"Das Widerwärtigste unter der Sonne"?Goethe und das Kreuz

Der Toleranzradius des Weimarer Geheimrats ist weit, aber nicht grenzenlos. In seinen "Venezianischen Epigrammen" hat Goethe seiner Aversion gegen das christliche Symbol des Kreuzes freien Lauf gelassen.

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in the Roman Campagna
© gemeinfrei | Bild: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in the Roman Campagna

I. Die meisten Dichter und Denker der deutschen Aufklärung tun sich schwer mit dem Kreuz. Das Licht der Vernunft, die Verbesserung des Menschen durch Erziehung und Moral, das sittliche Streben nach Humanität kommen ohne memoria passionis aus. Schon die Rede von Sünde und Schuld scheint ein Fremdkörper, der stört. Auch das Kreuz als Stätte unmenschlicher Qualen bleibt im Diskurs der Aufklärung weithin unbeachtet. In Wolfenbüttel, in Weimar, in Königsberg denkt man über vieles, nur nicht über die Bedeutung von Golgatha nach. Lessing, Schiller und Goethe, auch Kant schweigen über das Kreuz – Ausnahmen zugestanden. Das wird sich erst in Jena ändern, wo der Karfreitag von Hegel spekulativ eingeholt und die Entäußerung des absoluten Geistes in die unterschiedlichen Gestalten der Geschichte zum Motor des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit wird.

Vor diesem Hintergrund schreibt mir ein aufmerksamer Leser, eine Leerstelle in CRUX, meinem Versuch über die Anstößigkeit des Kreuzes, sei das Fehlen von Goethes Einspruch gegen das christliche Symbol. Er hat recht. Doch welche Stelle bei Goethe hat er im Blick? Die aus dem Fragment gebliebenen Versepos Der ewige Jude (1774)? Hier muss der vom Himmel auf die Erde zurückgekommene Christus feststellen, dass die Kirche seine Botschaft weithin vergessen hat:

Er war nunmehr der Länder satt,

wo man so viele Kreuze hat

und man für lauter Kreuz und Christ

Ihn eben und sein Kreuz vergißt.

Während der "ewige Jude" den Verfall der Kirche mit Genugtuung betrachtet, beklagt der Parusie-Christus die Abwendung der Menschen von seiner Botschaft:

Wo haben sich die Zeugen hingewandt,

Die weiß aus meinem Blut entsprungen,

Und, ach, wohin der Geist, den ich gesandt –

Sein Wehn, ich fühls, ist all verklungen.

Die vielfältige Präsenz von Kreuzen an Wegen und Wänden kann in der Tat zu einer Kreuzesvergessenheit führen, zu einer allgemeinen Abstumpfung der Sinne, die den Skandal der Hinrichtung am Marterbalken gar nicht mehr registriert. Was man überall sieht, übersieht man – es gibt nichts mehr zu denken …

II.

Wahrscheinlicher aber ist, dass sich der aufmerksame Leser auf eine berüchtigte Stelle in den Venezianischen Epigrammen bezieht, in denen Goethe nach Art des Martial im Frühjahr 1790 seinem Spott über das Christentum freien Lauf lässt und unter der Ziffer 66 unverblümt notiert, wie unerträglich ihm das Kreuz ist:

Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge

Duld‘ ich mit ruhigem Muth, wie es ein Gott mir gebeut.

Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider;

Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †.

Der Toleranzradius des Weimarer Geheimrats ist weit, aber nicht grenzenlos. Das Kreuz ist ihm zuwider. Goethe, der sonst Wert auf eine wohltemperierte Ausdrucksweise legt, stellt hier das christliche Symbol der Erlösung mit schädlichem Ungeziefer, das man doch zertreten muss, und üblen Gerüchen, denen man aus dem Weg geht, auf eine Stufe. Das ist keineswegs nur fehlende Toleranz, sondern ausgemachte hate-speech im Geiste von Voltaires Écrasez l'infame. In der Spur dieser unverhohlenen Aversionsbekundung steht noch eine abschätzige Bemerkung des alten Goethe. In einem Brief an seinen Komponisten-Freund Karl Friedrich Zelter vom 8. Juni 1831, in dem es um die Gestaltung eines Wappens geht, schreibt er: "Ein leichtes Ehrenkreuzlein ist immer etwas Lustiges im Leben; das leidige Marterholz, das Widerwärtigste unter der Sonne, sollte kein vernünftiger Mensch auszugraben und aufzupflanzen bemüht seyn."

Man sollte diese Stelle allerdings nicht zitieren, ohne mitzulesen, dass Goethe sich nur wenige Zeilen später selbst ins Wort fällt: "Da ich das wieder überlese, möcht ich es zurückhalten, wie mir jetzt sehr oft geschieht; da man nicht einmal sagen mag, wie man denkt, wie fällt's einem ein, so zu schreiben." Allerdings hat sich Goethe schon im West-Östlichen Diwan von 1819 nicht eben freundlich geäußert, als habe er die Lehre des Koran beherzigt, dass ein Gesandter Allahs nicht scheitern dürfe und daher ein anderer an Jesu Stelle am Kreuz gestorben sei: "Mir willst du zum Gotte machen / solch ein Jammerbild am Holze!"

III.

Aber Goethe wäre nicht Goethe, wenn er sich eindeutig auf eine schroffe Absage an das Symbol des Kreuzes festlegen ließe. Er selbst hat von sich wiederholt als einem "Chamäleon" gesprochen, das bekanntlich in unterschiedlichen Umgebungen unterschiedliche Färbungen annehmen kann. Schon Schiller hat über seinen Freund geklagt, dass er sich nicht fassen lasse. So konnte Goethe in seinem Werken dem Kreuz auch auf ganz andere Weise Raum geben, etwa in den "Bekenntnissen einer schönen Seele" in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Hier haben die Gespräche mit der frommen Stiftsdame Susanne von Klettenberg ihren Niederschlag gefunden, die sich aufopferungsvoll um Goethe kümmerte, als dieser während seines Jura-Studiums erkrankte. Hier heißt es: "Ja, wer nur schildern könnte, was ich da fühlte! Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen, demjenigen völlig gleich, wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir vermuten. So nahte meine Seele dem Menschgewordnen und am Kreuz Gestorbenen, und in dem Augenblicke wußte ich, was Glauben war" (Sechstes Buch). Allerdings ist es eine fiktive Figur, die hier spricht, nicht der Dichter selbst.

IV.

Das gilt auch für eine Passage aus den Wanderjahren, in der ein alter Sammler von der Zusammenfügung eines zerstückelten Kreuzes berichtet: "Von diesem elfenbeinernen Kruzifix besaß ich seit dreißig Jahren den Körper mit Haupt und Füßen aus einem Stücke, der Gegenstand sowohl als die herrlichste Kunst ward sorgfältig in dem kostbarsten Lädchen aufbewahrt; vor ungefähr zehn Jahren erhielt ich das dazugehörige Kreuz mit der Inschrift, und ich ließ mich verführen, durch den geschicktesten Bildschnitzer unserer Zeit die Arme ansetzen zu lassen; aber wie weit war der Gute hinter seinem Vorgänger zurückgeblichen; doch es mochte stehen, mehr zu erbaulichen Betrachtungen als zur Bewunderung des Kunstfleißes. Nun denken Sie mein Ergötzen! Vor kurzem erhalt ich die ersten, echten Arme, wie Sie solche zur lieblichsten Harmonie hier angefügt sehen, und ich, entzückt über ein solch glückliches Zusammentreffen, enthalte mich nicht, die Schicksale der christlichen Religion hieran zu erkennen, die, oft genug zergliedert und zerstreut, sich doch endlich immer wieder am Kreuz zusammenfinden muß" (Erstes Buch, Zwölftes Kapitel).

Diese geradezu ökumenische Empfehlung einer Wiederzusammenfindung der zerstreuten Glieder im Zeichen des Kreuzes wird man Goethe selbst kaum zuschreiben können. Allerdings hat er einen Sinn für die Dramatik des Kreuzesgeschehens gehabt. Als Eckermann in einem Gespräch am 12. März 1828 bemerkte: "Es täte not, dass ein zweiter Erlöser käme, um den Ernst, das Unbehagen und den ungeheuren Druck der jetzigen Zustände uns abzunehmen", antwortete Goethe: "Käme er, man würde ihn zum zweiten Male kreuzigen."

Bild einer von der Hitlerjugend im Oktober 1938 zerstochenen Kreuzesdarstellung im Wiener Erzbischöflichen Palais

Bild einer von der Hitlerjugend im Oktober 1938 zerstochenen Kreuzesdarstellung im Wiener Erzbischöflichen Palais

V.

Weiter bestätigen einige Verse aus dem Fragment gebliebenen Gedicht Die Geheimnisse von 1825, dass Goethe auch eine freundlichere Haltung zum christlichen Symbol der Erlösung einnehmen konnte:

Das Zeichen sieht er kräftig aufgerichtet,

das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht,

Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet,

Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht,

Das die Gewalt des bittern Tod‘s vernichtet,

das in so mancher Siegesfahne weht.

Ein Labequell durchdringt die matten Glieder,

Er sieht das Kreuz, und schlägt die Augen nieder.


Er fühlet neu, was dort für Heil entsprungen,

Den Glauben fühlt er einer halben Welt;

Doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen

Wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt;

Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen …

Goethe hat die pietistisch gefärbte Erziehung seiner Kindheit früh abgestreift und ist zu einer spinozistisch getönten Weltfrömmigkeit übergegangen. Gott sei in der Natur – und die Natur sei in Gott, lautete sein Credo des Panentheismus. Gegenüber seinen Freunden Lavater und Jacobi, die ihm ein Bekenntnis zum Gott Jesu Christi entlocken wollten, ist er auf Distanz gegangen und hat für sich eine Perspektivenvielfalt im weiten Feld der Religion reklamiert. In einem Brief vom 6. Januar 1813 an Jacobi heißt es: "Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt." Diese Selbstbeschreibung, die sich einen Fächer unterschiedlicher religiöser Zugänge offenhalten möchte, steht in einiger Spannung zum Christentum, das das Bekenntnis zum einen Gott mit dem Glauben an die rettende und erlösende Kraft des Kreuzes verbindet.

Immerhin spricht Goethe in seinem Gedicht Die Geheimnisse dem christlichen Erlösungszeichen zu, dass es Trost und Hoffnung spenden könne, dass es für vieltausende Beter zur Zufluchtsstätte ihres Flehens geworden sei, ja dass das österliche Siegeszeichen sich auf Fahnen abgebildet finde – ein Zeichen, an dem der Tod, die bittere Gegenmacht des Lebens, getötet wurde. In morte Christi mors mortua est (Augustinus). Von Rosen steht es "dicht umschlungen" da – ein Bild, das an die Rosenkreuzer erinnern mag, aber auch sonst die Einbildungskraft des Menschen beschäftigen kann.

VI.

Eine denkwürdige Einfühlung in das Bild des Kreuzes ist in unseren Tagen bei dem Schriftsteller Botho Strauß zu finden, der – anders als Goethe – ein wohlwollendes Verhältnis zur christlichen Überlieferung unterhält. In einer flugs hingeworfenen, dem "Karfreitag" gewidmeten Aufzeichnung hat Strauß über "das Einbildende des Bildes" geschrieben: "Daß ein Bild über alle anderen stieg und jeder Leidende davor bescheiden wird, während er sich gleichzeitig in dieses Bild, das so über die Welt regiert, hineingenommen fühlt. Der Trost ist im Wesentlichen diese Einvernommensein. Von der weiteren Bedeutung, Erlösung von allen Sünden (die bekannte Rationalisierung, die der Glaube dem Bild nachreicht), erfährt der Ungetaufte an sich selber nichts. Das Einbildende des Bildes – compassion – überwiegt. So gibt es Bilder, die das Leiden fangen statt nur den Blick" (Nicht mehr. Mehr nicht, München 2021, 153).

VII.

Aus der Dichte dieser Aufzeichnung ließe sich der Anstoß mitnehmen, dass vor aller Denkbemühung, welche die rettende und erlösende Kraft des Kreuzes mit theologischen Begriffen verdeutlichen will, sich vor dem signum crucis ein spontanes Mitgefühl, ja eine tiefe Sympathie mit dem Gekreuzigten einstellen kann. Das Gefühl der Verbundenheit, ja des Hineingenommenseins in das Bild setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich hineinnehmen zu lassen. Die Erinnerung an das Kreuz aber soll den Zugang zur Welt weder blockieren noch eine pathologische Verklärung des Leidens begünstigen.

Als Inbild der compassio mit den Erniedrigten und Beleidigten kann die Betrachtung des Kreuzes das Verlangen freisetzen, Unrecht freimütig beim Namen zu nennen und Ausgrenzungen praktisch zu bekämpfen. Auch heute hat das Kreuz neben Trost eine subversive Bedeutung, wenn es die verdrängten, vergessenen Leiden ins Bild setzt – eine Zumutung für alle, die sich an die glitzernden Fassaden der Welt halten, ohne in die Abgründe dahinter blicken zu wollen.

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