Wahrheit und GeschichteDie Psalmen als Weg zur Kontemplation

Hat König David um 10. Jahrhundert vor Christus die Psalmen verfasst? Nein. Und trotzdem sind es in einem bestimmten Sinne doch die Psalmen Davids. Sie sind verbindlich gedeutete Geschichte.

Bibel
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Gewöhnlich werden die Psalmen 3 bis 7 in einem sehr allgemeinen Sinn als Klage- und Bittgebete verstanden. Der Beter klagt über vielfältige Nöte: Verfolgung durch Feinde, Armut, ungerechte Anklage, schwere Krankheit. All diese Elemente kommen tatsächlich vor, sie gewinnen ihr besonderes Profil jedoch erst, wenn wir den Rahmen berücksichtigen, in den sie eingebunden sind. Dieser wird im Text selbst aufgespannt und darf nicht ausgeblendet werden: die oft nicht beachtete Überschrift, die Psalm 3 mit dem Aufstand in Verbindung bringt, den Abschalom gegen seinen Vater David angezettelt hat. Auch die folgenden Psalmen werden in der Überschrift mit David in Verbindung gebracht; es bietet sich an, auch sie vor dem Hintergrund der in den Samuelbüchern erzählten Geschichte Davids auszulegen.

Die Psalmen Davids

Spätestens an dieser Stelle empfiehlt es sich, für einen Moment innezuhalten und über die Methode und die Hermeneutik nachzudenken, die der hier praktizierten Exegese zugrunde liegen. Vielleicht hat sich der ein oder andere über die bisherigen Auslegungen gewundert. Es ist von David die Rede, der Psalm 3 auf seiner Flucht vor seinem Sohn Abschalom gebetet haben soll, doch in der Schule und im Studium haben wir doch etwas ganz anderes gelernt, nämlich dass die Psalmen zwar David zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit jedoch nicht von David, dem König Israels aus dem 10. Jahrhundert v. Chr., stammen, wie die moderne historisch-kritische Exegese mit einem sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit gezeigt hat. Und jetzt werden die Psalmen – völlig unhistorisch – vor dem Hintergrund der Biografie Davids ausgelegt? Ein Rückfall in den Bibelfundamentalismus?

Die Geschichte und ihre Deutung

Um gleich auf den zuletzt genannten Einwand einzugehen: Die bisher ausgelegten Psalmen stammen sicherlich nicht von König David aus dem 10. Jahrhundert v. Chr. Wenn hier und im Folgenden von David die Rede ist, dann ist nicht der historische, sondern der literarische David gemeint; also jener David, der in den (geschichtlichen) Büchern der Heiligen Schrift, in der Literatur, zur Sprache kommt. Man könnte auch sagen: der biblische David. Dieser David ist ein gedeuteter David; und diese Deutung ist die für den jüdischen und – unter Hinzuziehung des Neuen Testaments – christlichen Glauben verbindliche Deutung. Jede große Geschichtsschreibung, wenn sie nicht nur historische Daten auflistet, deutet die erzählten Geschehnisse, sei es implizit, sei es explizit. Und dies gilt insbesondere für die Bibel, für das Alte ebenso wie für das Neue Testament. Es passiert etwas und es stellt sich die Frage: Was hat das zu bedeuten? Was zeigt sich darin? Grundsätzlich kann man sagen, dass es der biblischen Literatur nicht ausschließlich und vielleicht nicht einmal primär um das geht, was sich ereignet hat, sondern um das, was sich in dem, was sich ereignet hat, zeigt.

Die Bibel ist erinnerte, erzählte, gedeutete und verstandene Geschichte.

Damit ist gesagt, dass den (meisten) biblischen Büchern in der ein oder anderen Form historische Fakten zugrunde liegen – die Bibel ist also keine rein fiktive Literatur, wie man es gewöhnlich für die antiken Mythen annimmt, wenngleich sie auch fiktive Elemente enthält –, die Bibel ist erinnerte, erzählte, gedeutete und verstandene Geschichte. Selbstverständlich kann man die Geschehnisse auch anders deuten. Das bekannteste Beispiel dürfte wohl die Jesus-Geschichte sein. Doch für den christlichen Glauben gilt: Die in der Bibel erzählte und gedeutete Geschichte ist die verbindliche und letztlich wahre Deutung. Auf ihr bezieht sich der Glaube. Wer beispielsweise Jesus als einen Religionsstifter versteht, der den im Alten Testament bezeugten Gott verworfen, einen anderen Gott verkündet und folglich eine neue Religion gegründet habe, wie in der Antike Markion (2. Jh. n. Chr.) ihn verstanden und gedeutet hat, der – so die Überzeugung der Kirche – hat ihn falsch verstanden.

Die Deutung und ihre Geschichte

Diese Aussage bedarf allerdings einer zweifachen Ergänzung. Die in der Bibel anzutreffenden Deutungen weisen in vielen Fällen eine komplexe Geschichte auf; oft handelt es sich um Deutungsdiskurse, die sich über einen längeren Zeitraum hin erstrecken. Schon beim Eingangsthema des Psalters, der Theologie des Königtums (Psalm 2), haben wir darauf hingewiesen, dass sich das Verständnis des judäischen Königtums unter den Einflüssen dramatischer Ereignisse in der Geschichte Israels gewandelt hat.

Von Anfang an gab es in der Frage unterschiedliche Ansichten. Es gab Stimmen, die für die Einführung des Königtums plädierten, und solche, die dagegen waren und schwerwiegende Bedenken vorgebracht haben. Die Diskussion darüber ist in der Bibel bezeugt (vgl. 1 Sam 7–12). In der Zeit nach dem Zusammenbruch der davidischen Dynastie (ab dem 6. Jh. v. Chr.) wurde die ältere, in altorientalischer Tradition stehende Theologie des Königtums messianisch, das heißt: im Hinblick auf einen kommenden Messias fortgeschrieben; daran konnte das Neue Testament anknüpfen.

Aufgabe der Bibelwissenschaft ist es, diese Prozesse zu rekonstruieren, zu beschreiben und in verständlicher Form den Gläubigen und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, "damit gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reife" und "der Schatz der Offenbarung, der der Kirche anvertraut ist, mehr und mehr die Herzen der Menschen erfülle", wie es in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung "Dei Verbum" (DV) des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt (DV 12,5 und 26,1).

Vielstimmigkeit und Einheit der Heiligen Schrift

Die Entdeckung der Vielstimmigkeit des biblischen Zeugnisses darf allerdings nicht dazu führen, in der Bibel nur ein Sammelsurium unterschiedlicher Meinungen zu sehen, aus der sich jeder das heraussuchen kann, was ihm persönlich gefällt. Es gibt bei aller Pluralität, bei aller Polysemie und Polyphonie, doch so etwas wie einen Gesamtsinn, eine Kohärenz, eine Sinngeschichte; das meint die Lehre von der Einheit der Schrift (unitas scripturae), an der auch das Konzil festgehalten hat, wenn es in "Dei Verbum" heißt: "Weil aber die Heilige Schrift in demselben Geist, in dem sie geschrieben wurde, auch zu lesen und auszulegen ist, ist für die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte nicht weniger sorgfältig auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift zu achten, unter besonderer Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der ganzen Kirche und der Analogie des Glaubens" (DV 12,5).

Geistliches Tagebuch Davids

Der in einem historischen Ereignis verborgene Sinn wurde von den Kirchenvätern als der geistige Sinn (sensus spiritualis) verstanden. Ein geschichtliches Ereignis weist zwei Seiten auf: eine äußere und eine innere. Die äußere Seite kann von jedem Menschen mit den körperlichen Sinnen wahrgenommen werden (sensus litteralis), um die innere, verborgene Seite zu erkennen, bedarf es einer Öffnung der geistigen Sinne. Der Mensch, so Origenes, hat nicht nur körperliche, sondern auch geistige Sinne. Pilatus, so Origenes, hat Jesus mit seinen körperlichen Sinnen zwar dem Fleische nach gesehen, jedoch in ihm den göttlichen Logos nicht erkannt, da seine geistigen Sinne taub waren.

Diesem zweifachen Schriftsinn entsprechen die zwei Naturen Christi, die menschliche und die göttliche. Nicht "Fleisch und Blut" haben Petrus die göttliche Natur Jesu zu erkennen gegeben, sondern "mein Vater im Himmel" hat sie ihm geoffenbart (Mt 16,17: apekalypsen soi, revelavit tibi), wie Jesus sagt. Nicht, was die Vielen über Jesus aufgrund des äußeren Anscheins meinen und was durch Umfragen zu ermitteln ist (Mt 16,13f), entspricht der Wahrheit, sondern selig zu preisen ist derjenige, dem sich die Wahrheit durch eine himmlische Offenbarung erschließt. Diese Einsicht allerdings, so die Hoffnung des Evangeliums, soll nicht im Kreis der Wenigen verbleiben, sondern allen Völkern der Erde zuteilwerden (Mt 28,16–20).

Die Psalmen können als eine geistige Erschließung der Geschichte Davids verstanden werden.

Genau diese Struktur liegt auch dem Alten Testament, insbesondere den Psalmen, zugrunde. Was dem einen (David) widerfuhr und von ihm bezeugt wird, soll den vielen bekannt gemacht und von ihnen verstanden werden. Der David der Psalmen bekennt: "Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben […]. Alle Enden der Erde sollen es bedenken und sich zum HERRN bekehren: Vor dir sollen sich niederwerfen alle Stämme der Völker" (Psalm 22,23.28f; vgl. Psalm 2,10–12).

Die Psalmen können als eine geistige Erschließung der Geschichte Davids verstanden werden. Erich Zenger bezeichnet den Psalter als "geistliches Tagebuch Davids" (Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 92016, 437). Dies ist, wie wir jetzt wissen, nicht in einem historischen Sinn zu verstehen, so als habe der David des 10. Jahrhunderts v. Chr. ein Tagebuch mit sich geführt und darin persönliche Aufzeichnungen hinterlassen, sondern im Sinne einer innerbiblischen Exegese, die – in späterer Zeit – die Tiefendimension jener Ereignisse ausleuchtet, von denen in den Büchern der Geschichte, insbesondere im ersten und zweiten Buch Samuel, erzählt wird. So sieht es auch die jüdische Tradition: "Die Auslegung der Bibel beginnt in der Bibel selbst. Die biblischen Autoren kommentieren oft andere biblische Texte; sie revidieren sie, diskutieren mit ihnen und spielen auf sie an. […] Diese Tendenz wurde besonders gegen Ende der vorexilischen und nachexilischen Zeit einflussreich, mit anderen Worten: nachdem ein Teil der protokanonischen Texte heilig wurde" (The Jewish Study Bible. Torah – Nevi’im – Kethuvim, ed. Adele Berlin, Marc Zvi Brettler, Oxford 22014, 1835; Übersetzung L. S.-S.).

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