Warum macht die Kirche nicht mehr Druck?SPD-Kandidatin für Bundesverfassungsgericht will Abtreibungsparagrafen streichen

Menschenwürde ab Geburt: Wer das vertritt, ist für CDU und CSU unwählbar, sagen Lebensrechtler in der Union. Doch die Fraktionsspitze scheint Krach mit dem Koalitionspartner SPD zu fürchten. Benjamin Leven meint: Jetzt muss sich die Kirche einmischen.

Bundesverfassungsgericht
© Pixabay

Für Hubert Hüppe ist die Sache klar: Er hält es für "undenkbar", dass Unionsabgeordnete im Bundestag für Frauke Brosius-Gersdorf als Bundesverfassungsrichterin stimmen. Hüppe, stellvertretender Bundesvorsitzender der "Christdemokraten für das Leben", sitzt seit der letzten Wahl nicht mehr im Parlament. Einige aktive Abgeordnete der Union haben in den letzten Tagen ihre Bedenken geäußert, die meisten anonym.

Im Bundestag sind die Kandidaten für das höchste Richteramt auf eine Zweidrittelmehrheit angewiesen. Dafür braucht die Koalition die Stimmen von Grünen und Linken. Die Abstimmung im Plenum des Bundestags soll am Freitag stattfinden.

Die Bedenken aus der Union beziehen sich auf pointierte rechtspolitische Positionierungen von Brosius-Gersdorf. Die von der SPD für das Richteramt vorgeschlagene Juraprofessorin der Universität Potsdam plädierte während der Corona-Pandemie für eine gesetzliche Impfpflicht, will das Grundgesetz gendergerecht umformulieren, ist für Frauenquoten bei Wahlen, findet, dass das Kopftuchtragen von Rechtsreferendarinnen nicht gegen das staatliche Neutralitätsprinzip verstößt – und sie spricht sich für eine Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 aus. In den letzten beiden Punkten widerspricht die Juristin der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Ihm sei bewusst, dass von der SPD wohl kein Kandidat zu erwarten sei, der bezüglich der Abtreibung eine konservative Position vertrete, sagt Hubert Hüppe; doch Brosius-Gersdorf sei in der Frage eine "Aktivistin" und werde von der SPD gerade deshalb für den Richterposten vorgeschlagen – im Hinblick auf eine zukünftige Befassung des Gerichts mit einer liberaleren Neuregelung des Abtreibungsrechts.

Menschenwürde ab Geburt?

Besonders skandalös findet Hüppe einen Satz, den Brosius-Gersdorf vor einiger Zeit zu Protokoll gegeben hat. Nachdem sie bereits federführend an der von der Ampel-Koalition eingesetzten "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" mitgewirkt hatte, trat die Juristin im Februar auf Einladung der Grünen als Sachverständige im Rechtsausschuss des Bundestags auf, wo ein Gesetzesentwurf zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts diskutiert wurde. Bei dieser Gelegenheit sagte sie:

"Ob dem Embryo und später Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zukommt, das ist in der Tat in der Verfassungsrechtswissenschaft sehr umstritten. Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt."

Brosius-Gersdorf wolle "die Menschenwürde eingrenzen und ungeborene Menschen ausgrenzen", so Hüppe. Wer so etwas vertrete, sei "für die Union unwählbar".

Möchte man meinen. Doch am Montag ließ sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann in der "Augsburger Allgemeinen" zitieren: Die Union sollte trotz der Bedenken für Brosius-Gersdorf stimmen, so Hoffmann, es gehe "um die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie". Und am Montagabend berichteten Medien, der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn habe die Abgeordneten in einer Fraktionssitzung aufgefordert, die Personalie zu unterstützen, die SPD habe im Gegenzug darauf verzichtet, die Kandidatin im Bundesrat als Vizepräsidentin des Gerichts vorzuschlagen.

Im Jahr 2008 war eine Wahl des SPD-Kandidaten Horst Dreier unter anderem wegen ähnlicher Positionen noch am Widerstand der Union gescheitert. Doch diesmal scheint die Fraktionsführung über das Thema Lebensschutz keinen Koalitionskrach riskieren zu wollen.

Bis Freitag ist noch Zeit für Protest

Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass zu wenig Protest von außen kommt. Was ist eigentlich mit der katholischen Kirche? Wäre nicht beispielsweise ein "Brandbrief" des Katholischen Büros an die Unionsabgeordneten angebracht? Immerhin ließ sich der Leiter des Büros, Prälat Karl Jüsten, in der Angelegenheit vor einigen Tagen von der "Katholischen Nachrichten-Agentur" zitieren:

"Es sei Aufgabe der Politik, für die Besetzung des Bundesverfassungsgerichts Sorge zu tragen, sagte Jüsten auf Anfrage am Rande einer Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin. Es sei aber kein Geheimnis, dass die Kirche bei der Regelung von Abtreibungen verfassungsrechtliche Positionen für ein abgestuftes Lebensschutzkonzept nicht teile. Auch die Menschenwürde des ungeborenen Lebens stelle sie nicht infrage."

Ein Schreiben an alle Unionsabgeordneten kam derweil von der Bundesleitung des Malteser-Hilfsdienstes. In dem Brief, der auf den 3. Juli datiert ist, heißt es:

"Als Christen sehen wir Malteser uns in einer besonderen Verantwortung für den Schutz des menschlichen Lebens und möchten daher unserer Sorge Nachdruck verleihen, dass mit der Neubesetzung des Bundesverfassungsgerichts die heute geltende Rechtslage zur Disposition stehen könnte, mit unabsehbaren und langfristigen Konsequenzen."

Von den anderen katholischen Verbänden, Gremien und Institutionen – etwa vom Deutschen Caritasverband, vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder vom Verein "Donum Vitae" – sind bislang keine derartigen Interventionen bekannt.

Warum eigentlich nicht? Es geht schließlich um "grundsätzliche Fragen von Leben und Tod". Bis Freitag ist noch Zeit.

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