Als der junge Bill Blake im Zug sitzt, der ihn zu seinem neuen Arbeitsplatz in den Bergen bringen wird, öffnet sich plötzlich die Tür zwischen dem Waggon und der Lokomotive, und der Heizer, erkennbar an seinem rußverschmierten Gesicht, kommt herein. Er nimmt dem Reisenden gegenüber Platz und verwickelt ihn in ein Gespräch. Woher er komme? Aus Cleveland, Ohio. Wohin er wolle? Zu den "Dickinson Metal Works" in Machine. Dort habe er eine Stelle als Buchhalter. Machine sei die Endstation, sagt der Heizer. Er blickt den jungen Mann bedeutungsvoll an und fügt hinzu: Das sei die Hölle.
So beginnt der Film "Dead Man" von Jim Jarmusch (1995). Doch eigentlich beginnt er damit, dass wir die Räder der Lokomotive sehen, den Dampf, den sie ausstößt, und damit abwechselnd die amerikanischen Landschaften, die sie durcheilt, endlose Wälder, endlose Prärien, die Wüsten im Westen und die Felsen der Rocky Mountains. Auch die Fahrgäste verändern sich. Aus städtisch gekleideten harmlosen Bürgern werden schwer bewaffnete Wildwest-Typen, die auf die weidenden Bisons ballern, und immer mittendrin dieser Bill Blake mit seinem schönen, unschuldigen Gesicht, schwankend mit dem schwankenden Zug, angstvoll die Zukunft erwartend. Und immerzu hören wir das Stampfen der Kolben, das Rattern der Räder, begleitet vom Jaulen und Heulen der Gitarre des kongenialen Neil Young.
Der Heizer hatte recht: Machine ist die Hölle. Die heruntergekommene Ansammlung von Bruchbuden nebst einer Kneipe liegt im Schatten der Metallfabrik, wo der Posten, den sich der arglose Blake erhofft hat, längst vergeben ist. Man jagt ihn unter Hohngelächter davon. Sein erspartes Geld hat er für die Bahnfahrt ausgegeben, für seinen letzten Dollar bekommt er eine Miniflasche Whisky. Verzweifelt hockt er draußen vor der Bar, als eine junge Frau, hinausgestoßen von dem rüden Wirt, neben ihm im Matsch landet. Sie hat einen Korb voller Blumen bei sich, weiße Blumen aus weißem Papier.
Man ahnt, dass die beiden einander lieben würden, aber so weit kommt es nicht. Während sie angekleidet im Bett sitzen, denn mehr Platz bietet die Bude nicht, erscheint der frühere Geliebte und schießt. Die Frau wirft sich über ihren neuen Freund, um ihn zu schützen. Die Kugel durchdringt ihren Leib und verletzt den unter ihr Liegenden lebensgefährlich. Nachdem er den Angreifer getötet hat, ergreift er die Flucht.
Bilder, die man nicht vergisst
"Dead Man" gehört zu meinen Lieblingsfilmen. Ich musste an ihn denken, als kürzlich im Deutschen Bundestag vom "Tor zur Hölle" die Rede war. Rolf Mützenich, SPD, sah es geöffnet, als die CDU zusammen mit der AfD abstimmte. Eigentlich ist es seltsam, dass die Metapher "Hölle" so oft gebraucht wird, obwohl doch kein Mensch weiß, wie die wirkliche Hölle beschaffen ist. An ihrem Eingang, so heißt es in Dantes "Commedia", steht die Warnung: Lasciate ogne speranza, voi ch'intrate (Wer hier eintritt, lasse jede Hoffnung fahren).
In diesem Film geht Blake durch das Tor. Dass sein Fall hoffnungslos ist, weiß er noch nicht. Der Indianer Nobody begleitet ihn, und da der tödlich Verwundete mit vollem Namen William Blake heißt, hält er ihn für die Inkarnation des englischen Dichters, den er kennt und liebt. Oftmals zitiert aus dessen Werk.
"Dead Man" ist eine filmische Fantasie über das Sterben und den Tod und das, was danach kommt.
Die nun folgende Reise durch das Jenseits folgt weniger christlichen Jenseitsvorstellungen als vielmehr indianischen, und sie ist inspiriert von Motiven des Westerns. Blake und sein treuer Indianer Nobody werden von Kopfgeldjägern verfolgt. Sie bestehen die meisten Kämpfe. Aus dem naiven, tölpelhaften Blake wird ein gnadenloser Schütze, bis ihn abermals eine Kugel trifft. Nobody bettet den Sterbenden in ein Kanu, umkränzt sein Haupt und schiebt ihn hinaus in die Weiten des Pazifiks, wo er unseren Augen allmählich entschwindet.
"Dead Man" ist eine filmische Fantasie über das Sterben und den Tod und das, was danach kommt. Je mehr der Zug die gesitteten menschlichen Gefilde verlässt, umso mehr häufen sich die Zeichen des Todes: ausgebrannte Planwagen, zerstörte Indianerzelte, Berge tierischer Knochen und Schädel. "Stupid White Man", sagt der Indianer immer wieder (gespielt von Gary Farmer), und er meint damit die blinde, zerstörerische Raffgier, die die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents von Beginn an geprägt hat.
Wie jedes wahre Kunstwerk ist der Film offen für Deutungen. Manche erblicken darin eine Fortsetzung Kafkas, andere eine Antwort auf die Theologie des rätselhaften William Blake. Entscheidend für die Faszination, die der Film immer wieder auf mich ausübt, sind drei Dinge: Erstens die grandiose Leistung des damals noch jungen Johnny Depp, zweitens die betörende Musik von Neil Young und drittens die Tatsache, dass der Film in Schwarz-Weiß gedreht ist. Der Kameramann Robby Müller, der oft mit Wim Wenders und mit Jim Jarmusch zusammengearbeitet hat, komponiert in "Dead Man" Bilder von einer Schönheit, die man nicht vergisst.