Ein großer Wurf – oder im Sprung gehemmt?

Vor einem halben Jahrhundert ist die Liturgia Horarum erschienen, auf der auch das deutschsprachige Stundenbuch fußt – Zeit für eine kritische Würdigung.

Ordensschwestern beten das Stundengebet
Aufgrund seiner Komplexität ist das kirchliche Stundengebet auch 50 Jahre nach seiner Reform eine Liturgie für „Profis“ geblieben.© 2018, KNA GmbH, www.kna.de, All Rights Reserved

Die durch das Zweite Vatikanische Konzil in der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium (SC) skizzierte und mit der Herausgabe der Liturgia Horarum (LH) 1970/71 und anschließend des deutschen Stundenbuchs (StB) umgesetzte Reform der Tagzeitenliturgie war ähnlich tiefgreifend wie die Reform der Eucharistiefeier. Fünfzig Jahre nach Inkrafttreten der LH bietet sich die Gelegenheit für eine kritisch-würdigende Bestandsaufnahme.

Die Theologie der Tagzeiten

Das Konzil traf gewichtige theologische Aussagen über die Tagzeitenliturgie und entwarf ein Idealbild einer tagzeitenfeiernden Kirche: Die Tagzeitenliturgie ist „Heiligung des Tages“ (SC 88). Sie markiert den Lauf der Zeit, besonders die Übergänge vom Licht in die Dunkelheit und von der Dunkelheit ins Licht. Sie gibt dem Tageslauf einen religiösen Kontext, konkret: biblische Bezüge – durch Hymnen, Psalmen, Lesungen und Gebete. Die Tagzeitenliturgie bildet eine von der Kirche kollektiv eingeübte und auf die individuelle Spiritualität rückwirkende Beziehung zwischen Zeiterfahrung und Heilsgeschichte. Daher ist die Tagzeitenliturgie Sache der ganzen Kirche, nicht nur der Kleriker (SC 83–87, 99–100). Die gemeinschaftliche Feier ist dem privaten Gebet vorzuziehen (SC 99) und die Liturgien sind so anzusetzen, dass die Uhrzeit dem Inhalt entspricht (SC 94). Alle Reformmaßnahmen, die das Konzil skizziert, stehen im Dienst dieser Zielrichtung.

Dieser systematische Entwurf von hoher praktischer Relevanz baut auf der vorausgehenden liturgiehistorischen Forschung sowie den Erfahrungen der Liturgischen Bewegung auf. Die Konzilsaussagen bleiben auch für zukünftige Entwicklungen der römisch-katholischen Tagzeiten von Bedeutung. Im Kontext aktueller ökologischer Bedrohungen bieten die Tagzeiten zudem eine Basis für eine schöpfungssensible christliche Spiritualität: Die feiernde Kirche gliedert sich ein in die Rhythmen der Natur, die von Gott gegeben und in die Offenbarungsgeschichte einbezogen sind.

Was leisten Liturgia Horarum und Stundenbuch?

LH und StB konkretisieren die Konzilsvorgaben, beispielsweise die Umwandlung der Matutin in eine tageszeitenunabhängige „Lesehore“ (SC 89c), die Zusammenführung von Terz, Sext und Non zu einer „kleinen Hore“ (SC 89e) und die Neuordnung der Lesungen (SC 92). Analog zur Eucharistiefeier treten landessprachige Ausgaben neben die lateinischsprachige, wobei das StB ganz im Sinne von SC 37–40 nicht bloß eine Übersetzung der LH ist, sondern auch deutschsprachige Eigenheiten berücksichtigt, etwa deutsche Hymnendichtung. Gravierend ist die Neuverteilung des Psalters auf einen vierwöchigen statt eines einwöchigen Rhythmus (SC 91) und die damit einhergehende Verkürzung der einzelnen Tagzeiten, die nun besser in den Alltag von Priestern, Laien und betenden Gemeinschaften integriert werden können. Die Tagzeiten werden strukturell vereinfacht und vereinheitlicht. Heutigen Beterinnen und Betern, die diese Liturgie erst für sich entdecken müssen, wird die Orientierung erheblich erleichtert. Das Konzil unterscheidet zwischen verschiedenen Charismen: Tagzeitenliturgie im Mönchtum darf und soll anders strukturiert sein als in den Pfarrgemeinden. Auch wenn dies in SC nur vereinzelt angedeutet wird (SC 89, 98), wird hier doch die Grundlage für eine erhebliche liturgische Variationsbreite innerhalb des römischen Ritus gelegt.

LH und StB bilden den zweiten „großen Wurf“ einer Stundengebetsreform im 20. Jahrhundert. Während Papst Pius X. 1911 durch die Neuverteilung der Psalmen die tägliche Textmenge radikal kürzte, im Übrigen aber die Strukturelemente weitgehend unverändert ließ, ging die Konzilsreform weitere, theologisch gut begründete Schritte. So wurde ein erneuertes Stundengebet vorgelegt, das übersichtlich gestaltet ist und breite Gruppen in diesen bedeutenden Selbstvollzug der Kirche integrieren sollte.

Der ausbleibende Erfolg der Reform

Allzu optimistisch darf eine Bilanz nach 50 Jahren allerdings nicht ausfallen. Gewiss gibt es Priester wie Laien, die das Stundengebet in seiner erneuerten Form mit hohem spirituellem Gewinn kultivieren, aber zur sichtbar prägenden Kraft im Leben der Kirche ist die Tagzeitenliturgie nicht geworden. Nicht einmal die in SC 100 genannte Mindestpraxis – die Sonntagsvesper – ist Realität in katholischen Pfarrgemeinden. Die Tagzeiten sind eine elitäre Liturgieform geblieben, die von Klerikern, Ordensleuten und allenfalls einigen wenigen Laien kultiviert wird. Entgegen dem Willen des Kon zils ist sie aber kein selbstverständlicher Bestandteil des liturgischen Lebens.

War die Reform strukturell defizitär? Traf sie auf ungünstige Zeitumstände? Wurde sie unzureichend umgesetzt? Trotz seiner klaren Zielrichtung ist es dem Konzil nicht gelungen, sich von kleinschrittigem, ja kleinlichem rechtlichem Denken zu lösen (etwa in SC 95–97), das im Text von SC unvermittelt neben großen theologischen Aussagen steht. Die Reform wollte zwar die ganze Kirche erreichen, hatte aber dennoch vor allem die Erfahrungen und Bedürfnisse des „Brevierbetens“ im Blick: die kirchenrechtlich zum Stundengebet verpflichteten Personen. Da die Reform auf diese Gruppe zugeschnitten wurde, erscheinen LH und StB als liturgische Bücher, die zwar ihre Vorgängerbücher strukturell vereinfachen, aber immer noch dermaßen kompliziert konstruiert sind, dass Frustration und Überforderung für Ungeübte vorprogrammiert sind. Die gedruckte Buchform ist eigentlich nur Menschen mit ausgeprägtem Faible für Rubrizistik zuzumuten, vom Kaufpreis der zahlreichen Bände von LH und StB ganz zu schweigen. (Erst die in jüngster Zeit erschienenen digitalen Editionen bringen hier Erleichterung.)

Ein weiterer – vielleicht der wichtigste – Aspekt zeigt, dass die Reform in erster Linie den typischen Brevierbeter vor Augen hatte: LH und StB sind als „Lesebücher“ erschienen, nicht als „Feierbücher der Gemeinde“. Es fehlen leicht zu erlernende und zugleich niveauvolle Vertonungen sämtlicher Strukturelemente. Wer nach Vorlagen für gemeinschaftlich musikalisch gestaltete Feiern sucht, wird in den offiziellen liturgischen Büchern schlichtweg nicht fündig. Um es mit einem Schlagwort der Nachkonzilszeit zu sagen, ist die Tagzeitenreform an diesem Punkt leider „im Sprung gehemmt“ geblieben.

Die seit der Mitte des 1. Jahrtausends nachweisbare westkirchliche Praxis der Verschränkung monastischer Elemente (konkret: die Betrachtung des gesamten Psalters in einem bestimmten Zeitraum) und kathedraler Elemente (auf die Tageszeit bezogene Psalmen, Lesungen, Gebete, möglichst verbunden mit sinnlichen Erfahrungen durch rituelle Handlungen und Gesang) wurde beibehalten. Ist man mit diesem Hintergrund nicht vertraut, erscheint aber die Abfolge der Inhalte oft willkürlich und unplausibel. Die katholische Kirche hätte hier intensiver in die Schule der orthodoxen, orientalischen, anglikanischen und altkatholischen Liturgien gehen können, die klarer zwischen monastischen und kathedralen Elementen unterscheiden und ihre Tagzeitenliturgien daher oft übersichtlicher strukturieren.

Mittlerweile zeigt das „Gotteslob“ von 2013 mit seinen brillanten Vorlagen für eine konsequent monastische, ritualisierte Schriftbetrachtung unter dem Titel „Statio“ (GL 626) sowie eine konsequent katherale Vesper unter dem Titel „Abendlob“ (GL 659–661), was möglich ist – aber leider nicht als Bestandteil von LH und StB.

All dies soll keinen Vorwurf an die Editoren von LH und StB darstellen. Schon der Konzilstext zeigt, dass ein Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen und Sorgen erreicht werden musste; nicht anders war es bei der Erarbeitung der LH. Die Herausgeber konnten nicht wissen, welche Rezeption die erneuerte Tagzeitenliturgie erfahren würde, und sie bewegten sich mit ihrer Arbeit genau entlang des Konzilsauftrags. Eine Evaluation im Jahr 2021 darf aber die Schwächen nicht verschweigen.

Ein Resümee

Die Kirche der Gegenwart kann und soll sich an der vom Konzil entworfenen Theologie der Tagzeiten orientieren. Die konkrete Umsetzung der Reform ist allerdings hinter dem angestrebten Ziel zurückgeblieben. Dieser Befund sollte dazu ermutigen, innezuhalten und die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zu reflektieren:

  • Welches Potenzial birgt die römisch-katholische Tagzeitengeschichte, an die das Konzil anknüpfen wollte?
  • Inwiefern können die Schätze anderer Kirchen hilfreich sein – sei es als Hintergrundfolie zum besseren Verständnis des spezifisch Römisch-Katholischen, sei es, um gezielt Reichtümer von außen in die katholische Liturgie zu integrieren?
  • Welche Erfahrungen machen die Ordensgemeinschaften seit dem Konzil? Welche Editionsmöglichkeiten gibt es heute für gedruckte und digitale Medien?
  • Was schätzen jene Beterinnen und Beter am gegenwärtigen Stundenbuch, die es fest in ihre Spiritualität integriert haben?

Mit seinen Aussagen über die Tagzeitenliturgie verdient das Konzil heute mindestens so viel Gehör wie 1964. Man wird Gemeinden aber nicht vorrangig durch lehramtliche Aussagen gewinnen können, sondern durch überzeugende Modellpublikationen, konkret erlebte Liturgien und ausstrahlungskräftige Orte lebendiger Gemeinschaften. Kirchliche liturgische Bücher sollten dafür die besten Vorlagen bieten. Die Praxis zeigt aber, dass dies mit LH und StB nicht gelungen ist und vermutlich auch in Zukunft nicht gelingen kann. Wird diese Erfahrung konstruktiv ausgewertet, dann kann die katholische Kirche fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der LH ebenso einen neuen Reformschritt wagen, wie das Konzil dies sechzig Jahre nach Pius X. mutig in Angriff genommen hat.

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