"Der Krieg ist noch nicht vorbei"Eine Reise nach Srebrenica und Sarajevo

Aus erster Hand berichtet Norbert Reck, verantwortlicher Redakteur der deutschsprachigen Ausgabe von "Concilium", von den Verhältnissen in Srebrenica und Sarajevo. Nach zwanzig Jahren ist in den kriegserschütterten Gebieten immer noch kein wirklicher Frieden eingekehrt.

Am Abend vor der Abreise ist Johann Baptist Metz am Telefon. Der Vater der neuen Politischen Theologie ist auch einer der Mitbegründer der Zeitschrift "Concilium", deren internationales Redaktionskollegium sich 2014 in Sarajevo trifft. Wir sprechen über dieses Treffen, an dem ich teilnehmen werde, und ich erzähle, dass eine kleine Gruppe vor der Redaktionskonferenz noch nach Srebrenica fahren wird, um die Gedenkstätte des Massakers von 1995 zu besuchen. Metz reagiert mit lebhafter Zustimmung, findet die Auseinandersetzung wichtig. Für mich, sage ich, gebe es hier manches nachzuholen, denn zu den Kriegen im auseinanderbrechenden Jugoslawien der 1990er Jahre hatte ich damals kein rechtes Verhältnis gefunden.

Metz antwortet, ihm sei es durchaus ähnlich gegangen, und so fragen wir uns, was uns davon abgehalten hat, intensiver, tätiger Anteil zu nehmen. War es unsere Fixierung auf die deutsche Geschichte, auf Auschwitz, die uns blind machte für die Verbrechen in Bosnien-Herzegowina? Wo uns doch gerade die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hätte wacher machen sollen? War es die Vorstellung vom "Bürgerkrieg" - dass hier verschiedene ethnisch-religiöse Gruppen sich gegenseitig bekämpften und man das nur kopfschüttelnd beobachten konnte, entsetzt, aber neutral gegenüber allen Beteiligten? Susan Sontag jedenfalls, die Sarajevo während der Kriegsjahre immer wieder besucht hatte, beklagte damals die "weitverbreitete Gleichgültigkeit oder den Mangel an Solidarität in Europa (am auffälligsten in Italien und Deutschland)"1. Was war mit uns los? Metz und ich finden keine wirklich schlüssige Antwort an diesem Abend, doch wir stimmen darin überein, dass damals eigentlich mehr von uns gefordert war. Nach dem Gespräch habe ich das Gefühl, dass nun noch einige selbstkritische Fragen zusätzlich mit in die Reisetasche hineinkommen, die ich packe.

Ankunft in Sarajevo

Es wird schon dunkel, als am nächsten Tag die Maschine der Austrian Airlines auf dem Internationalen Flughafen von Sarajevo landet. Man sieht noch im Abendlicht die Bergketten des Dinarischen Gebirges ringsherum; einige Gipfel sollen hier bis zu 2000 Meter hoch sein. Die Stadt selbst erstreckt sich über eine Ebene im Tal des Flusses Miljacka. Nicht weit vom Flughafen befindet sich die Theologische Hochschule der Franziskaner, wo "Concilium" tagen wird. Herzlicher Empfang. Die Neuankömmlinge bekommen ihre Zimmer gezeigt, und bald sitzen wir zusammen bei Würsten, Käse, Brot und Geschichten.

Schon in den ersten Kriegsmonaten, so erzählt Mile Babic, einer der Professoren der Hochschule, gerieten die Franziskaner mitten hinein in die militärischen Auseinandersetzungen. Soldaten der gefürchteten Beli Orlovi ("Weiße Adler"), einer serbischen paramilitärischen Einheit, eng verbunden mit der Jugoslawischen Bundesarmee (und damit mit den Plänen des serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic zur Schaffung eines Großserbischen Reiches), besetzten die Hochschule am 8. Juni 1992. Die Hausbewohner, unter ihnen auch Babic, wurden zunächst dreißig Stunden lang im Keller gefangen gehalten, dann wurden sie vertrieben und durften nur persönliche Dinge mitnehmen. Das Haus wurde ausgeplündert, die Bibliothek zerstört, die Autos requiriert; die Stadt Sarajevo kam unter anderem von hier aus unter Granatenbeschuss. Nach dem Dayton-Abkommen vom Dezember 1995 zogen sich die "Weißen Adler" im Februar 1996 schließlich zurück. Von der Hochschule war nur das Skelett des Gebäudes übriggeblieben. Die Franziskanerprovinz machte sich umgehend an den Wiederaufbau. In einer Nische erinnert ein großes Kreuz aus Trümmerteilen daran. Die Franziskaner hatten es indessen geschafft, nach der Vertreibung aus ihrem Haus den Hochschulbetrieb aufrechtzuerhalten. Zehn Semester lang fand der Unterricht im kroatischen Samobor bei Zagreb statt. "Wir haben kein Semester verloren", hält Babic stolz fest. "Und am 20. März 1997 kehrten wir hierher nach Sarajevo zurück. So war das!", sagt er ernst, ruft sich aber schnell seine gute Laune zurück. Er nimmt mich mit in den Weinkeller, wo wir zwei Krüge füllen.

Wir sitzen noch eine Weile in kleiner Runde zusammen; die Atmosphäre ist unkompliziert und fröhlich. Man spürt: Dies ist das Haus derer, die sich nicht gebeugt haben und es auch heute nicht tun - ein Ort der Hoffnung, der freien Rede, der Gastfreundschaft. Viele Bemühungen um Frieden und Versöhnung gehen von hier aus. Wir Besucher hören die Geschichten mit Staunen. Was sie wirklich bedeuten, ahnen wir noch kaum.

Unterwegs nach Srebrenica

Am nächsten Morgen hat sich in aller Frühe eine Gruppe von acht Leuten zusammengefunden: aus Deutschland, Brasilien, Kroatien und Bosnien. Gemeinsam wollen wir den Ort besuchen, dessen Name wie kaum ein anderer für die Schrecken der Jugoslawienkriege steht. Mit zwei Autos fahren wir los. Es geht in den äußersten Osten von Bosnien-Herzegowina. Kaum haben wir die Stadt verlassen, breitet sich die Landschaft spektakulär vor uns aus: grün bewaldetes Gebirge, herrliche Passstraßen mit atemberaubenden Ausblicken, kleine Dörfer aus Holzhütten auf Hochebenen weitab von allem Getriebe der Welt. Keine Autobahnen, nur sich dahinschlängelnde Landstraßen.

So gelangen wir im Verlauf von etwa dreieinhalb Stunden immer tiefer in die Provinz, durchqueren beinahe menschenleere Gegenden. Im Auto rekapitulieren wir, was wir über Srebrenica wissen: Wie bis zum Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina im Frühjahr 1992 die großen Volksgruppen der Kroaten (mehrheitlich römisch-katholisch), Serben (serbisch-orthodox) und Bosniaken (muslimisch) gar nicht so schlecht miteinander ausgekommen waren (im November 1991 hatten in Sarajevo noch 100 000 Menschen für das friedliche Zusammenleben der drei größten Volksgruppen demonstriert). Wie die bosnischen Serben im Januar 1992 die "Serbische Republik in Bosnien und Herzegowina" (Republika Srpska) proklamierten und wie die bosnische Regierung Anfang März 1992 den Austritt aus dem jugoslawischen Bundesstaat verkündete. Wie aus Belgrad, von der Regierung Restjugoslawiens, kundgetan wurde, dass man ein neues, serbisches Jugoslawien schaffen wolle, zu dem auch die "serbischen Gebiete in Kroatien und Bosnien und Herzegowina" gehören sollten. Wie sich so der Krieg im Land entspann - auf der einen Seite die bosnischen Serben mit der Unterstützung Serbiens und der Jugoslawischen Volksarmee, auf der anderen Seite die Bosniaken und die bosnischen Kroaten, die zusammen für die Freiheit Bosnien-Herzegowinas kämpften, bis schließlich auch einige Kroaten ein eigenes unabhängiges Gebiet für sich schaffen wollten oder den Anschluss an Kroatien suchten.

Bald gehörten größere Gebiete des Landes im Osten und im Norden zur Republika Srpska. Viele muslimische Bewohner der nun serbisch besetzten Dörfer und Landstriche flohen aufs freie bosnische Territorium oder in die nächstgelegenen Städte, die sich als Enklaven noch gegen die Besetzung behaupten konnten. Eine solche Enklave war Srebrenica. Die Gemeinde, die 1991 noch 37 000 hauptsächlich muslimische Einwohner hatte, wuchs durch den Zustrom der Flüchtlinge bald auf 50 000 bis 60 000 an. Und sie war, fünfzehn Kilometer vor der serbischen Grenze gelegen, den Soldaten der Republika Srpska ein Dorn im Auge (ebenso wie die anderen Enklaven). Sie sollte eingenommen und dem serbischen Territorium angegliedert werden; die muslimischen Bewohner sollten vertrieben oder in Lagern gehalten werden, bis man sie loswerden konnte: das Programm der "ethnischen Säuberung".

Der Kommandant der UN-Schutztruppen, die bald im Land waren und "in aller Neutralität" bewaffnete Auseinandersetzungen verhindern sollten, besuchte Srebrenica im März 1993 und sagte den hungernden und von aller medizinischen Versorgung abgeschnittenen Einwohnern zu, die Stadt komme nun unter den Schutz der UNO. Im April verabschiedete der UN-Sicherheitsrat in New York die entsprechende Resolution: dass "alle Seiten und alle anderen Srebrenica und ihre Umgebung als 'Schutzzone' zu betrachten haben, die weder militärisch angegriffen noch irgendeiner anderen feindlichen Handlung ausgesetzt werden darf". Im Gegenzug sollte die Stadt komplett entmilitarisiert werden - was nie ganz geschah.

Die UN-Basis in Potocari

Auf der Straße nach Srebrenica gelangen wir zuerst nach Potocari. Der Ort ist ungefähr acht Kilometer von Srebrenica entfernt und gehörte zur Enklave. Auf einem ehemaligen Fabrikgelände waren hier die Bataillone der UNPROFOR (United Nations Protection Force) untergebracht, die den Schutz der Schutzzone gewährleisten sollten. Heute ist es ein weitläufiges Areal, auf dem einige große Hallen aus Beton, Stahl und Wellblech stehen. Das Gelände ist für die Öffentlichkeit zugänglich; in einer der Fabrikhallen sind ein Dokumentarfilm und eine einfache Ausstellung von Fotos und Hinterlassenschaften der Ermordeten zu sehen: Notizbücher, Kämme, Mützen, Brillen.

Dies ist also der Ort, an den die Menschen aus Srebrenica flohen, als im Juli 1995 serbische Truppen die "Schutzzone" mit Granaten beschossen und schließlich einnahmen, ohne dass ihnen die UN-Truppen Einhalt geboten hätten. Ungefähr 20 000 bis 25 000 Menschen strömten hierher, um den Schutz der Blauhelme zu suchen. Die Bilder zeigen das Areal völlig überfüllt, die Verstörung der Leute, ihre Erschöpfung, ihre Angst. Von den circa 400 UN-Soldaten ist kaum etwas zu sehen.

Dies ist der Ort, an dem nach der Einnahme von Srebrenica - geführt von ihren Generälen Radislav Krstic, Milenko Živanovic und Ratko Mladic - auch die Armee der Republika Srpska eintraf und das Gelände umstellte. Sie wollten die muslimischen Flüchtlinge evakuieren, sagten sie. Tom Karremans, der Oberst des niederländischen UN-Bataillons, soll damals General Mladic entgegengetreten sein, wobei sich folgender Wortwechsel ergab:

"Ich bitte Sie, ich bin der Kommandant des holländischen Bataillons, und ich ..." "Was denn schon für ein Kommandant. Ein Dreck bist du. Ich bin hier der Gott!"2

Selten bekommt man es so eindringlich überliefert: Verbrechen solcher Dimension scheinen immer einherzugehen mit einer eigenen Theologie, mit einem Gegen-Gott, der über Leben und Tod zu herrschen beansprucht. Diesem Gott unterwarf sich letztlich auch das UN-Bataillon, mit dem Ergebnis, dass die Soldaten der Republika Srpska das UN-Gelände unangetastet ließen und dass an ihrer Stelle die Niederländer die Evakuierung selbst vorbereiteten und auf serbischen Wunsch Frauen und Kinder von den Männern und männlichen Jugendlichen trennten. Sie halfen den Frauen und Kindern in die von den Serben bereitgestellten Busse, mit denen sie auf das bosnisch kontrollierte Territorium verbracht wurden. Alle Jungen und Männer im Alter von zwölf bis 77 Jahren wurden indessen auf Lastwagen verfrachtet und an entlegene Orte der Umgebung gebracht, wo sie innerhalb der nächsten Tage alle ausnahmslos erschossen wurden.

Wir tun noch ein paar Schritte auf diesem Gelände. Es ist von einer gellenden Leere erfüllt. Ich versuche zusammenzubringen, was ich gelesen habe und was ich hier sehe. Ich fühle mich wie betäubt.

Die Gedenkstätte in Potocari

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich die Gedenkstätte des Massakers. Von Weitem schon kann man die leuchtend weißen Grabstelen sehen, die sich zu Tausenden über die sanft ansteigenden Hügel ausbreiten. In der Mitte befindet sich eine schlichte Gedenkhalle, ein quadratisches Dach, getragen von Holzsäulen, die Seiten sind offen. Sie ist als Moschee gestaltet; in ihr zeigt ein Mihrab, eine Gebetsnische, die Gebetsrichtung an. Über Teile der Halle ist ein großer Teppich ausgelegt. Dort warten zwei der "Mütter von Srebrenica" auf uns - überlebende Frauen, die ihre Männer und Söhne durch das Massaker verloren und sich in einem Verein zusammengeschlossen haben. Wir ziehen unsere Schuhe aus und setzen uns zu ihnen.

Die beiden Frauen beginnen zu sprechen, aber sie erzählen nicht einfach ihre Geschichte. Sie konfrontieren uns mit ihrem ganzen ungeschmälerten Leid, ihrer Trauer und ihrer Wut. Beide haben sämtliche Söhne und Brüder, ihre Ehemänner und Väter verloren. Hier auf diesem Friedhof sind einige von ihnen nach Jahren bestattet worden. Noch immer finden jährlich am 11. Juli Beisetzungsfeierlichkeiten statt, noch immer sind nicht alle Leichname der Opfer gefunden und identifiziert worden. Die Ermordeten waren zunächst in Gruben am Ort der Erschießungen verscharrt worden, doch nachdem das Massaker von Srebrenica die Weltöffentlichkeit in besonderem Maße schockiert hatte (nach zahllosen anderen Verbrechen in diesem Krieg), begannen serbische Einheiten mit Bulldozern die Gruben wieder zu öffnen und die Toten in weit verstreute "sekundäre Massengräber" umzuverteilen. Offenbar sahen sie eine Notwendigkeit, die Spuren der Morde zu verwischen und die Nachforschungen zu erschweren.

Für die überlebenden Angehörigen bedeutet das eine zusätzliche Belastung: Sie warten jahrelang, dass man die Überreste ihrer Familienmitglieder findet (manche hoffen bis zuletzt, dass ihre Lieben noch irgendwo am Leben sein könnten), und wenn etwas gefunden wird, dann sind es oft nur einige Knochen, die mittels DNA-Proben zugeordnet werden können. Es kommt nicht selten vor, dass Skelettteile eines Menschen in verschiedenen, weit auseinanderliegenden Massengräbern gefunden werden. Die Überlebenden bestatten ihre Angehörigen oft in dem Bewusstsein, dass eine Hand, ein Schädel oder ein Beinknochen noch immer an einem unbekannten Ort liegt. Die Sucharbeiten werden fortgesetzt, zwar wird inzwischen weniger gefunden, aber die Geschichte scheint nicht zu Ende gehen zu wollen. Immer könnte noch etwas ausgegraben werden - der Trauerschmerz wird wieder und wieder ausgedehnt. Während Hatidža Mehmedovic erzählt, stöhnt Mejra Djogaš vernehmlich, bricht mehrmals in Schluchzen aus, hält sich ein Taschentuch vor den Mund. Bald zwanzig Jahre nach dem Krieg stehen viele Wunden weiterhin klaffend offen.

Ein weiterer Grund dafür besteht auch in der politischen Situation. Die beiden Frauen sind 2002 in ihren Geburtsort Srebrenica zurückgekommen, wie es ihnen das Waffenstillstandsabkommen von Dayton ausdrücklich zugestand. Doch mussten sie feststellen, dass ihre Heimat nun serbisch geworden war und dass die serbischen Familien, die sich in den Häusern der ehemals muslimischen Stadt eingerichtet hatten, keineswegs erfreut waren, sie und andere Rückkehrerinnen nun wieder im Ort zu haben.

Srebrenica gehört seit Kriegsende zur Republika Srpska, denn das Dayton-Abkommen, dem es vor allem darum ging, dass das Töten aufhörte, tat nichts anderes, als den Status quo zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken festzuschreiben; und so wurden die bosnischen Serben damit belohnt, dass sie ihre im Krieg eroberten Gebiete behalten und selbst verwalten durften: 49 Prozent von Bosnien-Herzegowina wurden der Republika Srpska zugeschlagen, mit eigener Legislative und Exekutive. Dayton hat nicht das Recht wiederhergestellt, sondern das im Krieg geschaffene Unrecht zementiert. Für Hatidža Mehmedovic bedeutet das einen Alltag aus immer wiederkehrenden Anfeindungen und der Leugnung der Morde auch von offizieller Seite. Nur auf internationalen Druck hin erkannte die Regierung das Verbrechen in Srebrenica inzwischen als ein solches an.

Mejra Djogaš spricht von den ungesühnten Taten und davon, dass ihre Heimatstadt nun von denjenigen beherrscht wird, die sie erobert haben: "Wenn wir durch die Straßen gehen, sehen wir Leute, die unsere Familien umgebracht haben und trotzdem frei herumlaufen." Mehrmals fällt der Satz: "Der Krieg ist noch nicht vorbei - wir haben nur einen Waffenstillstand."

Was wir von den beiden Frauen zu hören bekommen, ist keine Erzählung, die nach fast zwanzig Jahren feste und geklärte Formen gefunden hätte, sondern ein Aufschrei. Vor allem gilt ihre Wut der UNO, dem Strafgerichtshof in Den Haag, der europäischen Gemeinschaft, der Weltöffentlichkeit. Ihr Grundgefühl ist, von der ganzen Welt verraten worden zu sein. Wie konnte es sein, fragen sie, dass die internationale Staatengemeinschaft zu Beginn des Krieges erst einmal ein Waffenembargo verhängte, das dazu führte, dass die angegriffenen Kroaten und Bosniaken sich nicht ausrüsten konnten, während die angreifenden Serben sich aus den Beständen der jugoslawischen Bundesarmee versorgten? Warum lösten die Nachrichten von den "ethnischen Säuberungen" so lange kein internationales Einschreiten aus? War das Interesse nicht groß genug? Warum meinten die Deutschen, "wegen ihrer Geschichte" nicht eingreifen zu dürfen? Gebietet diese Geschichte denn ein tatenloses Zuschauen bei Massenmorden? Und schließlich: Warum bestand das niederländische UN-Bataillon, das die Sicherheit Srebrenicas hätte gewährleisten sollen, nach der Schilderung von Hatidža Mehmedovic zum einem Großteil aus völlig überforderten 18- bis 20-Jährigen? Warum gab es für die UNPROFOR kein Mandat, das mehr hätte bewirken können, als die Menschen widerstandslos in die Hände der serbischen Einheiten auszuliefern? Die Einnahme Srebrenicas kam nicht überraschend. Schon Wochen vorher berichteten Militärbeobachter von erhöhten Konzentrationen serbischer Soldaten, Artillerie, Munitionslastwagen in der Nähe der Enklave3. Warum wurden keine Vorkehrungen getroffen? Mejra Djogaš spricht von ihrer "Wut auf die ganze Welt, dass sie nichts tat, um wenigstens einige Menschen zu retten".

Wir schweigen. Wir sind irritiert. So viel Vehemenz, so viel Anklage hatten wir nicht erwartet. Abwehr macht sich unter uns breit. Es ist zu spüren, dass die Auslassungen der beiden Frauen eine Funktion haben in ihren alltäglichen Kämpfen, gegenüber den serbischen Aufrechnungsdiskursen ("Wir haben auf unserer Seite auch Opfer") und angesichts der Gleichgültigkeit der übrigen Welt. Es sind Stimmen aus dem Schützengraben, Leidensmünzen, die ins Spiel gebracht, politische Positionen, die verteidigt werden müssen. Das macht uns Zuhörer misstrauisch. Man möchte gleich gerne alles etwas niedriger hängen. Doch wer sind wir, dass wir das könnten? Was bedeuten denn unsere Erwartungen angesichts der Realität dieser Menschen? Alle Tatsachen, die uns vorgetragen werden, sind bestens dokumentiert. Was uns hier zugemutet wird, ist keine gefärbte Wirklichkeit, es sind die persönlichen Gefühle von Menschen, die überlebt haben - ihr tiefes Unglück. Und es trifft uns dort, wo wir als Bürger demokratischer Länder mitverantwortlich sind für das, was hier in Zukunft geschehen wird.

Unsere Abwehrreflexe spiegeln möglicherweise die Abwehr, die auch damals das Geschehen begleitete. "Die Leute wollen keine schlechten Nachrichten hören", schrieb Susan Sontag: "Vielleicht wollen sie das grundsätzlich nicht."4 Doch den Geschichten dieser Menschen sollte man sich nicht verschließen - sie verankern uns in der Wirklichkeit. Außerstande, noch Fragen zu stellen, bedanken wir uns und verlassen die Gedenkstätte.

Srebrenica, der Ort

Wir machen uns auf den Weg nach Srebrenica. Das Tal verengt sich unterwegs zusehends, bis man einen Talkessel erreicht, welchen der Ort ausfüllt. Auf allen Seiten ragen unmittelbar hinter den bebauten Grundstücken bewaldete Berge auf. Wir parken im Zentrum, steigen aus und sehen uns um.

Es ist still hier am frühen Nachmittag, auf den Straßen sind kaum Menschen zu sehen. Noch 15 000 leben hier, in der Mehrheit Serben, doch das Städtchen wirkt beinahe verlassen, zudem schmucklos, etwas vernachlässigt. Als brächten seine heutigen Bewohner nicht das Interesse auf, sich genügend um den Ort zu kümmern. Nichts erinnert an den Vorkriegsglanz, von dem alte Reiseführer berichten: an den Reichtum, den die Silberbergwerke der Umgebung brachten ("Srebrenica" heißt "die Silberne"), an den Kurbetrieb, der im 20. Jahrhundert nach der Entdeckung von Mineralquellen aufkam. Wir finden viele Gebäude, die immer noch Einschusslöcher aus den drei Jahren der Belagerung tragen; etliche Häuser stehen leer, zeigen schwere Kriegsschäden, gehörten anscheinend Familien, die nicht mehr existieren, weil die Männer tot und die Frauen an andere Orte gezogen sind.

Hier in Srebrenica kann man eine Ahnung davon bekommen, was den Bosnienkrieg ausmachte: Muslime aus der ganzen Region waren hierher geströmt, weil ihre Dörfer bereits erobert worden waren. Hier hofften sie, überleben zu können. Der Ort aber wurde eingeschlossen von serbischen Truppen, die ihn von den umliegenden Bergen unter Beschuss nahmen. Blickt man die nahen Waldhänge hinauf, wird einem sofort klar, wie schutzlos die Menschen den Scharfschützen und Granatwerfern ausgesetzt waren. Emir Suljagic, der als 17-Jähriger mit seiner Familie ebenfalls nach Srebrenica geflohen war, schreibt darüber in seinen Erinnerungen:

"Die Gefahr war nicht so sichtbar wie in einem Lager, wo sie ein mürrischer Aufseher in Uniform verkörpert. Im Gegenteil, wir konnten die Leute nicht sehen, die darüber entschieden, wer leben sollte - ohne sich dafür zu interessieren, wer ihre Opfer waren, ohne ihre schmerzverzerrten Gesichter zu sehen, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, sich vorzubereiten. Die serbischen Kanonen waren zu weit von der Stadt entfernt, als dass wir sie hätten sehen können, aber doch so nah, dass wir Angst hatten, dass wir jeden Augenblick - ob wir im Bett waren, aßen, irgendwo saßen, umhergingen, lachten oder uns unterhielten - an den durchdringenden Lärm und den Tod dachten, den sie schneller brachten, als wir denken konnten."5

In Srebrenica ist unübersehbar, wer den Krieg wollte und wem er aufgezwungen wurde, wer sich zu verteidigen versuchte. Es war ein Krieg gegen die Muslime auf Serbisch beanspruchtem Territorium, es gab eindeutige Tötungsabsichten, auch gegen Zivilisten, und nur deshalb, weil sie Muslime waren; und so kamen zahlreiche Menschen in der Enklave durch Beschuss von diesen Höhen zu Tode, auch lange vor dem Massaker. Das Massaker vom Juli 1995, das der Haager Gerichtshof schließlich als Völkermord einstufte, war lediglich der Gipfelpunkt der Entwicklung, zu dem es kam, als klar war, dass die Vereinten Nationen nichts Substanzielles dagegen aufbieten würden. Gedanklich vorbereitet und geplant wurde der Völkermord schon sehr viel früher, in den Jahren des Zerfalls des jugoslawischen Staats, als im Umfeld des Miloševic-Regimes die Idee des Sozialismus durch das nationalistische Projekt Großserbiens ersetzt wurde unter der Parole "Alle Serben in einem Staat". Die Vordenker des Projekts fanden sich in der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, unter serbischen Schriftstellern ebenso wie in der serbisch-orthodoxen Kirche, die die Serben zum "himmlischen Volk" erklärte. Biljana Plavšic, die in Den Haag zu elf Jahren Haft verurteilte Mitarbeiterin des Serbenführers Radovan Karadžic, ursprünglich Biologin, die vor dem Krieg an der Universität Sarajevo lehrte, sprach gar von einem "islamisierten Gen", das zu bekämpfen sei, und von der "ethnisch-rassischen Überlegenheit" der Serben gegenüber den bosnischen Muslimen. Ihr selbst, so hielt sie fest, "wäre es am liebsten, wenn wir ganz Ostbosnien von den Muslimen säubern würden". Ganz in diesem Sinne redete auch der General Ratko Mladic von der Unterlegenheit der "genetischen Struktur" der Muslime. Bei der Einnahme der Stadt Srebrenica sagte er in die Fernsehkameras: "Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk. Endlich, nach dem Aufstand gegen die Despoten, ist die Zeit gekommen, dass wir uns an den Türken rächen ..."

Angesichts all dessen ist der Bericht des Überlebenden Emir Suljagic ein einzigartiges document humain des Bosnienkriegs. Er schreibt selbstverständlich aus der Perspektive derer, denen der Krieg aufgezwungen wurde und die um ihr Leben kämpften, aber er verfällt nie in den gegen-rassistischen Dünkel, für die Muslime von Srebrenica irgendeine moralische oder sonstige Überlegenheit zu beanspruchen. Er beschreibt auch die Korruption in der belagerten Stadt, das Treiben der Warlords, und er verschweigt nicht die Verbrechen, die bosnische Soldaten in serbischen Dörfern verübt haben. Auch bei denen, die sich nur wehrten, hinterließ der Krieg "seine blutige und grausame Spur". Doch dem zynischen Relativismus, dass irgendwie alle gleich seien, weil sie alle Blut an den Händen hätten, gibt Suljagic an keiner Stelle nach.

Ein neutrales Beiseitestehen, das wird mir beim Gang durch die Straßen dieses Ortes klar, war niemals eine akzeptable, ehrliche Position. Allzu eindeutig waren hier das Ausgeliefertsein der Einen und die mörderische Überlegenheit der Anderen. Ich erinnere mich beim Umhergehen an den Gedanken des oppositionellen serbischen Publizisten Nebojša Popov, dass es ein separat bestehendes Gutsein nicht gibt. Gut und Böse seien Begriffe, "die in einer Relation zueinander stehen, die nicht getrennt und unabhängig voneinander existieren und auch nicht ohne den jeweils anderen verständlich sind"6, das Gute könne darum nur im Widerstand gegen das unmittelbare Böse hervortreten, nicht aber durch ein Abseitsstehen und den Wunsch, sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Vielleicht ist uns das in Deutschland in den 1990er Jahren während des Bosnienkriegs nicht genügend klar gewesen. Vielleicht waren wir noch zu stark von der Vorstellung beherrscht, man sei unschuldig, wenn man "nichts getan" habe, wie viele mit Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus gerne glauben wollten.

Hier in Srebrenica scheinen die Fronten verhärtet zu sein. Serben und Bosniaken haben es schwer miteinander. Beide Seiten fühlen sich unverstanden in ihrem Leiden, die Traumata sitzen tief, und für die Anerkennung von Schuld steht keine Sprache zur Verfügung. Der römisch-katholische Theologe Alen Kristic aus Sarajevo, der mit uns unterwegs ist, sieht hier eigentlich die Religionsgemeinschaften in der Pflicht. Er würde sich vor allem wünschen, dass die Religionen ihre einseitigen nationalistischen Parteinahmen für die jeweils eigene Ethnie hinter sich lassen könnten. Weder die serbische Orthodoxie noch der Islam und auch nicht die (hier in dieser Gegend wenigen) römischen Katholiken haben sich hierin bislang besonders hervorgetan. Dabei könnte die kostbarste Einsicht des Monotheismus - dass alle Völker ihren Ursprung in ein und demselben Gott haben - sowohl ein Beitrag zur Erneuerung des Zusammenlebens sein als auch den Religionsgemeinschaften helfen, wieder näher an die Wurzeln der eigenen Verkündigung zu kommen.

Viele Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt versuchen unterdessen, ihre Vorstellungen von Frieden und Versöhnung den Menschen hier nahezubringen, aber den Kommentaren der Einheimischen ist anzuhören, dass man allgemein etwas enerviert ist von den Fremden, die kaum etwas von der Komplexität der Situation nach dem Krieg verstanden haben, aber jederzeit gerne Ratschläge erteilen. Davon hebt sich unter anderem offenbar die Salzburger Organisation "Bauern helfen Bauern" ab, die sich einfach um das bemüht, was die Menschen in Srebrenica wirklich brauchen. So gibt es mittlerweile mehr ehemalige Srebrenicer, die gerne mit ihren Familien in ihre Heimat zurückkehren würden. Weil aber ihre alten Häuser zerstört sind und das Geld rar ist, hilft "Bauern helfen Bauern" mit der Errichtung einfacher Holzhäuser, damit die Rückkehrer wieder Fuß fassen können. Das wird die Konfrontationen vor Ort nicht in Luft auflösen, doch kann sich ja nur dann etwas bewegen, wenn manche es wagen, wieder in einem Gemeinwesen zusammenzuleben, anstatt in ethnisch getrennten Regionen zu verbleiben. - Wir fahren zurück nach Sarajevo, über weite Strecken schweigend.

Wieder in Sarajevo

Am folgenden Tag wollen wir Sarajevo näher kennenlernen. Alen Kristic führt uns ins Zentrum, das uns modern, großstädtisch pulsierend, mit belebten Straßen und zahlreichen, gut besuchten Straßencafés empfängt. Wir sehen spiegelglasblitzende Neubauten an den Hauptverkehrsstraßen, aber hier und da auch noch Gebäude, die vom Krieg her wie mit Pockennarben übersät sind. Denn auch Sarajevo wurde seit Kriegsbeginn über drei Jahre lang belagert, zur UN-Schutzzone erklärt und durchschnittlich an jedem Tag mit 300 Granaten und von zahlreichen Scharfschützen beschossen. Tausende starben, Zehntausende erlitten teils sehr schwere Verletzungen.

Vom habsburgisch geprägten Teil der Innenstadt gelangen wir in ihren ältesten Kern, die Bašcaršija, das türkisch-muslimisch geprägte Marktviertel. Wir besichtigen Moscheen, katholische und orthodoxe Kirchen, die Alte Synagoge, die heute ein Museum ist. Kristic erklärt uns: Seit ihren Anfängen im 15. Jahrhundert ist die Stadt von Gläubigen aller monotheistischen Religionen bewohnt, die ihre jeweiligen Kulturen ins Leben der Stadt eingetragen und ihre Sprachen mitgebracht haben: Türkisch, Arabisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Deutsch, Italienisch und Ladino. Viele Juden, die unter den "katholischen Königen" Ferdinand und Isabella 1492 aus Spanien vertrieben wurden, fanden in der damals jungen Stadt nicht nur ein Exil, sondern auch eine neue Heimat. Sarajevo wurde zum Ort des Handels und des Austauschs, der im Gesicht der Stadt reichhaltige Spuren hinterlassen hat.

Der bosniakische Schriftsteller Dževad Karahasan nannte das Vorkriegs-Sarajevo darum einen "Mikrokosmos", in dem alles vorkommt, "worin die Welt westlich von Indien sich konstituiert". Im Unterschied zu den "modernen babylonischen Vermischungen in den westlichen Städten" aber gewännen die Menschen in Sarajevo ihre Identität nicht durch Abgrenzung, sondern in der Begegnung mit dem jeweils anderen, "denn alle, die in Sarajevo leben, haben in der unmittelbaren Nachbarschaft den anderen, gegenüber dem sie ihre eigene Besonderheit erkennen und das Bewusstsein ihrer eigenen Besonderheit und ihrer eigenen Identität deutlicher entwickeln können"7: Geheimnis der vielhundertjährigen fragilen, aber lebenskräftigen Multikulturalität der Stadt.

Der Krieg machte all dem ein Ende. Vor allem Kroaten, Serben und Juden verließen Sarajevo unter dem serbischen Beschuss. Heute ist die Stadt zu fast achtzig Prozent muslimisch. Sie ist wieder lebendig, doch die administrativen Strukturen, die vom Dayton-Abkommen geschaffen wurden, behindern die Entwicklung der Stadt und des ganzen Landes. Kroaten, Bosniaken und Serben entsenden je einen gleichberechtigten Vertreter ins dreiköpfige Staatspräsidium, was zu ständigen gegenseitigen Blockaden führt. Die Aufteilung des Landes in zwei etwa gleich große Teilstaaten, in die Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation Bosnien und Herzegowina, spiegelt nicht die Bevölkerungsanteile, sondern die serbischen Kriegsgewinne, und führt dazu, dass keine Seite der anderen etwas zugestehen will und eifersüchtig über die eigenen Kompetenzen wacht. Das Bildungssystem des Landes ist völlig zersplittert, die Lehrpläne folgen ethnozentrischen Vorstellungen, und vielerorts wird nach Volksgruppen getrennt unterrichtet. Und natürlich grassiert, wo es keine dynamische demokratische Entwicklung gibt, die Korruption. Die Religionsgemeinschaften, meint Alen Kristic, hätten in dieser Situation unbedingt den Schritt vom Wächteramt der nationalen Identität zum Wächteramt der Humanität machen müssen, haben es aber nicht getan. Es wäre ein herausragender Akt des Glaubens gewesen - doch sie suchen, so Kristic, weiterhin eher nach institutioneller Sicherheit als nach Gott.

Viele, mit denen wir sprechen, sind der Meinung, dass die Regeln des Dayton-Abkommens dringend reformiert werden müssen. Der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, der für die Vereinten Nationen die Umsetzung des Abkommens überwacht, hätte weitreichende Befugnisse und könnte Änderungen auf den Weg bringen. Aber offenbar gibt es von dieser Seite (und seitens der Regierungen, denen der Hohe Repräsentant verantwortlich ist) kein Interesse an Veränderungen. Und die internationale Öffentlichkeit hat Bosnien-Herzegowina inzwischen wieder aus den Augen verloren.

Das hat seinen Grund wohl auch darin, dass das Bild des Bosnienkriegs sich allzu leicht in den verbreiteten Geschichtszynismus unserer Zeit einfügt: in die Vorstellung nämlich, dass in diesem Krieg Ethnien und Religionen aufeinander losgingen, was nur bestätige, dass unterschiedliche Religionen und Glaubensformen einfach nicht miteinander leben könnten, dass es irgendwann unausweichlich zu einem "Kampf der Kulturen"8 kommen müsse. Hiergegen aber, das lernen wir in diesen Tagen in Srebrenica und Sarajevo, muss man vehement Einspruch erheben. Denn dieses Denken würde nicht nur allen interreligiösen Dialogen den Boden entziehen, dieses Denken wäre im Grunde der Sieg des Konzepts der "ethnischen Säuberung".

Und es entspricht nicht den Tatsachen. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina war kein Bürgerkrieg, in dem sich unerträgliche Gegensätze schließlich Luft machten. Im Gegenteil: Die Volksgruppen und Religionen lebten hier über Jahrhunderte gut zusammen, man war vielfach miteinander befreundet und verheiratet, wie der Schriftsteller Karahasan nicht müde wird zu betonen. Auch "die" Serben waren selbstverständlich nicht das Problem. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina war ein politisches Verbrechen, gespeist aus Nationalismus und Großmachtstreben, Zerfallserscheinungen einer postsozialistischen Gesellschaft. Dessen Akteure und Propagandisten müssen benannt und strafrechtlich weiter verfolgt werden. Die Verantwortung stattdessen pauschal den Bosniern und Bosnierinnen und ihrer religiösen Vielfalt zuzuschieben hieße, diese Menschen ein weiteres Mal zu verraten. Gebraucht wird im Lande etwas anderes: die interessierte Anteilnahme aller Menschen guten Willens, die Unterstützung derer, die etwas aufbauen wollen, Besuche und Gespräche, mehr internationale Beteiligung am jährlichen Friedensmarsch nach Srebrenica usw. - um den Friedenswilligen der bosnischen Gesellschaft den Rücken zu stärken und den nationalistischen Hasspredigern der verschiedenen Seiten klarzumachen, dass sie ihr Spiel nicht im Windschatten der Weltöffentlichkeit treiben können.

Das alles ist nicht einfach, denn es ist sehr viel Blut geflossen in diesem Land, was das Zusammenleben noch für lange Zeit prekär machen wird. Doch das nehmen wir aus Sarajevo mit nach Hause: Dass wir in Europa alle mitverantwortlich sind und es auch bleiben, wenn wir Europa sein wollen. Dass wir Bosnien-Herzegowina nicht mehr allein lassen dürfen.

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