Wer Europa nicht liebt, ist zu wenig gereist. Das trifft bereits auf Deutschland zu. Aus verständlichen Gründen misstrauen wir hierzulande übergroßem Patriotismus. Es ist aber noch kaum einer aus Afrika, Südamerika oder Asien zurückgekehrt (der Autor vor wenigen Stunden aus dem Nahen Osten) ohne eine neue Dankbarkeit für manches in Deutschland (noch?) selbstverständliche.
Was zu nah vor Augen liegt, wird manchmal besonders leicht übersehen. Das trifft auf vieles auf diesem großartigen Kontinent zu, auf dem wir leben. Gerade weil europäische Themen wie die EU und der Euro emotional nicht immer nur positiv empfunden werden, gilt es, sich das Große immer neu vor Augen zu führen, was hinter all dem steht.
Touristen aus der ganzen Welt strömen zum Beispiel nach Florenz. Ein stattlicher Prozentsatz des gesamten Weltkulturerbes befindet sich in der relativ kleinen Altstadt. Von den Römern gegründet, wurde Florenz im Mittelalter pulsierende Metropole der Künste. Die christliche Rezeption der antiken Kultur brachte hier jenen Frühling hervor, den man „Renaissance“ nennt. Der wirtschaftliche Siegeszug der Medici ermöglichte Mäzenatentum für Künstler wie Michelangelo und Botticelli. Die zunehmend wohlhabende Bürgerschaft schuf ein republikanisches Klima mit selbstbewusstem Stehvermögen gegen kaiserliche oder päpstliche Begehrlichkeiten. Und so steht Florenz noch heute in seiner alten Pracht – baulich im Inneren seit Jahrhunderten weitgehend unverändert – und wird von Millionen von Touristen aus aller Welt besucht und bestaunt.
Schönheit gibt es auf der ganzen Welt, aber Europa ist einzigartig
Florenz versteht man nicht ohne Antike und erst recht nicht ohne Christentum. Dasselbe trifft für Paris und Köln zu, erst recht natürlich für Rom. Während es schöne Orte auf der ganzen Welt gibt: Dieses Gewebe verschiedener Quellen des Geistes (Jerusalem, Athen und Rom) in ein einheitliches, über Jahrhunderte hinweg tragfähiges kulturelles Gebäude, das Freiheit und Demokratie wachsen ließ, ist weltweit einzigartig.
Und jeder sieht es, nur die Europäer nicht immer. Es gibt einen Grund, weshalb Stücke von Shakespeare, Bach und Vivaldi auf der ganzen Welt aufgeführt werden. Es ist derselbe Grund, warum die alten Innenstädte Europas von Besuchern aus der ganzen Welt fotografiert werden. All das ist genauso wenig Zufall wie die Tatsache, dass die ersten Universitäten der Welt in Europa entstehen, dort über mindestens 500 Jahre hinweg fast alle wichtigen technischen und wissenschaftlichen Entdeckungen stattfinden, ausgehend von dort der Rest der Welt erkundet und bisweilen auch erobert wird.
Das christliche Bild vom Menschen als mit untilgbarer Würde als Mit-Schöpfer ausgestattetes Wesen: innere Quelle des humanistischen Gedankens.
Europa ist ein Phänomen. Dass sich die europäischen Staaten innerhalb eines Jahrhunderts in zwei Weltkriegen selbst zerfleischten, ist entsetzlich. Das tiefere Ferment einer gemeinsamen Kultur konnte dennoch überdauern. Auch nach den Kriegen lasen Franzosen wieder Goethe, spielten englische Pianisten wieder Liszt. Die gemeinsame, auf römische Rechtsstaatlichkeit gründende Idee von der Herrschaft des Gesetzes, nicht der bloßen Macht: diese Idee ist alles andere als selbstverständlich. Das christliche Bild vom Menschen als mit untilgbarer Würde als Mit-Schöpfer ausgestattetes Wesen: innere Quelle des humanistischen Gedankens. Die Abfolge von Kriegen und immer neuen Friedensschlüssen wurde die Grundlage einer generell an Frieden und Versöhnung orientierten Außenpolitik innerhalb Europas. Und dann die Architektur, die Musik und die Künste in ihren verschiedenen Epochen und Schulen: doch immer irgendwie aufeinander bezogen, über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg zu einem Gemeinsamen. Wer in Europa lebt, übersieht leicht diesen Reichtum an historisch Gewachsenem. Bei aller Kritik und Selbstkritik hilft oft ein Blick von außen, um wieder klar zu sehen. Europa ist ein Wunder.