Anthropozentrische EulenspiegeleienAdrian Leverkühn und der Blick ins Weltall als Säurebad der Erkenntnis

Dass wir nur Randphänomene eines gewaltigen kosmischen Systems sind, ist uns wohlbekannt. Praktisch aber stellt der Mensch sich gern in die Mitte jeglicher Wirklichkeit. Um die Sonne, welche er ist, hat alles sich zu drehen. Nicht ohne Grund amüsiert dies einen Beobachter aus der Roman-Werkstatt Thomas Manns.

Alles dreht sich um die Bewohner der Erde. Geozentrisches Weltbild des Ptolomäus nach dem Himmelsatlas Harmonica Macrocosmica von Andreas Cellarius (1660).
Alles dreht sich um die Bewohner der Erde. Geozentrisches Weltbild des Ptolomäus nach dem Himmelsatlas Harmonica Macrocosmica von Andreas Cellarius (1660). © Wikimedia Commons

I.

Immens viel verstehe ich von Astronomie nicht. Trotzdem fasziniert mich kaum etwas so sehr wie gerade dieses Fach mit seinen Einblicken in den "Ozean der Welten" ohne Ufer. Sternwarten und Planetarien üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus, und das Staunen angesichts der ungeheuren Räume, es wird nie geringer. Im Gegenteil.

II.

Das Nebeneinander von streng naturwissenschaftlichem Denken und Zusätzen anderer Art, die sich bis heute mit ihm verbinden, kommt hinzu. Wachträumende Aufschwünge vielleicht – "Entwirklichung, Illusion, Zauber" (Hans-Georg Gadamer variierend) –, eine gleichsam "ästhetische", damit jedoch gewiss "Erkenntnisweise eigener Art". Die wundersam schöne Vorstellung vom Sternenstaub, der wir sein könnten. Oder spurenhafte Zusammenhänge zwischen dem Universum und uns, von Makro- und Mikrokosmos, bis in extremste Größenordnungen hinein, die sich physikalisch noch erfassen lassen: dem Ausgang des Lichts der Quasare aus 1026 m Entfernung hier, dort endend bei 10-4 m, mit dem Durchmesser eines Haars. Erwiesen unsinnig ist das keineswegs. Ebenso wenig die metaphysische Spielart von Science Fiction, Intelligenzen extraterrestrischer Art.

III.

Klassiker der grundlegenden Wende unseres Weltbilds haben es mir besonders angetan. Manches dachten sie zusammen, was danach auseinander driftete. Kaum ein Buch begeistert mich mehr als Johannes Kepler über die Sphärenharmonie. Auch in einem Roman mit dem vielsagenden Titel Tycho Brahes [seines älteren Kollegen] Weg zu Gott kommt er vor, von Max Brod dem Freund Franz Kafka gewidmet. Galilei sodann, die Bewegung der Himmelskörper so exakt wie gläubig betrachtend. Oder Isaac Newton. Ohne "den Theologen", der er zugleich war (Carl Friedrich von Weizsäcker hat dahinter ein Ausrufezeichen gesetzt), sei er "nicht zu verstehen".

Ihr gemeinsamer Ahnherr schließlich, Nikolaus Kopernikus, von dem die Erde aus ihrer lange behaupteten Stellung im Zentrum des Alls abseitiger lokalisiert worden war. Einen "wunderschönen Tempel" nannte er das Universum, und die Astronomie "mehr göttliche als menschliche Wissenschaft". An ihrer läuternd-klärenden Kraft lag ihm viel. "Unseretwegen geschaffen" durchaus sei das kosmische Werk, mit dem Menschen als Sinn-Mitte. Was bedeutet, dass es uns mancherlei Anstöße vermitteln könne.

IV.

Ätzendes hierzu trägt Adrian Leverkühn bei. Astronom auch der? Nein, sondern (als ebenso genialer wie angefochtener "Tonsetzer" im Vorfeld und Vollzug der deutschen Katastrophe) eine Romanfigur bei Thomas Mann. (Am Rande bemerkt steuert das an runden Gedenkanlässen nicht arme Jahr 2025 recht bald auf diesen Großliteraten zu.) Doktor Faustus, Kapitel XXVII.

Serenus Zeitblom, Gymnasialprofessor katholischer Herkunft, rechtet hier prinzipiell mit einer Kosmologie, zu deren schwindelerregenden Dimensionen "der Menschengeist gar kein Verhältnis mehr" habe. Hoffnungslos ins Schleudern gerate er vor ihrer Unbewältigbarkeit durch und durch. Leverkühn hingegen findet es "amüsant zu sehen, wie sehr wohl aller Humanismus zum Mittelalterlich-Geozentrischen neigt, – mit Notwendigkeit offenbar" darauf beharrt, denn: "Das Mittelalter war geozentrisch und anthropozentrisch. Die Kirche, in der es überlebte, hat sich gegen die astronomischen Kenntnisse im humanistischen Geist zur Wehr gesetzt, hat sie verteufelt und verboten zu Ehren des Menschen", an dessen Status nicht gerüttelt werden solle, "hat auf Unwissenheit bestanden aus Humanität".

V.

"In dieser Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst" wäre "Gott" zugegen. Darauf läuft Zeitbloms "wohlwollende Weltanschauung" hinaus. Seinen Freund lässt dies kalt. "Vor allem einmal" sei "diese Krone des Lebens, mitsamt seiner Verpflichtung aufs Geistige, mutmaßlich" doch bloß "ein Stück" Weltraum-Abfall. "'Und blühend in Bösheit meistenteils', setzte er hinzu."

Fürwahr unterschiedliche Aspekte bietet das Gespräch der beiden, die mit Gewinn weiterzuverfolgen wären. Verweilen wir gleichwohl bei des Tonsetzers Spott über das Festhalten am "Geozentrischen".

VI.

Theoretisch wissen wir Bescheid: Nur um Bewohner des winzigen, höchst relativen und peripheren Teil eines riesigen Systems handelt es sich bei uns. In der Praxis jedoch verfahren wir ganz wie Till Eulenspiegel: Wo wir gerade sind, ist der Mittelpunkt sämtlicher Wirklichkeit. Und das hat auch so zu sein.

Im ranking des Realen geht dem Menschen nichts über ihn selbst. Das wichtigste Wesen tritt mit ihm auf den Plan. Um das Zentralgestirn, welches er ist, hat sich gefälligst alles zu drehen. Von der Würde des ebenbildlichen "Homo Dei", auf die Zeitblom pathetisch pocht, verläuft der Weg zur sich absolut setzenden Ermächtigung, dem Menschengott, Homo Deus. Ein Wichtigtuer von "bizarrem Eigendünkel" – so, um goldene Worte nie verlegen, Friedrich Nietzsche.

VII.

Anthropozentrik, das bedeutet Sich-überlegen-Wähnen. Den Anspruch auf Herrschaft impliziert sie. Schon innerhalb des eigenen Planeten liegt ihr die Gebärde der Abgrenzung, ja Degradierung zugrunde. Allem Nicht-Menschlichen kommt demnach nur instrumenteller Wert zu, insofern es für uns von Nutzen ist – wobei (nachgerade komisch) eine dialektische Pointe darin besteht, dass der Mittelpunkts-Phantast sich eben dadurch selbst in Gefahr bringt.

VIII.

Doch scheint bei alledem nicht ein genuines Erbe des Christentums durch? Aus Liebe zum Menschen wird Gott selbst Mensch. Um ihnen die angleichende Rückkehr zu ihrem Schöpfer zu ermöglichen, lässt er sich von Menschen foltern und töten. Wer steht da eigentlich im Mittelpunkt?

Ausgerechnet ein Papst aus Krakau (dem für Kopernikus' astronomische Studien initialen Ort), Johannes Paul II., der später überdies Galilei rehabilitierte (endlich, ach!), hat beiläufig Klärendes ausgeführt: "darin Christus folgend", schreibt er in seiner Enzyklika Über das göttliche Erbarmen vom 30. November 1980 trenne die Kirche "Anthropo-" nie von der "Theozentrik". Damit aber, so wäre zu ergänzen, öffnet sich die Perspektive auf eine größere, mächtigere und wichtigere Wirklichkeit.

Recht verstanden, sprengt die Menschwerdung Gottes mithin den Anthropozentrismus. Pierre Teilhard de Chardin, Jesuit und Paläontologe u.a. (seit kurzem wohl ebenfalls nahezu entächtet), dachte den Erlöser explizit kosmisch. Vom "'Hof' ins Unendliche, der sich "um die strahlende Sonne der Liebe" ausbreitet, "die gekommen ist, die Welt zu erleuchten", liest man in seiner Mystik des Universums: "und ist doch der Sitz des umhüllenden und einigenden Wirkens des inkarnierten Wortes." Ganz abgesehen davon meint jene biblisch verheißene Neuschöpfung von Himmel und Erde nach Jesaja 65, 17/Offenbarung 21,1 natürlich die gesamte "Welt", alle Welt – das Welt-All (von dem auch das Gloria der Messe kündet).

IX.

Serenus Zeitblom, der Humanist, irrt in seinem Urteil, dass "die Beschäftigung mit dem Maßlos-Außermenschlichen der Frömmigkeit keine Nahrung gebe". Doch, das vermag sie zu tun! Allein dadurch, dass sie womöglich Respekt befördert, Demut und Ehrfurcht gar – Eigenschaften, die, wie so manche Arten, eher auszusterben drohen –, wird sie "religiös produktiv". Selbst das Bewusstsein der Verlassenheit in einem uns scheinbar gleichgültig fremden, "fürchterlichen Uhrwerk" mag dahingehend auszuschlagen.

Dass der Mensch (selbst wenn ihm gewisse Einzigkeit zukäme) uni-versell gesehen eine höchst ex-zentrische Existenz führt, sollten wir ab und an vielleicht medi-tierender Analyse unterziehen. Als Realität, die mit Fragen einhergeht, die unabweisbar sind. Was daraus folgen könnte nicht zuletzt.

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