Sexualisierte Gewalt – Ursachenforschung steht noch am AnfangEin Interview mit dem Religionssoziologen Detlef Pollack

Jetzt hat auch die evangelische Kirche ihren Missbrauchsskandal. In der katholischen Debatte galt als ausgemacht, was den Missbrauch begünstigt. Doch nun stellt sich die Frage nach den Ursachen neu. Detlef Pollack kritisiert die Aussage, jede Kirche habe eben ihre eigenen systemischen Faktoren: "Das wäre das Ende jeder Wissenschaft".

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Benjamin Leven: Sie haben bei der Frühjahrs-Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Augsburg die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorgestellt. Die hat ergeben, dass Katholiken eher aus Wut aus der Kirche austreten, Evangelische eher aus Gleichgültigkeit. Könnte sich das jetzt durch die Forum-Studie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche ändern?

Detlef Pollack: Wut auf die Kirche spielt inzwischen auch für Evangelische eine große Rolle. Es stimmt, dass die ausgetretenen Katholiken den Aussagen, die Ärger über die Kirche zum Ausdruck bringen, stärker zustimmen als die evangelischen Ausgetretenen. Aber die Differenzen sind gering. Es ist auch wahr, dass die evangelischen Ausgetretenen Aussagen wie „Die Kirche ist mir gleichgültig“ oder „mit dem Glauben kann ich nichts mehr anfangen“ etwas mehr zustimmen. Aber auch da ist der Unterschied zu den ausgetretenen Katholiken nicht besonders groß. Wut und Gleichgültigkeit sind für beide Konfessionen die zentralen Austrittsmotive. Früher war das anders; vor zwanzig Jahren spielte die Wut für Evangelische nicht so eine große Rolle. Inzwischen gibt es auch hier eine große Kirchenskepsis. Und die Frage ist in der Tat, ob sich das jetzt noch einmal verstärkt. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. In der breiten Öffentlichkeit dominiert das negative Image der katholischen Kirche. Nur neun Prozent der Gesamtbevölkerung vertrauen der katholischen Kirche, 25 Prozent haben Vertrauen in die evangelische Kirche. Bestürzung über die Ergebnisse der Forum-Studie herrscht nach meiner Wahrnehmung vor allem unter den Hochengagierten. Dabei sorgt bei ihnen auch die Tatsache für Unmut, dass die Landeskirchen offenbar bei der Herausgabe der Akten unzureichend mit den Forschern kooperiert haben. Und viele wundern sich sehr darüber, dass die Zahl der Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche etwa genauso groß ist wie in der katholischen Kirche.

Leven: In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" haben auch Sie geschrieben, es sei nicht zu erwarten gewesen, dass das Problem unter Geistlichen der evangelischen und der katholischen Kirche in etwa gleich verbreitet sei. Warum hat Sie das überrascht?

Pollack: Es ist immer gesagt worden: Der Missbrauch hat mit dem Zölibat zu tun, das liegt an den Machtstrukturen der katholischen Kirche, an der starken Hierarchie und daran, dass es eine Männerkirche ist. Die evangelische Kirche hat flachere Hierarchien, es wird demokratisch gewählt, es gibt viele Gremien, die sehr konstruktiv arbeiten, und der Frauenanteil an der ordinierten Pfarrerschaft beläuft sich auf mehr als ein Drittel. Darum hatte ich erwartet, dass das Phänomen in der evangelischen Kirche nicht das gleiche Ausmaß haben würde wie in der katholischen Kirche.

"Wir haben es offenbar nicht einfach mit einem Kirchenproblem zu tun, sondern mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem, das jetzt an den Kirchen abgearbeitet wird. Das ist auch verständlich, weil die Fallhöhe bei den Kirchen besonders hoch ist und es ein mediales Interesse darangibt, Institutionen mit einem hohen moralischen Anspruchsniveau zu dekonstruieren."

Leven: Was für Schlüsse ziehen Sie daraus, dass es sich offenbar anders verhält?

Pollack: Die Schlüsse müssen radikal sein. Wir haben es offenbar nicht einfach mit einem Kirchenproblem zu tun, sondern mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem, das jetzt an den Kirchen abgearbeitet wird. Das ist auch verständlich, weil die Fallhöhe bei den Kirchen besonders hoch ist und es ein mediales Interesse daran gibt, Institutionen mit einem hohen moralischen Anspruchsniveau zu dekonstruieren. Dabei konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die katholische Kirche, vielleicht auch wegen des sehr selbstbewussten Auftretens dieser Kirche in der Vergangenheit, das immer noch im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Die Forum-Studie muss Anlass sein, das Missbrauchs-Thema breiter zu diskutieren. Wie sieht es da in den Sportvereinen aus, in den Schulen, Internaten und Heimen, in den Familien?

Leven: Im katholischen Bereich waren in den zurückliegenden Jahren Forderungen nach Strukturreformen mit der Missbrauchsprävention begründet worden. Ist das jetzt noch haltbar?

Pollack: Die Forschung nach dem Bedingungsgefüge, unter dem Missbrauch stattfinden kann, ist bislang nicht sehr weit gekommen. Es galt immer als gesetzt, dass Hierarchie und Machtgefälle die entscheidenden Faktoren sind, dass sexueller Missbrauch im Kern Machtmissbrauch ist. Wir sehen jetzt, dass offenbar auch andere Aspekte eine Rolle spielen: beispielsweise bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit, oder die Besonderheiten von Erziehung, wo naturgemäß versucht wird, auf Kinder Einfluss zu nehmen und sich gerade dann, wenn das gelingt, ein besonderes Näheverhältnis herstellt. Weitere Faktoren scheinen der Mangel an klaren Grenzziehungen und eindeutigen Zuständigkeiten zu sein, oder auch die Tatsache, dass man sich in der Kirche irgendwie als Familie versteht und es unter dem Deckmantel von Gemeinschaftlichkeit und Geschwisterlichkeit zu sexuellem Missbrauch kommt.

Leven: Lassen sich denn Ursachen überhaupt eindeutig benennen, wenn man keine Vergleiche ziehen kann?

Pollack: Nein, und das ist bisher kaum geschehen. Die Forum-Studie ist die erste, durch die das in begrenztem Maße möglich ist, allerdings auf einer unsicheren Datengrundlage. Man kann entweder zwischen Gruppen vergleichen oder zwischen Zeiträumen. Und insbesondere für Letzteres haben wir auch nach der Forum-Studie keine klaren Aussagen. Sind es im Laufe der Zeit mehr Missbrauchsfälle geworden oder weniger? Wann waren die Peaks? Das müsste man doch unbedingt untersuchen, wenn man wissen will, unter welchen Bedingungen es wahrscheinlicher ist, dass es zu Missbrauchsfällen kommt. Wenn man mit Verantwortlichen in der katholischen Kirche spricht, dann sagen sie, die Fallzahlen heute hätten längst nicht das Ausmaß wie noch vor zehn Jahren. Das hieße: Die Präventionsmaßnahmen, die Aufmerksamkeit für das Thema, das geschärfte Bewusstsein – all das zeigt offenbar bereits Wirkung.

"Es gibt hier offenbar noch große Unklarheiten. Man muss sich anschauen, welche Faktoren wirklich eine Rolle spielen. Diese müssen nicht unbedingt in die gleiche Richtung gehen, aber es ist unbefriedigend, sie je nach Lage einfach ad hoc heranzuziehen."

Leven: Können denn entgegengesetzte Faktoren zur Erklärung für das gleiche Problem herangezogen werden? Ein Beispiel: Im katholischen Bereich wurde gesagt, dass eine restriktive Sexualmoral ein Risikofaktor ist. In der Forum-Studie heißt es nun: Missbrauch fand gleichermaßen in liberalen Umfeldern mit permissiver Sexualmoral als auch in verklemmten, konservativen Kontexten statt.

Pollack: Es ist schlechte Soziologie, zu sagen: Gegensätzliche Faktoren haben das gleiche Resultat. Da lasse ich mich nicht drauf ein. "Zu viel Macht ist nicht gut, zu wenig Macht ist auch nicht gut. Liberalität ist nicht gut, Verklemmtheit ist auch nicht gut." Das kann nicht sein. Es gibt hier offenbar noch große Unklarheiten. Man muss sich anschauen, welche Faktoren wirklich eine Rolle spielen. Diese müssen nicht unbedingt in die gleiche Richtung gehen, aber es ist unbefriedigend, sie je nach Lage einfach ad hoc heranzuziehen. Und was mindestens genauso wichtig ist: Man muss diese Faktoren gewichten. Beides muss man dann in ein komplexes Modell integrieren. Das ist das Geschäft der Soziologie: multivariat zu denken und die maßgeblichen Faktoren herauszuarbeiten.

Leven: Bischof Bätzing hat bei der Eröffnungspressekonferenz der Vollversammlung gesagt, jede Kirche habe eben ihre eigenen systemischen Faktoren.

Pollack: Das muss er wahrscheinlich sagen, aber in der Wissenschaft kann man sich nicht damit beruhigen zu sagen: Jeder Fall ist anders. Das wäre das Ende jeder Wissenschaft. Wissenschaftlich muss es darauf ankommen, generalisierbare Aussagen zu treffen.

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