Entleerung des AutonomieprinzipsZum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über Suizidassistenz

Das Bundesverfassungsgericht verleiht in seinem Urteil vom Februar dieses Jahres der Selbsttötung „grundrechtliche Qualität“, und zwar unabhängig vom konkreten Leidensdruck des betreffenden Menschen. Damit schwächt es nicht nur den Stellenwert des Rechts auf Leben, sondern leistet auch Missverständnissen des Autonomieverständnisses Vorschub. Heiner Bielefeldt ist Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg.

Todesfälle infolge professioneller Suizidassistenz oder ärztlich durchgeführter Tötung auf Verlangen haben in den letzten Jahren anscheinend überall dort, wo solche Maßnahmen straffrei möglich sind, rapide zugenommen. Diesen Befund referiert das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 zum geschäftsmäßig assistierten Suizid.1 Das Gericht sieht hier durchaus Gefahren. Vor allem ältere Menschen könnten sich unter Druck gesetzt fühlen, von den Möglichkeiten professioneller Suizidassistenz Gebrauch zu machen, um ihren Angehörigen und der Gesellschaft nicht länger zur Last zu fallen. Das Bundesverfassungsgericht zitiert Belege, die deutlich machen, dass diese Gefahr nicht nur hypothetisch besteht.

In den Niederlanden, so referiert das Gericht, würden Suizidassistenz und aktive Sterbehilfe mittlerweile in Alters- und Pflegeheimen offen angeboten. In den Grenzregionen seien manche Bewohner solcher Heime deshalb zu deutschen Einrichtungen ausgewichen, um dem mit den Angeboten einhergehenden Erwartungsdruck auszuweichen.2 Ganz unverhohlen zeigen sich ökonomisch-utilitaristische Motive im US-Staat Oregon. Nach den im Urteil angeführten Expertenberichten „greife bereits ein Wirtschaftlichkeitsgebot, das bei terminalen Erkrankungen die Kostenübernahme für bestimmte medizinische Therapien ausschließe, demgegenüber aber die Erstattung der Ausgaben für einen assistierten Suizid vorsehe“3.

Das Bundesverfassungsgericht sieht den Staat deshalb in der Pflicht, Menschen vor sozialer Pression, aber auch vor eigenen Kurzschlusshandlungen angemessen zu schützen. Mit seinem Urteil zur geschäftsmäßigen Suizidassistenz stellt das Gericht dem Gesetzgeber für entsprechende Präventionsmaßnahmen jedoch neue Hürden auf. Die Pointe des Urteils besteht nämlich darin, dass bei allen etwaigen staatlichen Maßnahmen die Freiheit zum Suizid – einschließlich der Möglichkeit, dafür professionelle Assistenz in Anspruch zu nehmen – gewahrt bleiben müsse. Mehr noch: Das Gericht verleiht der Selbsttötung aus freiem Entschluss grundrechtliche Qualität – mit der Konsequenz, dass staatliche Maßnahmen der Suizidprävention fortan als Grundrechtseingriffe gelten, für die rechtfertigende Gründe angeführt werden müssen. Im Blick auf den zur Entscheidung anstehenden Paragraphen 217 StGB, der die geschäftsmäßige Suizidassistenz unter Strafe gestellt hat, erachtet das Gericht die vom Gesetzgeber vorgebrachten Begründungen für das Verbot als nicht ausreichend, weshalb es das Gesetz für null und nichtig erklärt.

Das vom Bundesverfassungsgericht postulierte Grundrecht zum Suizid, abgeleitet aus der allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit der Menschenwürde, wird keineswegs für Situationen schweren Leidens, beispielsweise unheilbare Erkrankung oder die finale Lebensphase reserviert, sondern vorbehaltslos in das freie Ermessen des Einzelnen gestellt. Das Recht zur Selbsttötung, so heißt es im Urteil unzweideutig, sei „nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt“, sondern bestehe „in jeder Phase menschlicher Existenz“4. Hinzu kommt die Klarstellung, dass sich die Entscheidung zum Suizid, sofern sie ohne äußeren Druck und ohne pathologische Trübung erfolge, jeglicher Bewertung seitens der Rechtsgemeinschaft entziehe; das Einzige, was diesbezüglich zähle, sei der Wille des betreffenden Individuums. In solcher Deutlichkeit ist dies neu. Das Urteil ist deshalb von manchen Kommentatoren als Manifest individueller Freiheit geradezu hymnisch gefeiert worden. Auf der anderen Seite stehen Bedenken, dass das Gericht mit dem Menschenrecht auf Leben allzu leichtfertig verfährt.

Die Berufung auf Autonomie

Der zentrale Begriff, auf den sich das Bundesverfassungsgericht stützt, ist der Begriff der Autonomie. Menschenwürde und Autonomie werden im Urteil systematisch miteinander verklammert. Die gebotene Achtung der Menschenwürde besteht, wie das Gericht betont, gerade darin, den Menschen als Subjekt freier Selbstbestimmung zu respektieren. Natürlich gilt die Freiheit des Einzelnen nicht schrankenlos; sie findet ihre Schranken im Kollisionsfall an der Freiheit anderer – dies ist unumstritten. Eine über solche äußeren Schrankenziehungen hinausgehende Bewertung des individuellen Freiheitsgebrauchs lehnt das Gericht aber als illegitime Bevormundung dezidiert ab: „Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht (…).“5

Diese Absage des Gerichts an jedwede normativen Maßstäbe, anhand derer sich ggf. eine individuelle Präferenz zur Selbsttötung kritisch infrage stellen ließe, schließt ausdrücklich die Menschenwürde mit ein. Auch die Berufung auf die Menschenwürde dürfe nicht als Argument dafür herhalten, freie Entscheidungen zugunsten eines Suizids normativ zu problematisieren. Das Gericht positioniert sich damit klar gegen einen im Urteilstext referierten Einwand, wonach die „zielgerichtete Vernichtung des eigenen Lebens“ kein sinnvoller Ausdruck grundrechtlich geschützter Persönlichkeitsentfaltung sein könne, weil der Mensch sich damit „der vitalen Basis der Menschenwürde beraube“6. Dieser Einwand wird vom Gericht – im Zwar-Aber-Gestus – knapp zurückgewiesen: „Zwar ist das Leben die vitale Basis der Menschenwürde (…). Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine auf einen freien Willen zurückgehende Selbsttötung der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde widerspräche. Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen.“7 Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein.

„Unveräußerlichkeit“ der Freiheit?
Der blinde Fleck des Urteils

Mit der Berufung auf die Autonomie steht das Gericht zunächst in der Tradition seiner bisherigen liberalen, freiheitsfördernden Rechtsprechung. Der Autonomiebegriff, historisch vor allem von der Philosophie Immanuel Kants geprägt, eröffnet eine dezidiert freiheitliche Lesart der Menschenwürde. Würde und Autonomie des Menschen verweisen demnach aufeinander. Als einem sittlich autonomen Subjekt kommt dem Menschen, und zwar jedem Menschen gleichermaßen, eine Würde zu, die „über jeden Preis erhaben“ ist,8 wie Kant betont, die sich also nicht mit anderen gesellschaftlichen „Werten“ oder Interessen verrechnen lässt. Es ist die Aufgabe der Rechtsordnung, dem moralisch gebotenen Respekt vor der Würde des Menschen dadurch institutionellen Rückhalt zu geben, dass sie jedem Menschen seine grundlegenden Freiheitsrechte garantiert; auf diese Weise gewinnt die Rechtsordnung die Qualität einer in der Menschenwürde zentrierten rechtlichen Freiheitsordnung. Wer die so verstandene Idee der Autonomie ernst nimmt, wird deshalb allen staatlichen Versuchen, die Freiheitsrechte über moralisierende Auflagen zurechtzustutzen oder zurückzunehmen, eine klare Absage erteilen (Dass die individuelle Handlungsfreiheit an der gleichen Freiheit anderer ihre äußeren Schranken finden muss, steht auf einem anderen Blatt und bleibt unbenommen.)

Nun handelt es sich bei der Selbsttötung, sofern sie denn wirklich aus freiem Entschluss – also ohne Druck von außen und ohne pathologische Trübungen – erfolgt, um einen sehr speziellen Akt des Freiheitsgebrauchs, nämlich um einen Akt, mit dem jeder künftige Freiheitsgebrauch absichtlich und unwiderruflich negiert wird. Über die Legitimität einer solchen Handlung lässt sich deshalb auch dann trefflich streiten, wenn man paternalistische Bevormundung von Staats wegen ansonsten strikt ablehnt. Geht die Freiheit tatsächlich so weit, dass sich der Mensch in einem ultimativen Willensakt als Subjekt der Freiheit – wohlgemerkt: ohne Not! – selbst zerstören kann? Die Antwort des Bundesverfassungsgerichts ist ein klares Ja. Wie dargestellt, sieht das Gericht im freien Entschluss zur Selbsttötung eine verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechtsausübung, die von Staat und Gesellschaft zu respektieren sei. Wie ebenfalls bereits erwähnt, soll dies außerdem nicht auf bestimmte Grenzsituation unerträglichen Leidens beschränkt sein, sondern dem Individuum „in jeder Phase menschlicher Existenz“ offen stehen.9 Dies ist in der Tat eine steile Vorlage.

Es fällt auf, dass ein Zentralbegriff der Grund- und Menschenrechtstheorie an keiner Stelle des Urteils vorkommt, nämlich der Begriff der „Unveräußerlichkeit“ der elementaren Rechte. Vermutlich handelt es sich nicht nur um eine versehentliche Auslassung. Von den Prämissen des Urteils her gedacht bleibt für die Vorstellung „unveräußerlicher“ Rechte womöglich gar kein sinnvoller Ort mehr. Dabei findet sich dieser Begriff an herausragender Stelle im Grundgesetz. Im Anschluss an das Postulat der unantastbaren Menschenwürde bekennt sich die Verfassung zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“.10 Beide Adjektive sind wichtig und ergänzen einander. Mit dem Adjektiv „unverletzlich“ werden zunächst etwaige äußere Beeinträchtigungen der grundlegenden Rechte zurückgewiesen; es ist die Aufgabe der Rechtsordnung, diesem Verbot Nachdruck zu verleihen. Darüber hinaus macht das zweite Adjektiv deutlich, dass die grundlegenden Rechte auch eine innere – moralische – Verpflichtungsdimension beinhalten, die sich an die Rechtsinhaber selbst richtet.

Es handelt sich bei den grundlegenden Rechten des Menschen demnach nicht um beliebige Rechtstitel, mit denen der Einzelne nach Gutdünken verfahren und die er ggf. auch ignorieren oder verkommen lassen könnte, ohne sich damit als Verantwortungssubjekt selbst zu schaden oder sogar aufzugeben; deshalb sind die elementaren Freiheitsrechte nicht nur unverletzlich, sondern eben auch „unveräußerlich“. Dieser Anspruch der Unveräußerlichkeit hat eine lange Tradition im Grund- und Menschenrechtsdenken. Er findet sich nicht zufällig auch in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, an die das Grundgesetz mit manchen Formulierungen direkt anschließt. Aus der gebotenen Anerkennung der Menschenwürde folgt in der UN-Erklärung der herausragende Stellenwert der „gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie“11.

Im Begriff der „Unveräußerlichkeit“ steckt, vordergründig betrachtet, das Verbot eines bestimmten Freiheitsgebrauchs: Der Mensch soll davon absehen, seine elementaren Rechte schlicht wegzuwerfen oder zu verscherbeln; dies ist ihm moralisch nicht gestattet. Nun handelt es sich bei diesen elementaren Rechten inhaltlich vor allem um Freiheitsrechte. Mit anderen Worten: Hinsichtlich der Freiheit, die die Menschen innehaben – Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. – gilt, dass es ihnen zwar offensteht, in sehr unterschiedlicher Weise von all diesen Freiheiten Gebrauch zu machen oder auch nicht Gebrauch zu machen. Die irreversible Preisgabe ihrer Freiheitsrechte ist dabei aber nicht eingeschlossen. Sofern sie ohne Not geschieht, liefe dies auf die freiwillige Abdankung des betreffenden Menschen als Verantwortungssubjekt hinaus. Dies kann nicht sinnvoll sein.

Im Zeitalter der Aufklärung, als die Idee moderner Grund- und Menschenrechte allmählich Gestalt annahm, wurde die Unveräußerlichkeit der Freiheitsrechte vor allem anhand der Frage diskutiert, ob es den Menschen freistehe, sich vertraglich einer absoluten Herrschaft zu unterwerfen oder sich gar selbst in die Sklaverei zu verkaufen. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. Bei Kant – und er steht damit nicht allein – ist die Antwort ein entschiedenes Nein. Wie er schreibt, gilt für die „unverlierbaren Rechte“, dass der Mensch sie „nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte“.12 Eine Freiheit willentlicher und irreversibler Freiheitsaufgabe kann es nicht geben. Der hohe Stellenwert der Freiheit schließt dies kategorisch aus.

Auf den ersten Blick klingt die Idee „unveräußerlicher“ Freiheitsrechte so, als werde die Freiheit damit inhaltlich beschnitten, insofern die Menschen jedenfalls nicht die Freiheit haben sollen, die Freiheit abzuschaffen. Tatsächlich zielt der Begriff der Unveräußerlichkeit aber nicht auf eine materiale Relativierung, sondern gerade auf die formale Stärkung der Freiheitsrechte, deren hoher moralischer und rechtlicher Rang damit ja gerade herausgestellt wird. Übrigens kennt das Grundgesetz eine ähnliche Figur auch bezüglich der Demokratie. Laut Artikel 79, Absatz 3 ist es selbst dem verfassungsgebenden Gesetzgeber verwehrt, die freiheitliche Demokratie abzuschaffen – und sei die Mehrheit dafür auch noch so groß. Die auf diese Weise herausgestellte Unveräußerlichkeit der Demokratie wird man nur dann als eine „undemokratische“ Beschränkung (miss-)verstehen, wenn man die Demokratie auf ein Set abstrakter Verfahrensregeln – insbesondere auf die Mehrheitsregel – reduziert und von jedem substanziellen demokratischen Ethos abkoppelt.

Dasselbe gilt für den Begriff der Autonomie und die in ihm wurzelnden individuellen Freiheitsrechte. Dass die Freiheit nicht auf ihre Selbstabschaffung zielen soll, unterstreicht den hohen Stellenwert der Freiheitsrechte. Sie sind nicht nur ein Anspruch des Menschen, sondern auch an Anspruch an den Menschen selbst. Auch wenn sich diese letztere Komponente nicht unmittelbar rechtlich durchsetzen lässt, muss sie in den Formulierungen des Rechts Berücksichtigung finden; sie sollte jedenfalls nicht durch einen höchstrichterlichen Urteilstext hinweggefegt werden.

Nun ist das Thema Selbsttötung zweifellos anders gelagert als die Frage nach der Unterwerfung unter eine absolute Herrschaft, anhand derer im Zeitalter der Aufklärung die „Unveräußerlichkeit“ der Freiheitsrechte erarbeitet wurde. Wer sich selbst ohne Wenn und Aber der Herrschaft eines Anderen unterwirft, gibt sich womöglich als mündiges Verantwortungssubjekt auf, um dadurch sein physisches Leben zu erhalten und zu sichern. Im Akt der Selbsttötung geschieht genau das Gegenteil. Dennoch verweist der Begriff der Unveräußerlichkeit der Freiheitsrechte darauf, dass der Gebrauch der Freiheit – bei aller inhaltlichen Offenheit – nicht belanglos oder einfach disponibel ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht allein auf den punktuellen Willen des Individuums abstellt, der sich, wie es heißt, „einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht“,13 baut es eine falsche, weil unvollständige Alternative auf.

Es blendet die Möglichkeit aus, dass sich kritische Rückfragen, Zweifel oder Einwände gegenüber der Selbsttötung auch aus dem Anspruch der Autonomie selbst speisen können. Gerade weil die Autonomie in der Würde des Menschen gründet, ist die Autonomie ein so hoher Wert. Mehr noch: Sie ist die Bedingung dafür, dass sich in der menschlichen Lebenswelt überhaupt „moralische Werte“ entwickeln können. Genau deshalb ist die Autonomie – mitsamt den sie institutionell abstützenden Freiheitsrechten – letztlich nicht nur „unverletzlich“, sondern auch „unveräußerlich“. Da die Autonomie aber nur den lebenden Menschen möglich ist, gehört das Recht auf Leben – gleichsam als die Vitalbasis der Autonomie – nicht zufällig ebenfalls zu den unveräußerlichen Freiheitsrechten; es findet sich in allen umfassenden Grund- und Menschenrechtsdokumenten. Diese Dimension fehlt im Urteil völlig. Hier zeigt sich eine bedenkliche Leerstelle.

Aus rechtsphilosophischer Perspektive besteht die größte Schwäche des Urteils zur Suizidassistenz darin, dass die „Unveräußerlichkeit“ der Freiheitsrechte darin überhaupt nicht vorkommt; sie wird nirgends zum Thema. In der Negation etwaiger paternalistischer Bevormundung formuliert das Bundesverfassungsgericht somit einen völlig abstrakten Autonomiebegriff. Mit der Absage an moralisierende Einrede von außen schneidet es zugleich die moralische Sinndimension ab, von der her allein sich die Emphase der Autonomie versteht. Zwar verknüpft das Gericht die Autonomie mit der Menschenwürde, weigert sich dann aber, daraus die Konsequenz zu ziehen, dass genau deshalb die Freiheitsrechte – einschließlich des Rechts auf Leben – nicht kommentarlos zur individuellen Disposition stehen können. Das ist das Problem.

Eine gefährliche Weichenstellung

Die gesellschaftliche Bewertung des Suizids hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert. Stigmatisierende Begriffe wie „Selbstmord“ sind aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden. Die Zeiten, in denen Suizidenten noch posthum dadurch bestraft wurden, dass man ihnen eine ordentliche Beerdigung verwehrte, sind in unseren Breiten vorbei. Dies ist zweifellos positiv zu bewerten; man darf darin einen Fortschritt in gesellschaftlicher Aufklärung und einen Zuwachs an Humanität sehen. Hinzu kommt die Erfahrung, dass das Sterben sich unter den Bedingungen der modernen Medizintechnik hinziehen kann. Weit weniger als früher ist der Tod heute ein natürliches Schicksal, das den Menschen oft überraschend ereilt; meist steht er am Ende eines längeren Prozesses, der komplizierte Entscheidungen verlangt. Zu den Antworten auf diese Lage gehören Patientenverfügungen und Vorbereitungen im Rahmen des „advance care planning“. Viele Menschen wünschen sich auch Sterbehilfe – oder zumindest die Option, auf fachliche Assistenz beim Sterben notfalls zurückgreifen zu können.

Hinter dem landläufigen Begriff der „Sterbehilfe“, sofern er nicht näher spezifiziert wird, verbergen sich dabei freilich höchst unterschiedliche Möglichkeiten – von der palliativen Begleitung des Sterbeprozesses über die gewünschte Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bis hin zur professionellen Suizidbeihilfe oder gar zur ärztlich durchgeführten Tötung auf Verlangen. Verantwortliche Entscheidungen in den Grenzbereichen des Lebens sind naturgemäß schwierig; sie bleiben abhängig von unsicheren medizinischen Prognosen, tagtäglichen Zustandsveränderungen und nicht zuletzt Einschätzungen eines Patientenwillens, der sich manchmal nur noch vermuten lässt. Es wäre vermessen, einen solchen schwierigen Grenzbereich des Lebens in allen Einzelheiten normativ durchstrukturieren zu wollen. Erst recht gilt dies für strafrechtliche Normen. Es spricht deshalb Vieles dafür, in den Grenzbereichen menschlichen Lebens und Sterbens Raum für individuell verantwortetes Handeln im Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Patient zu lassen. Das vom Bundestag im Jahre 2015 verabschiedete Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz ging nach kritischer Einschätzung in seinem Regelungsanspruch zu weit. Auch manche Palliativmediziner sahen sich in ihrem Freiraum, den sie für verantwortliches Handeln und Entscheiden zum Wohle der ihnen anvertrauten Menschen brauchen, allzu sehr eingeengt und von möglichen Strafsanktionen bedroht. In ärztlichen Kreisen hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts daher ein gemischtes Echo gefunden; die Reaktionen bewegten sich zwischen Ablehnung und Erleichterung.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich indes nicht darauf beschränkt, konkrete Korrekturen im Interesse von mehr Rechtssicherheit durchzuführen. Er hat die verfassungsrechtliche Überprüfung des Paragraphen 217 StGB stattdessen zum Anlass genommen, einen Weg zu eröffnen, der – konsequent zu Ende gedacht – in Abgründe führt. Das Gericht hat der Freiheit zum Suizid grundrechtliche Weihe verliehen; es hat das postulierte Grundrecht außerdem von Situationen schweren Leidens völlig entkoppelt und expressiv verbis für alle Phasen menschlichen Lebens verfügbar gemacht; und schließlich hat es die Ausübung dieses Rechts (abgesehen von Fällen pathologischer Entscheidungstrübung) gegenüber etwaigen normativen Rückfragen gänzlich freigestellt. Die Autonomie wird auf diese Weise solipsistisch enggeführt und normativ entleert. Mit dem von Kant eröffneten Autonomiebegriff, der in der Tradition der deutschen Verfassungsrechtsprechung eine große Rolle spielt, hat dies übrigens nichts mehr zu tun.

Konkret geht es im Urteil zwar lediglich um die geschäftsmäßige Suizidassistenz, deren Verbot in Gestalt des Paragraphen 217 StGB das Gericht zurückweist. Nimmt man die Prämissen der Urteilsbegründung ernst, könnten sich von dorther aber noch sehr viel weitergehende Konsequenzen nahelegen. Ein Beispiel wäre die Tötung auf Verlangen. Sie wird im Urteil deshalb nicht angesprochen, weil das Thema nicht zur Überprüfung anstand; es gibt keinen Grund, hier irgendeine „hidden agenda“ zu vermuten. Es stellt sich gleichwohl die Frage, ob man das strafbewehrte Verbot der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) in Zukunft in der Linie des Urteils systematisch und plausibel überhaupt noch begründen kann. Zweifel sind angebracht. Denn das Gericht verbindet mit der Freiheit zum Suizid ja die Freiheit, dafür professionelle Assistenz zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Was aber soll gelten, wenn ein Mensch – etwa aufgrund einer Lähmung – nicht in der Lage ist, den gewünschten Akt der Selbsttötung eigenhändig durchzuführen? Von den Prämissen des Urteils her jedenfalls scheint der Schritt hin zur Tötung auf Verlangen nur noch sehr klein zu sein.

Theoretisch wären sogar noch weitergehende Konsequenzen denkbar. Wie könnte man auf der Basis des vom Gericht formulierten Autonomiebegriffs argumentieren, wenn beispielsweise jemand in einer öffentlichen Wette mit seinem Leben spielen würde, um im Falle des Gewinns Geld einzustreichen? Über Gesichtspunkte des Jugendschutzes und im Interesse der Vermeidung von Nachahmungseffekten könnte man hier wohl noch Schranken einziehen; aber selbst dies könnte schwierig werden, sofern man konsequent davon ausgeht, dass die Verfügung über das eigene Leben, einschließlich seiner gezielten Vernichtung, Bestandteil der grundrechtlich geschützten Handlungsfreiheit ist, die sich „Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht“, wie das Gericht betont.

Man kann die zuletzt angestellten Überlegungen aber auch umdrehen. Nach wie vor scheint es hierzulande einen weitreichenden Konsens zu geben, dass die Tötung auf Verlangen nicht erlaubt sein soll; entsprechende Forderungen finden sich bislang jedenfalls nur vereinzelt. Wenn die entsprechende Verbotsnorm mehr sein soll als die Verhinderung eines möglichen Missbrauchs, verweist sie darauf, dass menschliches Leben letztlich eben doch nicht einfach individuell disponibel ist. Es ist an der Zeit, diese Einsicht zu schärfen und gesellschaftlich erneut zu festigen. Als die vitale Basis der Autonomie ist das individuelle Leben genauso wenig Gegenstand beliebiger „Verfügung“ wie die Autonomie selbst. Auch das Leben des Menschen zählt vielmehr aus guten Gründen zu jenen unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, deren Achtung die Menschen einander und sich selbst schulden.

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