Der heute zu betrachtende Psalm 44 besteht nach der Überschrift aus vier Strophen von abnehmender Länge. Die erste Strophe (V. 2-9) blickt auf die grandiose Vergangenheit. Die zweite Strophe (V. 10-17) beklagt eine miserable Gegenwart. Die dritte Strophe (V. 18-23) versichert, dass dieses Mal Gottes Volk wirklich nicht schuld ist. Und die vierte Strophe (V. 24-27) fordert Gott dringend auf, endlich aufzuwachen.
Die erste Strophe ist gerahmt von den Worten "Gott" und "Tag" in V. 2 und 9. Die zweite Strophe ist durchzogen von zehn Wörtern der Schande und zehn Verben, die beschreiben, was Gott alles falsch gemacht hat. Die dritte Strophe bezieht sich mit "all das" in V. 18 auf die zweite Strophe zurück und die vierte ist eine Serie von vier Imperativen, die Gott zum Handeln auffordern.
Gottesbezeichnungen kommen sieben vor (V. 2.5.9.21.22.24), meist "Gott", die letzte in V. 24 "Herr". Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit und Vollständigkeit. Das drückt hier aber nur scheinbar vollkommene Gottesgegenwart aus, denn mit "fremder Gott" in V. 21 ist eben nicht der Gott Israels bezeichnet, sondern ein Abgott. Der wahre Gott ist nur sechsmal genannt. Schon darin drückt sich seine mangelnde Anwesenheit aus.
Rückblick auf eine ruhmreiche Vergangenheit
Die erste Strophe blickt auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück, die aber so leider nicht weiterging:
2 Gott, mit unseren Ohren haben wir gehört, unsere Väter haben uns erzählt:
Ein Werk hast du bewirkt in ihren Tagen, in Tagen der Vorzeit.
3 Du hast mit deiner Hand Nationen vernichtend enteignet
und jene (die Väter) eingepflanzt,
hast übel behandelt Völkerschaften und jene ausgebreitet.
4 Denn nicht mit ihrem Schwert haben sie sich angeeignet das Land
und ihr Arm hat sie nicht gerettet,
vielmehr deine Rechte und dein Arm und das Licht deines Angesichts,
denn du hattest an ihnen Gefallen.
5 Denn bist mein König, o Gott! Entbiete Rettungstaten für Jakob!
6 Mit dir wollen wir unsere Bedränger niederstoßen,
und in deinem Namen werden wir niedertreten, die sich gegen uns erheben!
7 denn nicht auf meinen Bogen will ich vertrauen,
und mein Schwert wird mich nicht retten,
8 sondern du hast uns gerettet vor unseren Bedrängern,
und unsere Hasser hast du beschämt.
9 Gottes würden wir uns rühmen den ganzen Tag,
und deinem Namen wollten wir in Ewigkeit danken!
Die Beter (es spricht ein Wir, das nur manchmal ins kollektive Ich übergeht) wissen aus der Überlieferung, wie Gott die kanaanäischen Heidenvölker vor Israel aus dem Gelobten Land vertrieben hat wegen ihrer Gräueltaten (v. a. Inzest):
Durch all das haben sich die Nationen verunreinigt, die ich vor euch vertreibe. 25 Das Land wurde unrein, ich habe an ihm seine Schuld heimgesucht, und das Land hat seine Bewohner ausgespien (Lev 18,24-25).
Auch wissen sie aus der Überlieferung der Vorfahren, dass sie das Land nicht aus eigener Kraft "erobert" haben, sondern, dass Gott es ihnen verliehen hat. Selbst Josua, der als "Eroberer" gilt, sagt rückblickend:
Ich (Gott) habe Panik vor euch hergeschickt. Die hat sie vor euch auseinandergejagt, die beiden Könige der Amoriter; das geschah nicht durch dein Schwert und deinen Bogen (Jos 24,12).
Wenn es nur so weitergegangen wäre …!
Und auch weiterhin hätte Israel nicht auf das eigene Schwert, den eigenen Bogen, die eigene Kraft vertrauen wollen, sondern sich auf Gott verlassen, sich Gottes rühmen. Wenn es nur so weitergegangen wäre! Vermutlich sprach das Gottesvolk Israel dieses Gebet im 2. Jh. v. Chr., als die hellenistische Kultur alles dominierte und alles traditionell Jüdische und jede überlieferte religiöse Praxis als hinterwäldlerisch und zu wenig fortschrittlich galten, weil sich die dominante Kultur überlegen glaubte (1 Makk 1). In der zweiten Strophe folgt eine Klage über die schmachvolle Gegenwart:
10 Aber du hast uns verstoßen und uns beschämt
und willst nicht mehr ausziehen mit unseren Heeren.
11 Du lässt uns (ständig) zurückweichen vor dem Bedränger,
und unsere Hasser plünderten uns aus, wie ihnen danach war.
12 Du gibst uns hin wie Vieh zum Fraß,
und unter die Nationen hast du uns zerstreut.
13 Du verkaufst dein Volk für einen nichtigen Preis
und hast nicht viel gewonnen mit ihren Kaufpreisen.
14 Du machst uns zur Schmähung für unsere Nachbarn,
zu Spott und Schimpf für unsere Umgebung.
15 Du machst uns zum Sprichwort bei den Nationen,
zum Kopfschütteln bei den Völkerschaften.
16 Den ganzen Tag steht meine Beschämung vor mir
und die Schande meines Angesichts hat mich bedeckt
17 wegen des Rufs dessen, der höhnt und lästert,
wegen des Blicks eines Feinds und Rachsüchtigen.
"Beschämen" rahmt die Klage in V. 10 und 16. Zehn Worte für "Schande" durchziehen den Abschnitt. Gott lässt seine Gläubigen als Deppen und Verlierer dastehen. Einst hatte Gott sein Volk überlegen dastehen lassen (erste Strophe) – aber jetzt? Niederlagen, Plünderungen, Exilierungen, Verkauf in die Sklaverei – und das alles durch Feinde Gottes! Gott hat sein Volk verkauft (V. 13). Akustisch und visuell bekommt es Verachtung zu spüren (V. 17). Das Wort "Gott" kommt in dieser Strophe nicht vor. Er ist völlig abwesend, obwohl er aus seiner Unsichtbarkeit heraus all das verursacht hat. Die dritte Strophe stellt der Alleinschuld Gottes (V. 10-17) die Unschuld Israels gegenüber:
18 All das kam über uns, obwohl wir dich nicht vergessen hatten
und nicht verraten den Bund mit dir!
19 Nicht ist abgewichen nach hinten unser Herz,
dass abgebogen wären unsere Schritte von deinem Pfad,
20 dass du uns zerschlagen hast am Ort der Schakale
und uns bedeckt hast mit Todesschatten.
21 Wenn wir vergessen hätten den Namen unseres Gottes
und ausgebreitet hätten unsere Handflächen zu einem fremden Gott,
22 könnte Gott das nicht feststellen?
Denn er kennt ja die Heimlichkeiten des Herzens.
23 Vielmehr deinetwegen werden wir hingemordet den ganzen Tag,
galten als Schlachtvieh.
Warum schläfst du, Herr?
Bei aller Demut und in aller Aufrichtigkeit können die Gläubigen dieses Mal die Schuld wirklich nicht bei sich finden. Es kann eben tatsächlich sein, dass Gottes Getreue wegen ihres Glaubens und ihrer religiösen Treue geschmäht werden. Paulus selbst macht sich in Röm 8,36 den Psalm zu eigen, wenn er V. 23 zitiert. Manchmal leiden die Gläubigen nicht aus eigener Schuld, nicht für ihre Verfehlungen, sondern gerade wegen ihrer Treue zu Gott. Und Gott lässt das zu. Das sieht der Psalm so; das sieht Paulus so. Mit Imperativen und Fragen, die keine Antwort wollen, sondern Aufforderungen sind, drängt er Gott, endlich aufzuwachen:
24 Rühr dich! Warum schläfst du, Herr?
Wach auf! verstoß nicht auf Dauer!
25 Warum willst du dein Angesicht verbergen,
vergessen unser Elend und unsere Drangsal?
26 Denn niedergebeugt in den Staub ist unsere Kehle (Seele),
es klebt am Boden unser Leib.
27 Steh auf, uns zu Hilfe,
und kauf uns zurück um deiner Loyalität willen!
Gott soll sich nicht länger schlafend stellen, als ginge ihn das alles nichts an. Er hat sein Volk verkauft (V. 13) und soll sie jetzt endlich zurückkaufen, wie einst aus Ägypten (red-emptio = Rückkauf). Durch seine Untätigkeit steht seine Gottheit vor aller Augen in Frage. Durch Tätigwerden würde er zeigen, wer "der Herr" ist. Das letzte Wort ist "deine Loyalität" (= pietas) – auf die sollte Gott sich wieder besinnen.
Der Kirchenvater Ambrosius von Mailand sieht in seinem Psalmenkommentar den früheren Triumph des Gottesvolkes über die Heidenvölker (Ps 44,2-9) im Sieg der Christen über das verfolgende Römerreich wiederholt. Die Fortsetzung des Psalms zeige aber, dass das geistliche Leben ein Kampf bleibt, der nie endet.