen, dass die Uhrzeit dem
Inhalt entspricht (SC 94). Alle Reformmaßnahmen, die das Konzil skizziert, stehen im
Dienst dieser Zielrichtung.
Dieser systematische Entwurf von
hoher praktischer Relevanz baut auf der
vorausgehenden liturgiehistorischen Forschung sowie den Erfahrungen der Liturgischen Bewegung auf. Die Konzilsaussagen
bleiben auch für zukünftige Entwicklungen
der römisch-katholischen Tagzeiten von Bedeutung. Im Kontext aktueller ökologischer
Bedrohungen bieten die Tagzeiten zudem
eine Basis für eine schöpfungssensible
christliche Spiritualität: Die feiernde Kirche gliedert sich ein in die Rhythmen
der Natur, die von Gott gegeben und in die
Offenbarungsgeschichte einbezogen sind.
Was leisten Liturgia Horarum
und Stundenbuch?
LH und StB konkretisieren die Konzilsvorgaben, beispielsweise die Umwandlung der
Matutin in eine tageszeitenunabhängige „Lesehore“ (SC 89c), die Zusammenführung von
Terz, Sext und Non zu einer „kleinen Hore“
(SC 89e) und die Neuordnung der Lesungen
(SC 92). Analog zur Eucharistiefeier treten
landessprachige Ausgaben neben die lateinischsprachige, wobei das StB ganz im Sinne von SC 37–40 nicht bloß eine Übersetzung
der LH ist, sondern auch deutschsprachige
Eigenheiten berücksichtigt, etwa deutsche
Hymnendichtung. Gravierend ist die Neuverteilung des Psalters auf einen vierwöchigen statt eines einwöchigen Rhythmus
(SC 91) und die damit einhergehende Verkürzung der einzelnen Tagzeiten, die nun
besser in den Alltag von Priestern, Laien und
betenden Gemeinschaften integriert werden
können. Die Tagzeiten werden strukturell
vereinfacht und vereinheitlicht. Heutigen
Beterinnen und Betern, die diese Liturgie
erst für sich entdecken müssen, wird die
Orientierung erheblich erleichtert. Das Konzil unterscheidet zwischen verschiedenen
Charismen: Tagzeitenliturgie im Mönchtum
darf und soll anders strukturiert sein als in
den Pfarrgemeinden. Auch wenn dies in SC
nur vereinzelt angedeutet wird (SC 89, 98),
wird hier doch die Grundlage für eine erhebliche liturgische Variationsbreite innerhalb
des römischen Ritus gelegt.
LH und StB bilden den zweiten „großen Wurf“ einer Stundengebetsreform im
20. Jahrhundert. Während Papst Pius X.
1911 durch die Neuverteilung der Psalmen
die tägliche Textmenge radikal kürzte, im
Übrigen aber die Strukturelemente weitgehend unverändert ließ, ging die Konzilsreform weitere, theologisch gut begründete
Schritte. So wurde ein erneuertes Stundengebet vorgelegt, das übersichtlich gestaltet ist
und breite Gruppen in diesen bedeutenden
Selbstvollzug der Kirche integrieren sollte.
Der ausbleibende Erfolg
der Reform
Allzu optimistisch darf eine Bilanz nach
50 Jahren allerdings nicht ausfallen. Gewiss
gibt es Priester wie Laien, die das Stundengebet in seiner erneuerten Form mit hohem
spirituellem Gewinn kultivieren, aber zur
sichtbar prägenden Kraft im Leben der
Kirche ist die Tagzeitenliturgie nicht geworden. Nicht einmal die in SC 100 genannte
Mindestpraxis – die Sonntagsvesper – ist
Realität in katholischen Pfarrgemeinden.
Die Tagzeiten sind eine elitäre Liturgieform
geblieben, die von Klerikern, Ordensleuten
und allenfalls einigen wenigen Laien kultiviert wird. Entgegen dem Willen des Kon
zils ist sie aber kein selbstverständlicher
Bestandteil des liturgischen Lebens.
War die Reform strukturell defizitär?
Traf sie auf ungünstige Zeitumstände?
Wurde sie unzureichend umgesetzt? Trotz
seiner klaren Zielrichtung ist es dem Konzil
nicht gelungen, sich von kleinschrittigem,
ja kleinlichem rechtlichem Denken zu lösen (etwa in SC 95–97), das im Text von SC
unvermittelt neben großen theologischen
Aussagen steht. Die Reform wollte zwar
die ganze Kirche erreichen, hatte aber
dennoch vor allem die Erfahrungen und
Bedürfnisse des „Brevierbetens“ im Blick:
die kirchenrechtlich zum Stundengebet
verpflichteten Personen. Da die Reform
auf diese Gruppe zugeschnitten wurde, erscheinen LH und StB als liturgische Bücher,
die zwar ihre Vorgängerbücher strukturell
vereinfachen, aber immer noch dermaßen
kompliziert konstruiert sind, dass Frustration und Überforderung für Ungeübte vorprogrammiert sind. Die gedruckte
Buchform ist eigentlich nur Menschen mit
ausgeprägtem Faible für Rubrizistik zuzumuten, vom Kaufpreis der zahlreichen Bände von LH und StB ganz zu schweigen. (Erst
die in jüngster Zeit erschienenen digitalen
Editionen bringen hier Erleichterung.)
Ein weiterer – vielleicht der wichtigste – Aspekt zeigt, dass die Reform in erster
Linie den typischen Brevierbeter vor Augen
hatte: LH und StB sind als „Lesebücher“ erschienen, nicht als „Feierbücher der Gemeinde“. Es fehlen leicht zu erlernende und zugleich niveauvolle Vertonungen sämtlicher
Strukturelemente. Wer nach Vorlagen für
gemeinschaftlich musikalisch gestaltete Feiern sucht, wird in den offiziellen liturgischen
Büchern schlichtweg nicht fündig. Um es mit
einem Schlagwort der Nachkonzilszeit zu sagen, ist die Tagzeitenreform an diesem Punkt
leider „im Sprung gehemmt“ geblieben.
Die seit der Mitte des 1. Jahrtausends
nachweisbare westkirchliche Praxis der Verschränkung monastischer Elemente (konkret: die Betrachtung des gesamten Psalters
in einem bestimmten Zeitraum) und kathedraler Elemente (auf die Tageszeit bezogene
Psalmen, Lesungen, Gebete, möglichst verbunden mit sinnlichen Erfahrungen durch
rituelle Handlungen und Gesang) wurde beibehalten. Ist man mit diesem Hintergrund
nicht vertraut, erscheint aber die Abfolge der
Inhalte oft willkürlich und unplausibel. Die
katholische Kirche hätte hier intensiver in
die Schule der orthodoxen, orientalischen,
anglikanischen und altkatholischen Liturgien gehen können, die klarer zwischen
monastischen und kathedralen Elementen
unterscheiden und ihre Tagzeitenliturgien
daher oft übersichtlicher strukturieren.
Mittlerweile zeigt das „Gotteslob“ von
2013 mit seinen brillanten Vorlagen für
eine konsequent monastische, ritualisierte
Schriftbetrachtung unter dem Titel „Statio“ (GL 626) sowie eine konsequent katherale Vesper unter dem Titel „Abendlob“
(GL 659–661), was möglich ist – aber leider
nicht als Bestandteil von LH und StB.
All dies soll keinen Vorwurf an die Editoren von LH und StB darstellen. Schon
der Konzilstext zeigt, dass ein Ausgleich
zwischen verschiedenen Interessen und
Sorgen erreicht werden musste; nicht anders war es bei der Erarbeitung der LH. Die
Herausgeber konnten nicht wissen, welche
Rezeption die erneuerte Tagzeitenliturgie
erfahren würde, und sie bewegten sich mit
ihrer Arbeit genau entlang des Konzilsauftrags. Eine Evaluation im Jahr 2021 darf
aber die Schwächen nicht verschweigen.
Ein Resümee
Die Kirche der Gegenwart kann und soll
sich an der vom Konzil entworfenen Theologie der Tagzeiten orientieren. Die konkrete Umsetzung der Reform ist allerdings hinter dem angestrebten Ziel zurückgeblieben.
Dieser Befund sollte dazu ermutigen, innezuhalten und die Erfahrungen der letzten
Jahrzehnte zu reflektieren:
-
Welches Potenzial birgt die römisch-katholische Tagzeitengeschichte, an die das
Konzil anknüpfen wollte?
- Inwiefern können die Schätze anderer
Kirchen hilfreich sein – sei es als Hintergrundfolie zum besseren Verständnis des
spezifisch Römisch-Katholischen, sei es, um
gezielt Reichtümer von außen in die katholische Liturgie zu integrieren?
- Welche Erfahrungen machen die Ordensgemeinschaften seit dem Konzil? Welche Editionsmöglichkeiten gibt es heute für
gedruckte und digitale Medien?
-
Was schätzen jene Beterinnen und Beter
am gegenwärtigen Stundenbuch, die es fest
in ihre Spiritualität integriert haben?
Mit seinen Aussagen über die Tagzeitenliturgie verdient das Konzil heute mindestens so viel Gehör wie 1964. Man wird
Gemeinden aber nicht vorrangig durch
lehramtliche Aussagen gewinnen können,
sondern durch überzeugende Modellpublikationen, konkret erlebte Liturgien und
ausstrahlungskräftige Orte lebendiger Gemeinschaften. Kirchliche liturgische Bücher sollten dafür die besten Vorlagen bieten. Die Praxis zeigt aber, dass dies mit LH
und StB nicht gelungen ist und vermutlich
auch in Zukunft nicht gelingen kann. Wird
diese Erfahrung konstruktiv ausgewertet,
dann kann die katholische Kirche fünfzig
Jahre nach dem Erscheinen der LH ebenso
einen neuen Reformschritt wagen, wie das
Konzil dies sechzig Jahre nach Pius X. mutig
in Angriff genommen hat.