Wohnort: ich selbstWillkommen daheim!

Ein Haus hat ein Fundament, es hat Mauern. Was hält mich, wenn Erschütterungen kommen, was trägt? Gibt es Grenzen, die mich schützen, halte ich diese selbst ein?

Johannes Hartl
© Rudi Töws

In der Lebensbeschreibung des Mönchsvaters Benedikt erwähnt Gregor der Große eine Eigenschaft des Heiligen, die, obwohl wenig bekannt, von zeitloser Bedeutung ist. Er sei ein Mann gewesen, der "bei sich selbst gewohnt" habe. Damit ist mehr gesagt als dass Benedikt zeitweise alleine lebte.

Es geht um ein Zuhause sein bei sich selbst. Erstaunlich modern, geradezu therapeutisch klingt dieses Konzept. Erstmals aufgeschrieben wurde es bei dem Stoiker Aulus Persius Flaccus (34-62 n. Chr.). Bei sich beheimatet zu sein, das bedeutet jedoch mehr als stoische Gemütsruhe oder Selbstbeherrschung. Habitare, wohnen, bedeutet mehr, als sich irgendwo aufhalten. Diese Zeilen etwa werden gerade in einer Flughafenlounge getippt. Doch diese Lounge ist kein Zuhause, kein Wohnort.

Was hieße es nun, nicht nur "bei sich selbst" zu sein (was ja irgendwie banal ist: wo sollte man denn sonst sein?), sondern dort tatsächlich zu wohnen? Eine Wohnung ist ein Ort, an dem man gerne ist, wo man sich wohl fühlt. Eine erste Frage könnte also sein: fühle ich mich wohl in meiner Haut? Halte ich es überhaupt mit mir aus, oder finde ich meine eigene Gegenwart eigentlich unerträglich?

Wer diesen Gedanken als platte Befindlichkeitsprosa abtut, hat ihn noch nicht wirklich durchdacht. In ihrem Buch "Über das Böse" kennzeichnet die jüdische Philosophin Hannah Arendt das als eine Funktion des Gewissens: mit welchem Selbst möchte ich selbst zusammenleben? So wie in archaischen Zeiten der Verbrecher aus der Stadt verbannt wurde, vollzieht das Gewissen ein Gericht im Inneren. Wenn ich selbst ein Dieb bin, wie könnte ich es mit mir selbst aushalten? Bei sich selbst zuhause zu sein bedeutet also sowohl, sich selbst anzunehmen, doch auch ein wacher und reflektierter Blick auf sich selbst.

Wohnen ist schließlich etwas, was man gar nicht aktiv tut. Es ist mehr ein dauerndes Sein als eine bewusste Aktion. Wodurch definiere ich mich selbst? Ist es primär in dem, was andere über mich sagen, in dem, was ich besitze und in dem, was ich leiste? All diese Aspekte sind wichtig, treffen den Kern aber nicht. Die Frage nach dem habitare secum geht weiter: wer bin ich, wenn ich nichts tue oder nichts (mehr) tun kann? Hat mein Dasein auch dann noch Wert? Oder bin ich ein kosmisches Waisenkind, geworfen in ein sinnloses und gegen meine Sinnerwartungen taubes Universum? Dann könnte das Bei-mir-selbst-Sein ja kaum als Beheimatung verstanden werden, sondern eher als existenzielle Ortlosigkeit.

Ein Haus hat ein Fundament, es hat Mauern. Was hält mich, wenn Erschütterungen kommen, was trägt? Gibt es Grenzen, die mich schützen, halte ich diese selbst ein? Nur wer selbst irgendwo wohnt kann auch andere zu sich einladen. Nur wer bei sich selbst beheimatet ist, ist wirklich offen für die Begegnung.

Seit Benedikt und seit Aulus Persius Flaccus ist es gewiss nicht einfacher geworden, bei sich selbst zuhause zu sein. Digital überall und nirgends, moderne Nomaden zwischen wechselnden Wohnorten, Berufen, Beziehungen, im ständigen Transit. So zumindest erleben sich viele Menschen heute. Das Konzept vom habitare secum ist aktueller denn je. Es kann mit einer ganz einfachen Übung in der Selbstwahrnehmung beginnen. Spüre ich mich überhaupt noch? Wie geht es mir, wirklich? Es öffnet sich aber spielerisch für Fragen, die direkt ins Geheimnis der christlichen Spiritualität führen. Großer Lebensreichtum wartet auf den, der sich auf den Weg ins innere Haus macht. Willkommen daheim!

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