SelbstwahrnehmungKostbar und gefährdet

Gerade zu Beginn eines neuen Jahres ist es gut, sich die eigene Verletzlichkeit vor Augen zu führen.

An einem normalen Montagnachmittag öffnete ich die Tür unseres Mehrfamilienhauses, bahnte mir im Storchengang einen Weg durch die Paketstapel im Eingangsbereich und schaute im Vorbeigehen kurz nach, ob eine der Boxen für uns bestimmt war. Nirgends konnte ich den Namen unserer Familie entdecken, wohl aber den unserer hochschwangeren Nachbarin, der ich es selbstverständlich direkt vor die Tür bringen würde. Gerade wollte ich mir das Paket schnappen und schwungvoll unter meinen mit Einkäufen beladenen Arm klemmen, als mir ein Warnhinweis auf dem Karton ins Auge fiel. Neben der Adresse und dem Schriftzug eines bekannten Modeversandhauses prangte ein leuchtend rot-weißer Aufkleber mit der englischen Aufschrift Fragile. Handle with care („Zerbrechlich, mit Vorsicht behandeln!“) – und sofort veränderte sich mein Umgang mit der Fracht: Ich stellte meine Supermarkttaschen auf den Boden, griff das Paket behutsam mit beiden Händen, trug es vorsichtig in den zweiten Stock und legte es dort sacht auf die Fußmatte.

Später, als ich wieder am Schreibtisch saß, ging mir der Aufkleber nicht mehr aus dem Kopf. Welch einen großen Unterschied doch so ein kleines Etikett gemacht hatte! Wie gut und hilfreich wäre es doch für unser Leben, wenn auch wir Menschen ein solches „Vorsicht zerbrechlich!“-Etikett auf unserer Stirn trügen! Zum einen würde uns eine solche Markierung – gerade in Zeiten der permanenten Selbstoptimierung, des Strebens nach Macht und Stärke und eines regelrechten Unsterblichkeits-Wahns – daran erinnern, dass wir fragile und sterbliche Wesen sind, keine unkaputtbaren Maschinen. Wir sind nicht unbegrenzt körperlich und seelisch belastbar. Wir werden krank, wir erleiden Verletzungen, wir können zerbrechen, und eines nahen oder fernen Tages wird unser Leib wieder zum Staub zurückkehren.

Zum anderen wäre es eine Mahnung an uns, unserer Fragilität entsprechend behutsam und vorsichtig miteinander und mit uns selbst umzugehen. Denn wie leicht können im zwischenmenschlichen Leben Verletzungen, Risse und Brüche entstehen. Man denke an Zwietracht, Streit, Hassrede, aber auch an Missbrauch, Gewalt bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Gerade die Zerbrechlichkeit gilt es deshalb immer wieder aktiv ins Bewusstsein zu rufen, zu achten und zu würdigen!

Auch wenn Gott uns nicht mit einem deutlich sichtbaren rot-weißen Fragile-Etikett auf dem Körper geschaffen hat, so hat er uns doch gleich mehrere entsprechende „Warnhinweise“ für unseren Umgang miteinander und mit uns selbst zukommen lassen. Ein Blick in die Bibel genügt: Schon im Alten Testament, vor allem in den Psalmen, finden wir Erinnerungen an die Vergänglichkeit und Brüchigkeit unseres Daseins. Dies anzunehmen und zu respektieren, gilt als Ausdruck ausgesprochener Lebensweisheit: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90,12). Und bereits hier wird der diesseitigen Vergänglichkeit der Glaube an ein jenseitiges Leben bei Gott entgegengesetzt: „Denn Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht“ (Weish 2,23).

Am treffendsten bringt es jedoch Paulus ins Wort und auf den Punkt, der im zweiten Korintherbrief –auch mit Blick auf seine eigene leibliche Leidensgeschichte – seinen Glaubensgeschwistern ermutigend zuruft, dass Christus und mit ihm der göttliche Glanz „in unseren Herzen aufgeleuchtet“ ist. „Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen“ (2 Kor 4,6–7). Ja, wir sind fragile, irdene und leidende Wesen. Aber gerade das verbindet uns für Paulus auf besondere Weise mit dem Leiden des Menschensohns Jesus. Zugleich betont der Apostel, dass das zerbrechliche Gefäß unseres Leibes auch den kostbaren Abglanz des göttlichen Lichtes und damit eine unzerstörbare gottesebenbildliche Würde beherbergt. Untrennbar ist dies mit der Verheißung der Auferstehung von den Toten verbunden.

Gott hat uns in seinem unergründlichen Ratschluss so geschaffen, wie wir sind: menschlich und verwundbar. Aber er belässt es nicht dabei, in unserem Leiden sind wir nicht allein. Gott beauftragt uns, behutsam und vorsichtig miteinander, mit uns selbst und mit seiner ganzen guten Schöpfung umzugehen. Und er hilft uns, wenn wir doch einmal Risse erlitten haben oder gar zerbrochen sind, unsere Scherben wieder zusammenzufügen, unsere Bruchstellen zu vergolden (ähnlich der japanischen Kintsugi-Methode). Immer wieder aufs Neue lässt er in uns die Hoffnung wachsen, dass nach dem Ende unseres irdisch-körperlichen Daseins alle unsere Wunden, Schmerzen, Risse und alles Zerbrochene in seine Hände gebettet, geheilt und in Segen verwandelt werden.

Ob Sie es glauben oder nicht: Noch am selben Tag habe ich eine Rolle Fragile-Klebeband bestellt und erlaube mir seither, an turbulent-streitgefährdeten Tagen diese kleine Erinnerung an einem oder mehreren Familienmitgliedern zu befestigen – mit erstaunlichem Erfolg.

Manchmal, wenn ich körperlich oder seelisch an meine Grenzen stoße, stelle ich mich auch selbst vor unseren Spiegel und klebe mir den rot-weißen Aufkleber mitten auf die Stirn. So führe ich mir gut sichtbar vor Augen, dass ich keine dauerfunktionsfähige Maschine, sondern ein zerbrechliches und irdenes „Gefäß“ bin, das nur eine begrenzte Haltbarkeit und Aushaltefähigkeit besitzt, das aber zugleich eine der unzähligen Wohnstätten einer gottgeschenkten Würde und somit eine kostbare Fracht ist.

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