Zur Relevanz kirchlicher BasisgemeinschaftenKirche umgekehrt denken

Im Herbst 2011 haben Vertreter der Diözesen Linz, Magdeburg und Hildesheim sich zu einem gemeinsamen Treffen auf der Huysburg versammelt, um über die gemeinsam bewegende Frage nachzudenken, wie in Zukunft Verantwortungsstrukturen in örtlichen Gemeinden entwickelt werden können, bei denen Teams von getauften Christinnen und Christen vor Ort „Leitungsteams“ werden.

Es war ein bewegendes Treffen, und es machte Mut und Lust auf mehr Experimente; - allerdings wurde auch ein fundamentaler Unterschied im Denken und auch Handeln deutlich, der etwas von der Herausforderung der Umgestaltung kirchlicher Bilder sagt: Während die deutschsprachigen Bistümer diese Frage im Blick auf eine umfassende Restrukturierung lösen wollten, brachten unsere französischen Gäste einen „umgekehrten“ Blick mit: Es ging ihnen zuerst und vor allem um die Frage, wie die Getauften an einem Ort ihr Christsein leben und gestalten können - erst im Blick darauf werden dann Strukturen relevant: Sie dienen der ersten Notwendigkeit, die Tauf würde und das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen in seiner Fülle zu entfalten. Wo dies geschieht, geschieht Ekklesiogenese, wächst und wird Kirche, wachsen örtliche Gemeinden im Gefüge einer Pfarrei oder eines pastoralen Raumes - und wird deutlich, dass die weltkirchliche Erfahrung der örtlichen Gemeinden oder auch kirchlicher Basisgemeinschaften gerade für unsere Prozesse einer kirchlichen Erneuerung eine große Relevanz hat. 

Kirchliche Basisgemeinschaften - Frucht einer authentischen Konzilsrezeption

Angesichts der völlig anderen kirchlichen Situationen in Lateinamerika und Afrika, später auch in Asien, konnten die Bischöfe wahrscheinlich unvoreingenommener Erkenntnisse des Konzils rezipieren. Angesichts der weitaus (bis heute) geringeren Anzahl von Priestern und einer deutlich geringeren Ausstattung an Mitarbeitern und Ressourcen wurde diesen Bischöfen schnell deutlich, dass die kontinentalen Kirchen nicht einfach den klassischen europäischen Typ einer Versorgungspastoral imitieren konnten: In den Mittelpunkt rückte vielmehr die Frage, wie dort, wo die Christen leben, kirchliches Leben ermöglicht werden kann. 

Auf diesem Hintergrund gewannen die Erkenntnisse des II. Vatikanischen Konzils eine neue Relevanz: Das Kirchenverständnis des II. Vatikanischen Konzils nahm seinen Ausgang von dem Gedanken einer Teilhabe der Getauften am trinitarischen Leben Gottes selbst - als Volk Gottes auf dem Weg. Die ökumenisch motivierte und patristisch gegründete Neuinterpretation des gemeinsamen Priestertums aller Getauften führte zu der Einsicht, dass Taufwürde und Ekklesiogenesis zusammengehen. 

Die eigentliche Frage war nun, wie in größeren Pfarreien und pastoralen Räumen ermöglicht werden könnte, dass Christen aus der Kraft ihrer Taufe miteinander Kirche gestalten könnten - und welches der Dienst ist, den Priester und Mitarbeiter am Wachsen dieser Wirklichkeit leisten können. 

Das führte zu einem neuen Blick auf das Verhältnis von örtlichen Gemeinden und der sakramentalen Struktur der Kirche, wie sie sich in Pfarreien und ortskirchlich in Diözesen zeigt: Es ging jetzt darum, den Gläubigen an ihrem Ort einen Zugang zum Evangelium zu erschließen, der ihnen ihre eigene Würde, ihre Berufung und ihr Charisma gibt. So entstanden seit dem Ende der 60er Jahre Formen des Umgangs mit der Schrift, die den Christen vor Ort Wege für ein Leben aus der Schrift erschlossen: Die lectura popular der Schrift, wie sie in Lateinamerika eingeübt wurde, vor allem aber auch die verschiedenen Wege des „Gospelsharing“, die Oswald Hirmer in Südafrika entwickelte, führten zu einem neuen Selbstverständnis der Getauften. 

Kirche vor Ort, so wurde deutlich in diesen ersten Entwicklungen, ist keine statische Vorfindlichkeit, sondern ist Frucht eines geistlich geprägten Entwicklungsprozesses, der zur Subjektwerdung der Getauften und zur Entwicklung ihrer Charismen führt. Als Oswald Hirmer, der ursprünglich lediglich für das Bibelapostolat in Südafrika zuständig war, gemeinsam mit Fritz Lobinger entdeckte, dass „Gospelsharing“ im Zusammenhang steht mit der Entwicklung von „Small christian comunities“, da wurde klar, dass der gemeinschaftliche Umgang mit der Schrift nicht eben ein spiritueller Weg ist, der in kleinen Gruppen, gewissermaßen für Spirituell-Musikalische, gepflegt wird, sondern ein Weg der Kirchenentwicklung ist, der alle Getauften in ihrer persönlichen Sendung stärkt und diese erst hervorbringt. Bibelteilen geht zusammen mit „Dienste-teilen“: Alles, was vor Ort getan werden kann durch die Gaben der Getauften, dies soll auch dort getan werden. 

Wie eine kirchliche Basisgemeinde funktioniert 

Wir sind in Musong - 50 km in den Bergen im Bistum Aliwal North. Ein kleiner Ort, der zuständige Pfarrer kommt etwa alle zwei bis drei Wochen vorbei. Aber Musong lebt nicht aus einer Perspektive der Versorgung: Wir erleben die Christen von Musong als sehr selbstbewusst, als „bold“ (kühn): Wir erleben, wie sie miteinander das Wort Gottes hören und teilen, wie sie sich um die sozialen Fragen kümmern, vor allem um die desaströsen Verhältnisse an den Schulen. Und dann bezeugen sie auf einer „Wortprozession“ durch ihr gemischt konfessionelles Dorf: Alle 500 Meter hält die singende und betende Prozession an, und einer der Dorfbewohner erzählt von seinem Leben aus der Kraft der Schrift. Und noch mehr: Katechese und Beerdigungs- und Trauerdienst, Chor und Tanz selbstverständlich, die Vorbereitung von Sakramenten - all dies liegt selbstverständlich in der Hand von geschulten Teams. 

Führt dies hin zu einer „Verfreikirchlichung“? Wird die Eucharistiefeier noch wichtig sein? Wir erleben dies alles nicht, sondern das Kommen des Pfarrers und die Möglichkeit der Eucharistiefeier gerät zu einem großen Fest. 

Schon vorher hatten wir mit Bischof Michael Wüstenberg sprechen können. „Denkt bloss nicht, dass dann ein Pfarrer nichts mehr zu tun hätte ... Er hat andere Dinge zu tun, das ist klar ...“ Eine Kirchenentwicklung als Förderung örtlicher Gemeinden fordert ein neues Verständnis der leitenden Verantwortung: Oswald Hirmer hat diese Rolle einmal so beschrieben: An den afrikanischen Lagerfeuern gibt es jemanden, der das Feuer immer wieder anblasen muss - das ist die Aufgabe des Dienstes der Leitung. Zwei weitere Begriffe geben gut wieder, was gemeint ist. Es geht um „enabler“ und „faciliatators“: Der sakramentale Dienst der Leitung besteht darin, den Getauften zu ermöglichen, ihre Dienste und Aufgaben zu erfüllen, Kompetenzen zu entfalten und dafür zu sorgen, dass eine „sich selbst tragende Gemeinschaft“ wächst, die in einem „paroikalen Netzwerk“ ihren Beitrag einbringt. Der Pastoralrat der Pfarrgemeinde besteht aus den Delegierten der verschiedenen örtlichen Gemeinden, die hier „Small Christian Communities“ heißen. 

Partizipation ekklesiopraktisch 

„Es geht uns nicht um Partizipation, es geht uns um die größtmögliche Partizipation“. Die das sagen, sind Marc Lesage und Estela Padilla, die in Manila mit einem Team das Pastoralinstitut „Bukal Ng Tipan“ („Quelle des Bundes“) aufgebaut haben. Partizipation verstehen sie als Ausdruck der Taufwürde, die bei den von ihnen gestalteten kirchlichen Entwicklungsprozessen wesentlich ist. Es ist ja nicht nur so, dass auf diese Weise ein gemeinsamer und mitgetragener Entwicklungsprozess möglich wird - es geht um mehr: Es liegt in der Tiefe des Kirchenverständnisses, dass hier Partizipation als ekklesiopraktische Grundhaltung verstanden wird: Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen will sich im visionären Entwicklungsweg der Ortskirche entfalten. Ja, von vornherein ist klar, dass ein solcher Prozess die gesamte Ortskirche betrifft. Kirchenentwicklung ist kein „bottom up“ Prozess, sondern findet seinen Ausgangspunkt in einem teambildenden Visionsprozess des Presbyteriums mit dem Bischof. Ich durfte das konkret erleben in Iloilo und in Bakolod, zwei Diözesen in den Vizaias auf den Philippinen. In Bakolod erlebte ich den Anfang eines solchen Prozesses: Gemeinsam mit den Priestern seines Bistums hat sich der Bischof auf geistliche Tage im Blick auf eine zukünftige Kirchenentwicklung eingelassen: Welche Hoffnungen und welche Trauer bewegt uns im Presbyterium und in der Ortskirche? Wo stehen wir in der Kirchenentwicklung? Welcher Leitungsstil ist angebracht? Wie leiten wir als Team? Welche Merkmale hat eine lokale Kirchenentwicklung? Wie kann das ganze ein geistlicher Prozess sein? Dies ist der erste Schritt: Partizipation und Communio können nicht Stil der pastoralen Entwicklungslogik vor Ort sein, wenn dies nicht auch eine lebendige Wirklichkeit des Presbyteriums wird. 

In Iloilo erlebe ich dann, was geschehen wird, wenn eine solche Überlegung in einen visionären Prozess eingespeist wird, der auf dem „grasroot-level“ funktionieren kann: Welche pastorale Vision und welche Optionen der Pastoral entwickelt werden, wird in einem einjährigen Prozess gestaltet, bei dem in der Tat der Versuch geschieht, möglichst viele Christen (jede zehnte Familie) einzubeziehen. Dieser staunenswerte Prozess hat dann aber eben jene Vorgeschichte, in die schon Bischof und Presbyterium einbezogen wurden: Es ist ihr Prozess, wie es durch die Weise der möglichst umfassenden Visionsbefragung auch „Sache der Christen“ wird, fast ein synodaler Prozess, der nicht nur zu klaren pastoralen Optionen führt, die gemeinsam getragen werden, sondern auch zu Aufträgen, diese Optionen auch binnen eines Jahres prozesshaft umzusetzen. 

Und wo sind hier die kirchlichen Basisgemeinschaften? Dort, wo Pfarreien zumeist 20-40.000 Christen umfassen, ist klar, dass Kirche sich partizipativ und lebensräumlich gestaltet und damit ortsnah wachsen wird, eben beziehungsorientiert angelegt wird. Und das geschieht eben wie von selbst in lokalen Gemeinschaften: Nachbarschaft und Lebensraumorientierung ermöglichen die Entdeckung der jeweils lokalen Priorität und Sendung, ohne dass dies dazu führt, dass die Gemeinschaft sich autonomisiert oder atomisiert. Im Gegenteil: jeden Monat werden die Verantwortlichen der kirchlichen Orte zu einer gemeinsamen Fortbildung eingeladen, damit die kirchliche Entwicklung eingebunden ist in die Spur des Evangeliums. Zu erleben, wie die Männer und Frauen sich auf das Evangelium sendungsorientiert einlassen, und dann zu erleben, mit welcher Lebendigkeit das kirchliche Leben dann in den Stadtteilen und Dörfern stattfindet, zu der der Pfarrer einmal im Monat kommen kann, der staunt angesichts der europäischen Mangelrhetorik: Nein, Kirche verschwindet nicht, sondern kann sogar wachsen, wenn äußerliche Rahmendaten sich weltkirchlich angleichen. 

Kirchenentwicklung mit Vision 

Die Erfahrungsberichte machten schon deutlich, wie relevant eine solche weltkirchliche Kirchenentwicklung auch für unseren Kulturraum sein kann. Dabei wurde auch deutlich, dass die Frage nach kirchlichen Basisgemeinschaften und die Frage örtlicher Verantwortlichkeit nicht im Sinne von „pastoralen Schnittblumen“ einfach aus dem Süden übertragen werden können, vielmehr zeigen sich die Konstitution von örtlichen Gemeinden auf dem Grund der ekklesiokreativen Potenz des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen und die Bildung örtlicher Verantwortlichkeit als Spitzen eines Eisbergs: Unter Wasser verbirgt sich ein Prozess des Paradigmenwechsels einer kirchlichen Kultur. 

Das hat hohe Relevanz für kirchliche Entwicklungen hierzulande: es geht nicht darum, die Kirche in den Strukturprozessen winterfest zu machen für Zeiten der Priesterarmut oder gar für die vermeintliche Armut an Glaubenden - es geht um eine andere Perspektive: Vor uns liegt ein geistlich zu prägender Kirchenentwicklungsprozess, der die Taufwürde und das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ins Licht rückt, ins Spiel bringt und seine kreativen Potentialitäten auslotet. Ein solcher Prozess beginnt aber nur dann verheißungsvoll, wenn die zugrundeliegende Kultur der geistgeprägten Partizipation Sache des Bischofs und seines Presbyteriums und aller Mitarbeiter wird. Dort, wo die Option zu einer solchen Entwicklung, gemeinsam mitgetragen und gestaltet wird, ist sie nachhaltig und fruchtbar. Sie ändert ja auch die Konfiguration des priesterlichen Dienstes und der Aufgaben der Hauptberuflichen - setzt also auch hier längere Bewusstwerdungsprozesse frei, die sicher eine geistliche Umkehr bei allen Beteiligten voraussetzen. Dass dabei neue Formen des Kircheseins entstehen, kann heute schon in größeren pastoralen Räumen strukturell wahrgenommen werden - es entsteht ein „Netzwerk bunter kirchlicher Orte“, das zu einer neuen beziehungsraumorientierten Kirchenlandschaft im Ganzen der Ortskirche und ihrer Strukturen führt: Kirchliche Basisgemeinden auf europäisch werden das Ergebnis solcher Wege sein. 

Grundwährung Vertrauen 

Solche partizipativen Prozesse fordern eine Kultur des Vertrauens, des geistlichen Unterscheidens und des Wissens um das pneumatische semper reformanda, das der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle in einem Hirtenbrief 2011 programmatisch formuliert hat: 

„Wie geht es weiter? Schnell können unsere Überlegungen wieder dazu verführen, ehrgeizige Pläne, Konzepte und Programme zu entwerfen. Aber nicht wir gestalten die Kirche; der Geist Gottes gestaltet die Kirche - in uns und durch uns. Auf ihn zu hören und ihm zu vertrauen, ist entscheidend für das zukünftige kirchliche Leben. 

Hinzu kommt: Gott zu vertrauen ist die Grundlage dafür, auch einander vertrauen zu können. Dieses Vertrauen möchte ich ihnen meinerseits ausdrücklich zusichern, wenn Sie an ihrem Ort die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung beginnen ... Zugleich bitte ich Sie um ihr Vertrauen für mich und für diejenigen, die mit mir zusammen für das Bistum Verantwortung tragen. Wenn ich an bestimmten Stellen Vorgaben für die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung machen werde, dann tue ich dies, um nach dem Maßstab des Evangeliums Orientierung zu geben. Wir werden lernen müssen, das Vertrauen zueinander zu intensivieren. Wo eine einhellige Sichtweise nicht sofort gefunden werden kann, werden wir noch besser als bisher aufeinander hören müssen. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Denn gemeinsam leitet uns die Frage: Welchen Weg führt uns Gott in die Zukunft?“

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