Michel Henry und die Dekonstruktion der "Metaphysik der Vorstellung"Zum Verhältnis von Lebensphänomenologie und Postmoderne

Mit Radikalität meinte Edmund Husserl, der Begründer der klassischen Phänomenologie, die Selbstbesinnung der phänomenologischen Methode auf einen absolut gewissen Anfang des Erkennens hin, der von keiner unausgewiesenen Voraussetzung mehr abhängig ist. Was Husserl im immanenten Bewusstseinsleben des reinen Ego als einen solch apodiktischen Ursprung zu finden glaubte,1 wurde von der nachfolgenden Phänomenologie bei Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida und Emmanuel Levinas auf unterschiedliche Weise infrage gestellt.

Zusammenfassung / Summary

In his early magnum opus, The Essence of Manifestation, Michel Henry (1922–2002) proposes both a phenomenological and deconstructive analysis of the Western philosophical tradition as grounded in a methodological monism that makes the distance of transcendence a condition for every manifestation. Since postmodern thought is articulated around the idea of a difference as retrospection, which does not allow for any meaning to be self-identical, the task pursued here is twofold: first, to compare Henry’s critique of the “metaphysics of representation” with postmodern thought, and thereby to investigate the possibility of a new and radical approach to appearing that takes into account the non-appearing and “invisible” as absolute life (God) or corporeality (flesh). In this perspective the concepts of transcendence and difference are put into contrast with the immanent self-givenness of impressions, an approach developed throughout Henry’s oeuvre under the heading of auto-affection as desire and action, along with its applications for the subjective-communal dimension in culture, the economy, the unconscious, etc. Second, and since postmodernism puts new emphasis on expenditure (Bataille), intensity (Deleuze) or aesthetics as care of the self (Foucault), the purpose is to take into account the partial affinity between Henry’s phenomenology of life and deconstruction in order to apply this connection to current debates concerning the redefinition of reason as well as to its cultural meaning.

In seinem frühen Hauptwerk Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens bietet Michel Henry (1922–2002) eine phänomenologisch-dekonstruktive Analyse der abendländischen Philosophietradition, die auf einem methodischen Monismus der Transzendenz als Distanz der Sichtbarmachung alles sich Zeigenden beruht. Da das postmoderne Denken seinerseits der Differenz als Nachträglichkeit folgt, die keinerlei Identitätsaussagen über Sinn mehr zulässt, wird einerseits untersucht, inwieweit die Henry’sche Kritik an einer „Metaphysik der Vorstellung“ sich mit dieser Sichtweise trifft, um ein neues radikales Denken des Erscheinens zu ermöglichen, welches auch dem Nicht-Erscheinenden oder „Unsichtbaren“ als absolutem Leben (Gott) oder Leiblichkeit (Fleisch) gerecht wird. Dazu wird im Vergleich mit dem Differenz- oder Tranzendenzpostulat die unmittelbare Selbstgebung einer impressionalen Immanenz entfaltet, wie sie durch das gesamte Werk Henrys hindurch für die Selbstaffektion als Begehren und Handeln maßgeblich ist, um alle subjektiv-gemeinschaftlichen Bereiche wie Ökonomie, Kultur, Unbewusstes etc. zu beleuchten. Da die Postmoderne der Verausgabung (Bataille), Intensität (Deleuze) oder Ästhetik als „Selbstsorge“ (Foucault) ebenfalls einen neuen Stellenwert beimisst, ergibt sich eine gewisse Affinität zwischen Lebensphänomenologie und Dekonstruktion, um die gegenwärtigen Debatten für einen revidierten Vernunftbegriff kulturell fruchtbar zu machen.

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