Diesen Pontifex hatten die wenigsten auf dem Zettel … Alles schien auf Pietro Parolin hinauszulaufen, den vatikanischen Staatssekretär und damit die „Nummer Zwei“ hinter Franziskus. Er war der engste Vertraute des verstorbenen Papstes; seine Wahl hätte Kontinuität zu den angestoßenen Reformen, aber auch ein gewisses diplomatisches „Einholen“ derselben signalisiert. „Er wäre jemand, der wieder Ruhe in die Kirche bringen könnte,“ formulierte es ein Beobachter. Überspitzt gesagt: Ein Versöhner zwischen Konservativen und Reformern. Und so war Parolin denn auch der klare Favorit bei den Wettbüros. Mit deutlichem Abstand wurden dahinter Matteo Zuppi, Pierbattista Pizzaballa und Luis Antonio Tagle genannt. Manche räumten auch dem Jesuiten Jean-Claude Kardinal Hollerich, dem maltesischen Kardinal Mario Grech, Peter Turkson oder dem Franzosen Jean-Marc Aveline Außenseiterchancen ein.
Im Lauf des Donnerstags schien tatsächlich alles auf Parolin zuzulaufen. Er habe schon um die 50 Stimmen auf sich vereinen können, „wussten“ Gerüchte. Auch die Geschwindigkeit – dass bereits kurz nach 18 Uhr am zweiten Konklave-Tag weißer Rauch aufstieg – deute auf einen bekannten Kompromisskandidaten hin. Doch dann die große Überraschung: Als eine Stunde später Kardinalprotodiakon Dominique Mamberti auf die Mittelloggia des Petersdoms trat und der Weltöffentlichkeit den neuen Papst ankündigte, wurde es zunächst entsprechen holprig. Die Vornamen –„Robertum Franciscum“ – verstanden alle noch gut. Aber wer genau sollte das sein? Der Nachname „Prevost“, von Mamberti mit französischer Färbung als „Prebosté“ ausgesprochen, führte zu verhaltenem Applaus. Man spürte selbst in der Fernsehübertragung, wie einer den anderen auf dem Petersplatz anschaute und fragte: Hast Du das verstanden? Auch als der neue Papst dann selbst nach vorne trat, mussten sich viele erstmal an dessen agile Erscheinung gewöhnen: Leo ist mit seinen 69 Jahren deutlich jünger als seine beiden Vorgänger Franziskus und Benedikt zum Zeitpunkt ihrer Wahl (76 beziehungsweise 78 Jahre).
Wer ist das also, dieser Robert Francis Prevost? Wofür steht er? Und wie hat er die Kardinäle in den letzten Tagen so für sich eingenommen, dass sie ihn bereits im vierten Wahlgang mit der nötigen Zweidrittelmehrheit ausstatteten? Zur Erinnerung: Das ging genauso schnell wie seinerzeit, als Joseph Ratzinger gewählt wurde – allerdings lag es in dessen Fall fast auf der Hand, dass es auf ihn zulaufen würde. Diesmal war es komplett anders.
Was genau rund um das Konklave passiert ist, wissen wir nicht. Womit Leo XIV. die Kardinäle in ihrer großen Mehrheit überzeugt hat, bleibt zumindest jetzt noch ein Geheimnis. Was ich aber benennen kann, ist das, was mich positiv stimmt. Ich finde es im Wesentlichen in Leos ersten Worten. Und die dürften sich nicht sehr von dem unterscheiden, was er im Vorkonklave und Konklave gesagt hat. Vor allem vier Aspekte stechen heraus:
„Der Friede sei mit euch allen!“ Der neue Papst begann seine Rede mit dem liturgischen Friedensgruß. Ganze zehn Mal verwendete er das Wort „Friede“, sprach zudem noch von „unbewaffnet“ und „entwaffnend“. Das ist mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl gegen alle Kriegstreiber auf der Welt – in Ost und in West.
Dass er als Amerikaner selbst der aktuellen US-Administration widerspricht, zeigte er erst vor wenigen Wochen. Da bezog er Stellung gegen den Vizepräsidenten, als dieser in der Migrationsdebatte die Bibel steinbruchartig einsetzen wollte, um einer Zweiklassengesellschaft das Wort zu reden. Ihm entgegnete Prevost: „JD Vance liegt falsch: Jesus fordert uns nicht auf, unsere Liebe zu anderen zu gewichten“.
„Das Böse wird nicht siegen!“ In eine unübersichtliche, zum Teil chaotische Welt hinein sprach Leo diese Hoffnungsbotschaft. Naiv? Nein, klar und deutlich brachte er zum Ausdruck, wovon er selbst überzeugt ist: „Gott liebt uns ... Wir sind alle in Gottes Händen.“
„Die Welt braucht das Licht Christi.“ Hier wurde die Rede zum Aufruf. Denn dieses Licht Christi muss auch in die Welt getragen werden. Damit sind die Gläubigen, wir alle, angesprochen. Wir sollen „Brücken bauen“, in den Dialog gehen, Nächstenliebe zeigen – und so eine „missionarische Kirche“ sein.
Gerade zum letzten Punkt sei ergänzt: Leo versucht hier offensichtlich schon begrifflich eine Neuakzentuierung. „Mission“ war in der Kirche zuletzt ein verbrannter Begriff. Inzwischen gilt das auch für die Rede von der „(Neu-)Evangelisierung“, die konservative Kreise oft einseitig ins Feld führten, um Strukturreformen abzutun. Kann hier ein bewusster, neuer Einsatz des Wortes „Mission“ einen neuen Aufbruch bedeuten? In der Sache scheint Leo jedenfalls an den Erfahrungen aus den wachsenden Kirchen in Asien, Afrika und (zum Teil) Lateinamerika nicht vorbeigehen zu wollen. Schließlich wirkte er etliche Jahre in Peru, bevor ihn Franziskus nach Rom holte.
„Lasst uns eine synodale Kirche sein!“ Damit wir Gläubigen missionarisch mit und in unserer Kirche leben können, muss diese Kirche genau so sein, wie sie Papst Franziskus aufgesetzt hat: synodal. Bei diesem Thema und auch mit der mehrfachen dankbaren Nennung seines Namens stellte sich Leo in die Spur seines Vorgängers. Das war nicht nur eine pflichtgeschuldete Ehrerbietung, sondern ein Bekenntnis: Hinter das Erreichte gehen wir nicht mehr zurück! Hier ist auch das Augustinuswort zu nennen, das Leo zitierte: „Mit euch bin ich ein Christ und für euch Bischof“. Lässt sich ein synodales Führungsverständnis besser auf den Punkt bringen?
Zugleich betonte Leo seinen Willen, sich um die Einheit der Kirche zu bemühen – das war ja gerade in den letzten Tagen immer wieder als Stellenprofil des neuen Papstes genannt worden. Die Brücken gilt es eben auch innerkirchlich zu bauen. Leo betonte hier immer wieder, dass man gemeinsam unterwegs sein müsse. Dies wird im Übrigen auch im Namen deutlich, den der neue Pontifex angenommen hat. Wie der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf erklärt, stand Leo XIII. – der letzte Leo vor dem jetzigen Papst – einerseits für durchaus traditionelle theologische Positionen; zugleich war er Ende des 19. Jahrhunderts der erste Papst, der sich sozialen Themen wie der Arbeiterfrage zuwandte (etwa mit der berühmten Enzyklika Rerum Novarum).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Jeder neue Papst setzt eine neue Dynamik frei, ist ein Stück weit ein Neuanfang zumindest für ein Kapitel Kirchengeschichte. Wie sehr das auch für die Kirche im deutschsprachigen Raum gilt, bleibt abzuwarten. Hier war man zuletzt ja recht enttäuscht von Franziskus, dass er die europäischen Themen nicht noch stärker zu seiner eigenen Agenda machte. Daran dürfte sich freilich erstmal nichts ändern.
Der neue Papst, seit 2023 Präfekt des Bischofs-Dikasteriums und somit gewissermaßen Personalchef, kennt die Kirche bestens. Das erklärt im Übrigen auch, warum sich die Kardinäle so schnell auf ihn einigen konnten: Sie mögen sich vor dem Konklave untereinander kaum gekannt haben, aber ihn kannten doch sehr viele.
Neben diesem 360-Grad-Blick liegt Leos besondere Expertise vor allem auf Lateinamerika beziehungsweise auf dem Verhältnis der Kirchen von Nord und Süd. Wird er – da er die Eigenheiten dieser Ortskirchen kennt – auch die besonderen Fragen anderer Ortskirchen sehen und dezentrale, regional verschiedene Wege ermöglichen? In jedem Fall ist deutlich: Der Fokus der 1,4 Milliarden Gläubige umfassenden römisch-katholischen Kirche wird weiter von Europa weggehen. Das ist per se nicht schlecht.