Frieden in unseren TagenDas Jahr 2024 in geopolitischer Perspektive

Sollte Europa in den Konflikten zwischen den rivalisierenden Weltmächten stärker seine eigenen Interessen verfolgen? Der Gedanke liegt nahe, wird aber eine Wunschvorstellung bleiben – es sei denn, die Europäer werden durch eine Existenzkrise zum Handeln gezwungen.

Kriegsschiffe
© Pixabay

In seiner Neujahrsansprache 2023 sprach Papst Franziskus vor dem beim Vatikan akkreditierten diplomatischen Corps über den "Weltkrieg in Teilen". Drei Wochen später, am 29. Januar 2023, erklärte die deutsche Außenministerin vor dem Europarat "We are fighting a war with Russia". Ihre Worte erinnerten an Premierminister Neville Chamberlain, der 1939 nach der Weigerung Hitlers, sich aus Polen zurückzuziehen, mit dem Satz "This country is at war with Germany" dem Dritten Reich den Krieg erklärte.

Moskau nahm die Rhetorik der Ministerin weder als Kriegserklärung noch als Feststellung des Kriegszustandes ernst. Aber immerhin hatte Annalena Baerbock öffentlichkeitswirksam auf einen erschreckenden Sachverhalt hingewiesen: Systematische Gewaltanwendung zur Erreichung politischer Ziele ist das hervorstechende Merkmal unserer Zeit.

Pragmatische Prognose

Die geopolitische Vorausschau auf das vor uns liegende Jahr bedarf weder rhetorischer Formeln noch abstrakter Theorie oder geheimen Wissens. Es reicht aus, Carl von Clausewitz zu folgen und die Schaubühne von Geschichte und Politik zu betrachten. Clausewitz beherzigte den Rat Friedrich Schillers, der in seiner Vorlesung zur Universalgeschichte dazu aufforderte, jene materiellen und immateriellen Kräfte zu studieren, die "auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprüchlichen und leicht zu verfolgenden Einfluss" haben. Auf ihrer Grundlage könne der Mensch, so Schiller, "mit seinen Schlüssen in die Zukunft vorauseilen."

Es geht also nicht um die Vorhersage ungewisser Ereignisse, sondern um eine historisch und zeitgeschichtlich begründete Analyse der Gegenwart und ihrer absehbaren Folgen. So lässt sich schon heute vorhersagen, dass im März 2024 Wladimir Putin nach einer erfolgreichen Wahlsimulation als russischer Präsident wiedergewählt werden wird. Ebenso lässt sich mit hinreichender Sicherheit prognostizieren, dass der Verlauf und das unsichere Ergebnis des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes 2024 die internationale Politik belasten werden. Und schließlich werden angesichts terroristischer Bedrohungen die Olympischen Spiele in Frankreich im Sommer 2024 zu einer Hochrisiko-Veranstaltung, bevor dann im Herbst die Landtagswahlen in drei mittel- und ostdeutschen Bundesländern das deutsche Parteiensystem nachhaltig erschüttern werden.

Gefährliche Ungewissheit

Unabhängig von solchen Kalenderdaten geht im neuen Jahr der weltweite Kampf um Ressourcen und Märkte, um die globalen Kommunikations- und Verkehrswege weiter. Hier handelt es sich um klassische Geopolitik großen Stils. Der verlustreichste Schauplatz dieses "Weltkriegs in Teilen" bleibt wohl die russisch-ukrainische Front nördlich des Schwarzen Meeres.

Ihr strategisches Hinterland ist auf ukrainischer Seite das NATO-Vertragsgebiet. Die Mitglieder der Atlantischen Allianz sind an den eigentlichen Kampfhandlungen zwar selbst nicht beteiligt und daher keine kriegsführenden Staaten. Aber ohne ihre Berater und Ausbilder, ohne ihre Waffenlieferungen, nachrichtendienstlichen Informationen und hohen finanziellen Zuwendungen wäre die fortdauernde Verteidigung des ukrainischen Staatsgebiets gegen die russischen Angreifer nicht denkbar.

Wird die für den Kriegsverlauf entscheidende Hilfe 2024 in ausreichendem Umfang fortgesetzt? Carl von Clausewitz warnt vor einer eindeutigen Antwort: "Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit; drei Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit".

Nach dem offenkundigen Fehlschlag des Handstreichs gegen Kiew und Odessa im Februar 2022 konnte die russische Führung unter Putin ihre Position 2023 sowohl militärisch als auch innen- und außenpolitisch konsolidieren. Der Übergang Moskaus zu einer defensiven Operationsführung weckte in Kiew, Washington und im NATO-Hauptquartier die Hoffnung, eine ukrainische Gegenoffensive könne die entscheidende Wende des Krieges bringen. Aber diese optimistische Einschätzung hat sich im vergangenen Jahr ebenso wenig erfüllt wie die Erwartung einer internationalen Isolierung der Russischen Föderation.

Noch sind die Auswirkungen des US-Wahlkampfs auf die amerikanische Ukraine-Politik ungewiss, doch wächst in Kiew und in den europäischen Hauptstädten die Sorge, Washington könne sich wie einst aus Vietnam, dem Irak oder Afghanistan ohne Rücksicht auf die Verbündeten aus dem Ukraine-Krieg verabschieden.

Inzwischen betrachtet ein nicht unerheblicher Teil der internationalen Staatenwelt den Krieg in der Ukraine als machtpolitisch motiviertes Kräftemessen zwischen Washington und Moskau mit offenem Ausgang. Viele Regierungen warten mit einer eindeutigen Positionierung ab, manche schlagen sich auf die Seite Putins.

Noch sind die Auswirkungen des US-Wahlkampfs auf die amerikanische Ukraine-Politik ungewiss, doch wächst in Kiew und in den europäischen Hauptstädten die Sorge, Washington könne sich wie einst aus Vietnam, dem Irak oder Afghanistan ohne Rücksicht auf die Verbündeten aus dem Ukraine-Krieg verabschieden. Werden ihn Trump und die Republikaner zu "Biden’s War" erklären und die Lasten des Krieges auf die Schultern der Europäer legen?

Wettbewerb der großen Mächte

Die Antwort hängt davon ab, in welchen Regionen und mit welchen Mitteln die amerikanischen Entscheider ihre Weltmachtstellung behaupten wollen. Für sie ist der Hauptgegner nicht Moskau, sondern Peking. Washington lehnt eine multipolare Machtverteilung ab und hält stattdessen an der Leitidee einer von den USA geführten, multilateral organisierten Welt fest. Dagegen möchte die chinesische Führung bis zur Mitte des Jahrhunderts das "Reich der Mitte" zum Zentrum einer grundsätzlich veränderten Mächtekonstellation, einer neuen Weltordnung machen.

Dieser fundamentale Gegensatz wird im kommenden Jahr alle anderen politischen Entwicklungen beeinflussen. Beide Rivalen bemühen sich um Verbündete. Die USA scharen die NATO, die G 7 und Partner im indo-pazifischen Raum um sich. China wiederum setzt auf die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), den BRICS-Verbund des Globalen Südens sowie andere von Peking initiierte, im Aufbau befindliche internationale Foren.

Auf allen Kontinenten verfolgt Peking die Strategie der pénétration pacifique, also eine langfristig angelegte ökonomische Durchdringung von Wirtschaftsräumen und Gesellschaften. Diesem Ansatz stellt Washington eine regional und militärisch ausgerichtete Eindämmungsstrategie gegenüber. Sie konzentriert sich auf die maritime Konfliktzone entlang der ostasiatischen Küste. Zu ihr gehört die seit 1953 durch eine Waffenstillstandslinie geteilte koreanische Halbinsel. Nordkorea verfügt über Nuklearwaffen und entsprechende Trägersysteme. Südkorea ist auf dem asiatischen Festland das einzige Gebiet mit permanenter US-Militärpräsenz in erheblicher Stärke.

Weiter südlich liegt Taiwan. Ebenso wie Hongkong gilt die Insel völkerrechtlich als Teil der Volksrepublik China, obwohl ihre Regierung de facto wie die eines unabhängigen Staates agiert. Obwohl die USA und die Europäische Union deklaratorisch am Grundsatz der "Ein China-Politik" festhalten, testet Washington immer wieder, ob und in welcher Weise Taiwan gegen Peking in Stellung gebracht werden kann.

Ähnlich ist die Lage im Südchinesischen Meer, das von Peking als mare nostrum beansprucht wird. Ebenso wie die regionalen Anrainer erkennt Washington den chinesischen Anspruch auf das umstrittene Seegebiet nicht an. In regelmäßigen Abständen durchqueren es amerikanische Kriegsschiffe, um die Freiheit der hohen See zu demonstrieren. Wie würden die USA auf chinesische Fregatten im Golf von Mexiko, der "Badewanne der USA", reagieren? Nicht ohne Grund warnt Admiral James Stavridis, der ehemalige Oberkommandierende der NATO in Europa, in seinem Bestseller "2034" vor einem chinesisch-amerikanischen Nuklearkrieg, der mit einem Zwischenfall im Südchinesischen Meer beginnt.

Brandherde in Westasien

Aber die chinesische Führung folgt offensichtlich der Lehre von Meister Sun-tse: Werde dort aktiv, wo der Gegner schwach ist; weiche einer Konfrontation aus, wo er seine Kräfte konzentriert!

Viel spricht dafür, dass Peking eine direkte Auseinandersetzung mit den USA im indo-pazifischen Raum zu vermeiden sucht, solange es nicht zur offiziellen Anerkennung der taiwanesischen Staatlichkeit durch Washington kommt. Stattdessen baut Peking Positionen in Westasien auf, also in jener Region, die einst von Europäern und Nordamerikanern als Naher und Mittlerer Osten bezeichnet wurde.

Nach dem Desaster der westlichen Afghanistan-Intervention im August 2021 und dem ergebnislosen Besuch Präsident Bidens in Riad im Juli 2022 entstand in Westasien ein politisches Vakuum, das nicht nur die chinesische Diplomatie füllen will. Auch die vier Regionalmächte Israel, Iran, Türkei und Saudi-Arabien verfolgen jetzt ihre Eigeninteressen weitgehend rücksichtslos und ohne Skrupel.

Nach chinesischer Vermittlung einigten sich Iran und Saudi-Arabien im März 2023 darauf, ihre politischen Streitigkeiten diplomatisch beizulegen. Darauf folgte die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga. Der anschließende Besuch des syrischen Präsidenten Assad in Peking endete mit der Unterzeichnung einer strategischen Partnerschaft zwischen Syrien und China, das damit in Zukunft auch an der Nordostküste des Mittelmeers präsent sein.

Nach dem Desaster der westlichen Afghanistan-Intervention im August 2021 und dem ergebnislosen Besuch Präsident Bidens in Riad im Juli 2022 entstand in Westasien ein politisches Vakuum, das nicht nur die chinesische Diplomatie füllen will. Auch die vier Regionalmächte Israel, Iran, Türkei und Saudi-Arabien verfolgen jetzt ihre Eigeninteressen weitgehend rücksichtslos und ohne Skrupel.

In der destabilisierten Region mit vom Westen geächteten Staaten wie Syrien, Iran und Afghanistan ist jederzeit mit unvorhergesehenen Krisen zu rechnen. Konflikte, die lange aus dem internationalen Bewusstsein verdrängt worden waren, wie etwa der zwischen Israel und den Palästinensern, bergen ein erhebliches Eskalationspotential. Das belegen seit dem 7. Oktober 2023 die Geschehnisse um und in Gaza in erschreckender Weise. Auch der Bürgerkrieg im Jemen kann im Süden des Roten Meeres einen explosiven Flächenbrand entzünden.

Europas Schwäche

Was folgt daraus für Europa? Im unmittelbaren Anschluss an seine Peking-Reise forderte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron im April 2023, die Europäische Union müsse künftig in der Lage sein, strategisch autonom zu handeln. Sie dürfe nicht zur Eskalation von Konflikten beitragen, sondern solle zwischen den rivalisierenden Weltmächten USA und China ihre eigenen Interessen verfolgen.

Das ist zwar ein naheliegender Gedanke, der aber angesichts der innen- und außenpolitischen Schwäche wichtiger europäischer Staaten einschließlich Frankreichs eine Wunschvorstellung bleiben wird, es sei denn, die Europäer werden durch eine Existenzkrise zum Handeln gezwungen. Für ihre innere und äußere Sicherheit ergeben sich jedenfalls gegenwärtig die größten Risiken aus der Massenmigration Richtung Europa.

Auch 2024 werden Millionen von Menschen versuchen, der Hoffnungslosigkeit ihrer Heimat zu entkommen. Zu den von Gewalt verheerten Ländern ohne Zukunftsperspektive gehören vor allem Syrien und Afghanistan. Aber spätestens nach dem Winter 2023/24 werden wohl auch die Menschen im Erdbebengebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze ihre verzweifelten Blicke auf das immer noch stabile und wohlhabende Europa richten – und sich auf den Weg machen.

Ähnliches gilt für Westafrika mit seinem enormen, nur schwer zu beziffernden Migrationspotential. Hier signalisieren der Zerfall der französischen Hegemonie und das militärische Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Mali, wie schwierig es in Zukunft sein wird, in der von Gewalt und Dürre heimgesuchten Sahel-Zone eine wirkungsvolle Entwicklungs- und Stabilisierungspolitik zu betreiben. Dasselbe gilt für den großflächig zerstörten Gaza-Streifen, in dem es auf absehbare Zeit nur um akute Nothilfe für Hunderttausende gehen kann.

Wo bleibt das Positive?

In unsicherer Zeit müssen die drängenden Aufgaben des Tages vorrangig bearbeitet werden. Eine Fülle von Detailproblemen wird in den ersten Monaten des Jahres 2024 nicht nur in Brüssel und Berlin die Terminkalender und Themenlisten rasch füllen. Die Tagesordnungen werden lang und unerfreulich.

Entscheidungsträger dürfen sich nicht von Wunschvorstellungen und Illusionen leiten lassen. Nur zu oft haben in der Vergangenheit falsche Propheten und zynische Politiker vorgegaukelt, in der menschlichen Vorstellungswelt unbegrenzte Möglichkeiten könnten mit begrenzten Mittel Wirklichkeit werden.

Was nützt da die geopolitische Gesamtschau auf ein Jahr der Krisenkonvergenz und der Krisenbeschleunigung? Immerhin kann sie zu einer nüchternen Einschätzung der realen Machtverhältnisse, ihrer Erscheinungsformen und absehbaren Folgen beitragen und auf einer imaginären Landkarte Risiken und Chancen, Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungszwänge aufzeigen.

Notwendig bleiben auf politischer Ebene die Bereitschaft und die Fähigkeit, geopolitische Perspektiven bei der Suche nach Lösungswegen einzubeziehen. Entscheidungsträger dürfen sich nicht von Wunschvorstellungen und Illusionen leiten lassen. Nur zu oft haben in der Vergangenheit falsche Propheten und zynische Politiker vorgegaukelt, in der menschlichen Vorstellungswelt unbegrenzte Möglichkeiten könnten mit begrenzten Mittel Wirklichkeit werden. Diese Erfahrung wird auch im kommenden Jahr dazu führen, dass sich viele mit der Bitte um Frieden in unseren Tagen an eine Kraft jenseits von Zeit und Raum wenden werden.

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