Zwischen Solidarität und EntstressenEntschleunigung – eine Sehnsucht mit Haken

Im Zeitalter des Burnout wird immer wieder der Ruf nach Entschleunigung laut, Entschleunigung sozusagen als Mittel gegen die Überforderung, gegen die Hektik des Alltags, gegen die Unruhe, die durch das Multitasking erzeugt wird, weil wir vieles gleichzeitig erledigen sollen oder müssen. Manchen gelingt das bis zu einem gewissen Grad. Aber irgendwann wird es dann doch zu viel.

Arbeitsplätze werden rationalisiert und reduziert, die verbleibenden Mitarbeiter müssen nicht selten noch mehr erbringen. Wenn dann die Belastung zu hoch wird, weicht der Körper in die Krankheit aus. Hier können wir noch die Schuld bei der materialistischen Ausrichtung unserer Gesellschaft suchen. Es zählen die wirtschaftliche Produktivität und das schnelle Geld, und die Wirtschaft wird auf den globalen Wettbewerb hinweisen. Der Mensch spielt eine untergeordnete Rolle, falls überhaupt. 

Erfindung der Langsamkeit 

Erfindung der Langsamkeit, lautet ein Slogan, der Ruf oder die Sehnsucht nach Entschleunigung wird laut. Darin schwingt ein gutes Quantum deutscher Romantik mit. Wir können nicht einfach langsamer arbeiten, langsamer gehen, uns nur auf eines konzentrieren und alles andere liegen lassen, alles schön der Reihe nach abarbeiten.

Wie oft kommt es vor, dass ein Pfarrer zu einem Sterbenden gerufen wird, dass ich als Abt plötzlich mit einem Personalproblem konfrontiert werde, dass einer mich dringend in einer Sache sprechen möchte. Persönliche Probleme von Mitbrüdern können nicht warten, sie müssen gleich, spätestens morgen angegangen werden. Wenn ich dann abends auf meine Liste schaue, was ich alles hätte tun wollen oder sollen, dann merke ich frustriert, dass vieles unerledigt geblieben ist. Bei diesem Frust vergesse ich dann allzu leicht, dass ich in der Tat Sinnvolles getan habe. Es war wichtiger als das, was ich mir vorgenommen hatte. Wenn einer nach einer Stunde aus meinem Zimmer gegangen ist und die Lösung für sein Problem gefunden hat, so freut mich das. Das ist etwas anderes als vertane Zeit, als Trödeln, das mitunter auch aufkommt, wenn ich nicht mehr weiß, wohin ich zuerst greifen soll. Ich muss also am Abend wieder neu sortieren. Vielleicht hat sich das eine oder andere von selbst erledigt, oder ich kann es doch delegieren. 

Überlastung in der Seelsorge 

In der Seelsorge laufen wir Gefahr, uns zuviel aufbürden zu lassen. Ich erhalte sehr viele Anfragen für Vorträge. Manche bohren schon seit zwei oder drei Jahren nach. Dann packt mich das Mitleid und ich gebe nach. Immer wieder tritt die Frage auf: Habe ich dann nicht ein Publikum vor mir, das sonst wenig von christlichen Werten erfährt und wohl kaum am Sonntag unter der Kanzel zu finden ist? Und in der Summe ist es schließlich zu viel, und für die regulären Alltagsarbeiten, die eben auch wichtig sind, bleibt dann zu wenig Zeit.

Entschleunigen - bedeutet das, dass wir einfach wie beim Auto einen oder zwei Gänge herunterschalten? Wem soll es dienen? Damit der Seelsorger nicht ausbrennt? Soll er langsamer treten, wie man das Leuten mit zunehmendem Alter sagt? Sich schonen, heißt es oft. 

Der Mensch ist kein Single 

All das überzeugt mich nicht so recht. Ich soll und möchte mal wieder zu mir selber kommen. Aber wer bin ich? Ich kann das Individuum abstrakt, ontologisch definieren. Vielleicht auch christlich: als Geschöpf Gottes, das auf Erden seiner Berufung nachgeht, um später einmal ganz in der Herrlichkeit Gottes zu leben, als ein von Christus erlöster Mensch.

Ich sehe den Menschen aber konkreter, und da kann ich ihn nicht als Single definieren, wie es die ontologische Sichtweise tut. Jean Paul Sartre hat es in dieser Weise getan: der Mensch, der sich selbst behaupten muss. Martin Buber aber hat gezeigt, dass der Mensch sich erst durch das Du definiert, erst durch das Du zum Ich wird. Ich möchte einen Schritt darüber hinausgehen: Der Mensch ist ein soziales Wesen, auf Gemeinschaft hin veranlagt, nicht nur auf das Du, sondern auf die vielen Menschen, denen ich begegne, die mich fordern.

Ich kann mich daher nicht einfach zurückziehen, den andern entziehen. Wir müssen unser gesamtes menschliches Umfeld berücksichtigen und darin einen Weg finden. Und in der Tat wir müssen es; denn ein gelassener Seelsorger, einer, der Ruhe ausstrahlt, wird der ganzen Gemeinde gut tun und sie wirklich führen können. Ein gehetzter Seelsorger wird die ganze Gemeinde in Unruhe versetzen. Auch für den Abt eines Klosters gilt es, zur Ruhe zu kommen. Der heilige Benedikt gibt dem Abt die Anweisung: „Er sei nicht stürmisch und nicht ängstlich, nicht maßlos und nicht engstirnig, nicht eifersüchtig und allzu argwöhnisch, sonst kommt er nie zur Ruhe.“ (Regel 64,16) 

Sich in Gemeinschaft begeben 

Gehen wir davon aus, dass das Arbeitsquantum nicht einfach zurückzuschrauben ist, dann müssen wir einen andern Weg suchen, den der allgemein im Management gilt: Vision, Strategie, die einzelnen Schritte festlegen und dabei auf Prioritäten achten. Wir brauchen aber auch das Bewusstsein, dass niemand und nichts auf der Erde vollkommen ist. Wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, eine ideale Lösung zu finden. Perfektionismus treibt uns in die Unruhe.

Wir müssen lernen, nicht nur zu delegieren, sondern die andern in unser Wirken und unsere Aufgaben mit einzubinden. Nicht der Pfarrer ist die Pfarrei, sondern die ganze Gemeinde. Er soll führen, ist aber selbst ein Mitglied. Mit anderen zu sein, statt für andere zu sein. Für andere sind wir am besten da, wenn wir mit ihnen sind. So werden wir auch von den anderen mitgetragen und dürfen uns mittragen lassen. Entschleunigung ist dann nicht mehr nur eine Frage des Seelsorgers, sondern aller, für die und mit denen er da ist. Es geht nicht mehr nur um die Arbeit, sondern um das Leben der Gemeinschaft. Wenn wir ihr Zeit schenken, lösen sich so manche Probleme von selbst oder kommen erst gar nicht auf. Wir reden viel zu wenig miteinander. 

Souveränität über sich selbst 

Im Übrigen: Wer treibt uns? Wer hat das Recht uns zu treiben? Letztlich sind wir immer noch selbst verantwortlich, und vieles hängt an unserem Charakter, ob wir souverän über uns selbst sind, uns lösen können von Machtgelüsten, von Geltungsbedürfnis und Konsumzwang. Da tut es nun wirklich gut, sich immer wieder Zeit zu nehmen und zurückzulehnen, zu fragen, ob das alles einen Sinn macht? Wir haben zwar Verantwortung übernommen, aber letztlich sind es wir, die sie gestalten. Auch da kann freilich oft ein Freund gut tun, mit dem wir über solche Dinge offen reden können. Wir müssen nicht alles allein bewältigen.

Kein Selbstmitleid 

Wenn wir nur allein dasitzen, verfallen wir leicht in ein Selbstmitleid, eine Krankheit unserer Zeit. Es gibt nicht nur den wirklichen Stress, sondern auch den gefühlten. Manche halten mehr aus als andere. Glücklich, wer in seiner Familie eine gute Belastbarkeit mitbekommen hat! Sie gehört zum vorgegebenen oder gewachsenen Charakter. Oft sind es andere, die einem sagen: „Du hältst das nicht lange aus, Du bekommst einen Herzinfarkt, einen Zusammenbruch.“ Sie schließen von sich auf andere. Es kann einige psychische Kraft kosten, ständig gegen die negative Suggestion von außen aufkommen zu müssen. Es wäre hingegen wünschenswert, mehr Ermunterung zu erhalten: „Komm, das schaffst Du. Nimm es nicht so tragisch.“ Dass mir jemand etwas zumutet und zutraut, schafft Freude und Anerkennung. Der Stress wird gemindert, wenn nicht gar genommen.

Ora et labora 

Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, nach vernünftigen Wegen zu suchen, die uns noch atmen lassen. Uns Mönchen hat der heilige Benedikt einen solchen vorgegeben. Unser Tageslauf kennt eine feste Ordnung, die Balance von Gebet, Arbeit und Lesung. Wenn ich mitten in der Arbeit bin, dann ist es nicht einfach, alles liegen und stehen zu lassen, wenn die Glocke zur abendlichen Vesper ruft. Wenn ich dann aber im Chor stehe und mit den Brüdern das Gotteslob singe, fällt der Stress ab. Gott ist wichtiger als alles andere und die Zeit für Gott, habe ich gemerkt, ist auch zu meiner Zeit geworden. „Tagzeitenbuch“ oder „Stundengebet“ heißt das Brevier. Den Tag in das Gebet einzubetten, wenigstens am Morgen und am Abend, das sind Pflöcke gegen das ständige Getrieben- Werden. Es sind Markierungen und Angelpunkte, an denen ich auch auf Reisen festhalte. Sie geben Kraft zu neuer Arbeit. Ich bleibe verankert. Das Tun bekommt aus dem Blickwinkel Gottes seinen tieferen Sinn. Sich selbst, die Welt wieder zu Gott bringen, ist wohl der beste Weg einer Entschleunigung. 

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