"Labsal gegen Verdruss"Das Kirchenlied, die Subjektivität und das Ende des Lateins

Bis zur Reformation setzten die lateinischen Gesänge und Gebete ein objektives Gegenüber voraus: hier die gläubige Gemeinde, dort der zu verherrlichende oder um Beistand angeflehte Gott. Mit Luther begann die Geschichte des modernen Subjekts. Jetzt war der Mensch unmittelbar zu Gott – zu seinem Gott. Jetzt konnte und durfte er Ich sagen.

Gesangbücher
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Kennen Sie die Dichterin Marie Luise Thurmair? In den bekannten Gedichtanthologien ist sie nicht vertreten, der "Conrady" kennt sie ebenso wenig wie der "Echtermeier". Auch in den meisten Literaturgeschichten kommt sie nicht vor. Und doch war sie eine der produktivsten Lyrikerinnen, und wenn Sie sich die Fußnoten zu den Liedern im "Gotteslob" anschauen, dann werden Sie ihren Namen häufig finden. In der Neuauflage von 2013 stehen 27 von ihr verfasste Lieder, in der Ausgabe von 1975 waren es noch 44 gewesen, darunter Klassiker wie "Der Geist des Herrn erfüllt das All". Sie lebte von 1912 bis 2005, war in der katholischen Jugendbewegung aktiv und als einzige Frau Mitglied der Kommission zur Erstellung des "Gotteslobs".

"Reim dich, oder ich fress dich"

Das Kirchenlied war einst eine renommierte Gattung. Die von Philipp Wackernagel 1870 herausgegebene Sammlung deutscher Kirchenlieder verzeichnet 450 katholische sowie 3700 evangelische Lieder. Die von Albert Fischer 1904 herausgegebene Kollektion fügt ihnen weitere 3000 hinzu. Dass sie allesamt höchsten literarischenMaßstäben genügen, ist höchst unwahrscheinlich. Ich jedenfalls neige dazu, die Texte genauer zu betrachten, und finde oftmals seltsame Wendungen, die das Gebot "Reim dich oder ich fress dich!" gnadenlos befolgen. Doch offensichtlich kommt es darauf nicht an. Wenn wir "Großer Gott, wir loben dich" schmettern (und schmettern muss man das aus dem 18. Jahrhundert stammende Lied unbedingt), dann wird selbst der Agnostiker für einen Augenblick fromm.

Die Blüte des Kirchenlieds verdankt sich der Reformation, genauer gesagt: Martin Luther. Er erblickte im Kirchenlied "Medizin gegen das Böse" und "Labsal gegen Verdruss". Er wollte, dass die Gläubigen in ihrer eigenen Sprache eigene Lieder sängen, um sich so der Gemeinschaft und der Botschaft zu versichern. Von ihm stammen nicht wenige der bis heute noch gesungenen Lieder, etwa "Vom Himmel hoch, da komm ich her."

Dass auch die Katholiken anfingen, Lieder in deutscher Sprache zu singen, war eine Folge der Gegenreformation. Angeleitet von der Streitmacht der Jesuiten wurde der Kampf der Konfessionen auch auf dem Feld des Liedes ausgefochten. Der Jesuit Friedrich Spee zum Beispiel (1591 bis 1635) machte sich nicht bloß als Kritiker der Hexenprozesse einen Namen, sondern vor allem als Verfasser von rund 50 geistlichen Liedern, die bis heute von beiden Konfessionen gesungen werden: "O Heiland reiß die Himmel auf, / herab, herab vom Himmel lauf. / Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / reiß ab, wo Schloß und Riegel für."

Der umgekehrte Baum

In seiner Abhandlung "Herrschaft und Herrlichkeit" (2010) diskutiert der italienische Philosoph Giorgio Agamben die Frage, weshalb Gott überhaupt gepriesen werden muss. Fügt der Lobpreis der Gläubigen seiner Herrlichkeit etwas hinzu? Bedarf der Allmächtige des Zuspruchs? Agamben zitiert den Kabbalisten Schem Tov, der sagt: "Der Mensch ist ein umgekehrter Baum, seine Wurzeln ragen in die Höhe, und wenn sich der Mensch mit der Herrlichkeit des Namens vereinigt und sich heiligt und sammelt, kann er einen Erguss der höchsten Herrlichkeit bewirken, wie man ein Feuer oder eine Lampe entzündet, die das Haus erleuchten." So gesehen ist der Gläubige Nutznießer des eigenen Singens.

Bis zum Beginn der Reformation setzten die lateinischen Gesänge und Gebete ein objektives Gegenüber voraus: hier die gläubige Gemeinde, dort der zu verherrlichende oder um Beistand angeflehte Gott. Mit Luther begann recht eigentlich die Geschichte des modernen Subjekts. Jetzt war der Mensch unmittelbar zu Gott – zu seinem Gott. Jetzt konnte und durfte er Ich sagen. Bei dem protestantischen Dichter Paul Gerhardt, tritt ein Ich auf, das nicht mehr stellvertretend für ein Kollektiv spricht, sondern ganz persönlich seinen Gott anspricht. In seinem Passionslied "O Haupt voll Blut und Wunden" heißt es: "Nun, was du, Herr, erduldet, / Ist alles meine Last; / Ich hab es selbst verschuldet, / Was du getragen hast." Das Verhältnis, das hier poetisch ausgemalt wird, hat durchaus erotische Züge, etwa, wenn dieses Ich zum Gekreuzigten sagt: "Die Farbe deiner Wangen, / Der roten Lippen Pracht / Ist hin und ganz vergangen…" Und später: "Alsdann will ich dich fassen / In meinen Arm und Schoß."

Man darf diese religiöse Erregung, die für die Lyrik des Barock kennzeichnend ist, nicht mit unserem heutigen Sprachgebrauch gleichsetzen. Die Intimität war nur scheinbar, sie entsprang zeittypischen literarischen Mustern und war eingebunden in eine noch relativ stabile Dogmatik. Und doch war damit das Fass eines unbegrenzten Subjektivismus aufgemacht. Es hat sich über die oftmals sentimentalen Kirchenlieder des 19. und des 20. Jahrhunderts reichlich ergossen.

So lieb mir auch viele der alten Lieder geworden sind, so gerne ich auch "Es kommt ein Schiff geladen" oder "Christ ist erstanden" mitsinge, so sehr fällt mir immer wieder auf, dass das Kirchenlied in der katholischen Liturgie eigentlich keinen ursprünglichen Ort hat.

Wo das geendet hat, kann man leicht an dem in der jüngeren Generation beliebten katholischen Gesangbuch "Troubadour für Gott" sehen, das zuerst 1983 erschienen ist. Es enthält etwa 1200 "geistliche Lieder" internationaler Herkunft und spricht jenes Publikum an, das man auf Kirchentagen antrifft. An die Stelle der Orgel sind Gitarre, Flöte und Keyboard getreten; an die Stelle der im Ritus aufgehobenen Form das persönliche Bekenntnis; an die Stelle der gehobenen Sprache der Alltagsjargon: "Einfach Spitze, daß du da bist, einfach Spitze, daß du da bist. / Einfach Spitze, komm wir loben Gott den Herrn!"

So lieb mir auch viele der alten Lieder geworden sind, so gerne ich auch "Es kommt ein Schiff geladen" oder "Christ ist erstanden" mitsinge, so sehr fällt mir immer wieder auf, dass das Kirchenlied in der katholischen Liturgie eigentlich keinen ursprünglichen Ort hat. Latein war die lingua franca des Abendlandes, und nachdem Papst Gregor zu Beginn des siebten Jahrhunderts die unterschiedlichen Liturgien und Messgesänge vereinheitlicht hatte, begann die große Zeit der gregorianischen Gesänge, deren strenge und bestrickende Schönheit bis in die Konzertsäle vorgedrungen ist, während sie in den katholischen Kirchen heute nur mehr eine bescheidene Rolle spielt. Und das bedaure ich.

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