Versöhnung einer dissonanten WeltZum 80. Geburtstag von Krzysztof Penderecki

Professor Albert Scharf, Intendant des Bayerischen Rundfunks von 1990 bis 2002 sowie Rektor und Präsident der Münchener Hochschule für Fernsehen und Film von 1996 bis 2003, würdigt den polnischen Dirigenten und Komponisten Krzysztof Penderecki anlässlich seines 80. Geburtstags am 23. November 2013.

Auch Enfants terribles werden älter. Aber nur selten bleibt ihnen der Erfolg ihrer jungen, wilden Jahre ein Leben lang bis ins hohe Alter erhalten. Nicht so bei Krzysztof Penderecki, der am 23. November 2013 seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Er wird nicht erst aus diesem Anlass als bedeutender und erfolgreichster Komponist der letzten fünf Jahrzehnte gerühmt, dessen Bedeutung schon jetzt weit in das 21. Jahrhundert hineinwirkt.</p> <p>Hatte er im ersten Jahrzehnt seines Schaffens, ab Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, als kühner Neuerer Aufsehen erregt, so gewann er danach Jahr für Jahr mit fast jedem neuen Werk an Ansehen und Wertschätzung weit über den Kreis der Avantgarde und eines Nova süchtigen Publikums hinaus. Nach seinem wohl wichtigstem Werk, der ">Maniera moderna des 20. Jahrhunderts gefundenen neuartigen Stil- und Klangelemente aufzugeben.

Das Urbild der Passion als Bezugspunkt

So entstand eine vor allem von Penderecki ganz eigentümlich geprägte Post-Moderne, die sich nicht scheute, in die neue, oft bizarr verfremdete, exzessiv ins Extreme explodierende Klangwelt bewahrte Elemente vertrauter Traditionen zu integrieren. Vielleicht hatte Pendereckis Genie auch beim Suchen und Erproben von Auswegen aus einer ihm engstirnig und steril erscheinenden Nachkriegs-Gegenwart, klassisch geschult, wie er war, die Formenwelt der großen musikalischen Tradition Mitteleuropas im Innersten nie ganz verlassen - freilich, ohne dass das zunächst ob der faszinierenden Cluster und Glissandi, der zergliederten Töne und geballten Geräusche, vor allem der "Verfremdung des Streicherklangs"1 doch verstörte breite Publikum dessen gewahr worden war. Jedenfalls merkte Penderecki früher als andere, wo die Avantgarde bereits wieder alt und unfruchtbar geworden war; er ahnte früher, dass der Weg der damaligen neuen Formen ausgeschritten war. Fortan versuchte Penderecki, die "große Synthese" zu finden von Tradition und Fortschritt, in Variationen und nicht ohne Umwege. Den Vorwurf des Verrats an der Avantgarde scheute er dabei ebenso wenig wie den Vorhalt des schnöden Eklektizismus, mit dem jene rasch bei der Hand sind, für die ernst zu nehmende heutige Musik frühestens mit Schonberg und Webern beginnt oder sich gar im Seriellen oder atonalen Geräusch erschöpft.

Gewiss hat er auch von anderen Vorfahren gelernt, wie von Igor Strawinsky, Béla Bartók, Sergei Prokofjew, Luigi Nono oder Carl Orff, zu dessen letzter Premiere, der "De temporum fine comoedia", er 1973 eigens nach Salzburg fuhr, um dem greisen Meister zu gratulieren, dem, wie er sagt, die Rhythmik und Motorik der Musik des ausgehenden 20. Jahrhunderts so viel verdankt. Wenn es um Vorbilder geht, von denen zu lernen sich empfiehlt und lohnt, nennt er selber Dmitri Schostakowitch, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Jean Sibelius … Beethovensche Werke dirigiert er oft, dem großen Vorbild zutiefst verpflichtet, und unbefangen auch zusammen mit Eigenem. Schließlich: Es war gewiss nicht nur ein Tribut an den Genius Loci, wenn er 2003 bei seiner Ehrenpromotion durch die Universität Leipzig sagte:

"Ohne die Erfahrung und das tiefgreifende Erlebnis der Musik von Johann Sebastian Bach wäre weder meine Lukas-Passion noch das Credo entstanden. Das Urbild der Passion wurde mir in den 1960er Jahren ein Bezugspunkt - es mag vielleicht paradox klingen - zum Widerstand gegen die Avantgarde. Ich griff nach dem Vorbild der Passion, um den Versuch zu unternehmen, nicht nur das Leiden und den Tod Christi, sondern die Grausamkeit des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck zu bringen."2

Gestalter neuartiger Ton- und Klangwelten

Aber bei allem Bemühen um eine moderne, aber traditionsbewusste musikalische Synthese: In Wirklichkeit ist er immer er selbst geblieben - ein meisterlicher Gestalter neuartiger Ton- und Klangwelten, vor allem aber ein Suchender, der wie kein anderer Komponist in die Tiefe der Zeit dringt und aus leidvollem Mit-Erleben dieser, unserer Zeit Ausdruck verleihen, aber auch einen Weg aus "Verwirrung und Sünde" weisen will. Im tiefsten Grunde sind alle seine Werke ´über die musikalische Ambition und Meisterschaft hinaus ein Spiegel unserer Zeit - ein aus glühendem Herzen rührender Aufruf, sich mit dieser Zeit auseinanderzusetzen, mit all dem Unrecht und Bösen, das sie prägt; eine Einladung, mit zu denken, mit zu leiden, mit zu trauern, aber auch mit zu hoffen. Am Ende allen Unrechts und Elends steht Hoffnung: die Hoffnung auf Versöhnung und Frieden.

Penderecki, der "Sonorist", wie man ihn zuweilen abschätzig genannt hat, der Schöpfer gewaltiger Klangcluster, die sich zum Geräusch ballen, ist auch ein Meister der Stille; er komponiert nachdenkliche Stille, wenn, etwa im Larghetto seines Quartetts für Klarinette und Streich-Trio (1993), ein einzelner Akkord langsam verklingt, sich aber nicht in stummer Leere verliert, sondern in dem lautlosen Kosmos einer anderen Wirklichkeit aufgeht, die ein Neues ahnen lasst, Hoffnung: Hoffnung auf Erlösung aus Mühsal, Leid und Tod.

Die Lukas-Passion, ein Memento auch der zahllosen Leidensgeschichten unserer Zeit, endet damit, dass Trompetenstimmen die Befreiung des Auferstehenden aus Tod und Grab ankündigen. In einer Fortsetzung dieser Passion in der Tradition der orthodoxen Liturgie zum Karsamstag und Ostermorgen - in der altslawischen Kirchensprache "Utrenja" genannt - bindet Penderecki die Grablegung in dramatischer Steigerung mit dem Osterereignis der Auferstehung zusammen, deren Verheißung uns über alles Leid des Irdischen hinaushebt. 27 Jahre später fügt er im Gedenken an den Holocaust die Auferstehungsvision des Propheten Ezechiel (Ez 37, 1-10) in seine große Chorsymphonie zur 3000-Jahrfeier der Stadt Jerusalem, "Die sieben Tore Jerusalems", deren sieben Teile aus von Penderecki selbst ausgewählten Texten des Alten Testaments bestehen - übrigens in der Fassung der Vulgata, nur die Prophezeiung des Ezechiel zur Wiederbelebung der Toten wird, umso eindrucksvoller, in feierlichem Sprechrhythmus hebräisch vorgetragen; nicht komponiert hat er die in den Versen davor und danach von Ezechiel überlieferte Verheißung des Landes, das der Herr seinem Volk überlassen wollte. Dafür folgen Wegweisungen von Jeremia, Daniel und Jesaja bis zu dessen Aufruf: "Mache dich auf, werde licht, Jerusalem, denn dein Licht kommt […], denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der Herr [...]" (Jes 60, 1-3). Und Psalm 48,15 beschliest das Werk: "Er ist's, der uns führet" - "Ipse nos reget in saecula."

Das "Dies irae" von 1967, ein Oratorium zum Gedenken an die in Auschwitz Ermordeten, ist ein besonders eindrucksvolles Zeugnis der bedachtsamen Verschränkung heutiger und biblischer Texte. Penderecki übernimmt nicht, wie Giuseppe Verdi das so bewegend in seiner "Messa da Requiem" tat, die aus dem 12. Jahrhundert stammende Sequenz aus der römischen Totenmesse. Die Worte zum Dies irae unserer Gegenwart stammen auch aus unserer entsetzlichen Zeit: Vor allem im ersten Teil dieses aufregenden Werks, der Lamentatio, beschworen Gedichte von Zeitgenossen, ins zeitlose, überzeitliche Latein übersetzt und eingerahmt von Psalm 116, das Bild des Grauens:

"[…] Kinderleichen aus der Tiefe der Krematorien werden die Geschichte überflugeln […] Leichen der Jungen, Leichen der Mädchen in Dornenkränzen eilen von überall her, Männerleichen von Soldatenfriedhöfen treten zum Siege an, werden frei […] Leichen aus Lagern, aus zerschossenen Städten. Leichen des Untergangs, Leichen des Unrechts eilen in Scharen her, werden nie ruhn [...]",

der am 23. November 2013 seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Er wird nicht erst aus diesem Anlass als bedeutender und erfolgreichster Komponist der letzten fünf Jahrzehnte gerühmt, dessen Bedeutung schon jetzt weit in das 21. Jahrhundert hineinwirkt.</p>

Hatte er im ersten Jahrzehnt seines Schaffens, ab Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, als kühner Neuerer Aufsehen erregt, so gewann er danach Jahr für Jahr mit fast jedem neuen Werk an Ansehen und Wertschätzung weit über den Kreis der Avantgarde und eines Nova süchtigen Publikums hinaus. Nach seinem wohl wichtigstem Werk, der so fasst der erst 1962 verstorbene polnische Dichter Wladyslaw Broniewski das Unfassbare in Worte. Der Offenbarung des Johannes und den "Eumeniden" des Aischylos sind apokalyptische Texte entnommen, bis das Werk in eine Apotheose mündet: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde" - und aus dem Auferstehungsjubel des ersten Korintherbriefs: "Der Tod ist verschlungen in den Sieg, Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" Das Werk endet mit einem Vers von Paul Valery aus dessen berühmten Gedicht "Le cimetière marin": "Wind kommt auf [...] versuchen wir zu leben."3 Welch eine Botschaft, aus dem Munde, aus dem Herzen eines Polen, in Auschwitz vorgetragen, wo einen das Grauen bis heute umfangt und ins Mark trifft!

Penderecki sucht und wagt sorgsam die Worte, die seine Musik ergänzen, verstärken sollen. Er kann seine Botschaft aber sehr wohl auch vermitteln, ohne dass er sie in Worte fasst - in "Threnos" etwa, das den Opfern von Hiroshima zugeeignet ist oder in der zweiten Symphonie, die im Jahr der Legalisierung der Solidarnosc (1980) und ein Jahr vor Verhängung des Kriegsrechts (13. Dezember 1981) tragische Ahnungen in einen dunklen, in Polen damals leidgeprüft verstandenen Klangkosmos der "dunklen Klangschatten, der aufbrausenden Stürme und geballten Entladungen"4 zwingt, zu dem die ersten Takte von "Stille Nacht, heilige Nacht" als Andeutung einer utopisch entfernten friedlichen Idylle nur umso drastischer kontrastieren. Die politischen Umstände haben diese Kunst - zu sprechen ohne zu reden - wohl befördert: Die Musik, wie Rainer Maria Rilke es ausdrückt5, als Sprache, wo Sprachen, wo Worte enden, Worte versagen oder, wo Worte nicht gewagt werden dürfen, wo das Unsägliche nicht mehr gesagt werden kann. Musik, die sich der Realität stellt und notfalls widersetzt, indem sie sich darüber erhebt. "Denn was wäre Musik", so schreibt Rilke an anderer Stelle, "wenn sie nicht ging, weit hinüber über jedes Ding."6 Penderecki selbst sprach von seinem Bestreben, eine "universelle, die Zeit überschreitende Musik" zu schaffen; er verwies auf Rilkes fünftes Sonett an Orpheus:

"Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet. Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände. Und er gehorcht, in dem er überschreitet."7

Ein Beispiel dafür ist schon sein erstes größeres Chorwerk, 1959 in Polen aufgeführt: "Aus den Psalmen Davids". Penderecki hat dafür drei Psalmen ausgewählt: Ps 28, Vers 1; Ps 30, Vers 2 und Ps 43, Vers 2, in der liturgischen Sprache Latein, versteht sich. Aufbegehren, Klage - gegen Gott, der den Menschen in seiner Not allein zu lassen scheint:

"Bist du taub, o Herr, der du mein Fels bist. Wenn du mir schweigst, kann ich gleich im Grab ruhen [...]. Ich preise dich Herr, denn du hast mich erhöht und lässt nicht zu, dass meine Feinde sich über meine Demütigung freuen [...]. Du bist mein schützender Gott, warum verstößt du mich? Warum muss ich traurig weggehen, wenn mich der Feind bedrängt?"

Dieses "Quia tu es deus, fortitudo mea, quare me repulisti et quare tristis incedo, dum affligit me inimicus?" hat einen Hintersinn, denn gerade dieser Vers hat einen Vorsatz, der ihn erst verständlich macht, ihn hat Penderecki nicht vertont, aber die noch vorkonziliare Gemeinde kannte ihn wohl als Teil des Stufengebets bei der Messfeier und dachte ihn sich dazu: "Judica me, deus, et discerne causam meam de gente non sancta, ab homine iniquo et doloso erue me" - "Schaffe mir Recht, o Gott, und befreie mich von den Gott leugnenden Menschen. Vor Menschen voll Trug und Frevel rette mich." Das wünschen sich zwar redliche Menschen überall und zu allen Zeiten, aber im Polen der Jahre bis 1989 hatte dies eine brisante aktuelle Relevanz, die uns im Westen Europas nach 1945 erspart geblieben war. Für Polen endete, wie Penderecki einmal sagte, der Krieg erst 1989.

Von Mieczyslaw Tomaczewski, Musikwissenschaftler an Pendereckis Krakauer Hochschule und sein Verleger in Polen, stammt die Aussage:

"Bei uns ist jedes sakrale Wort ein Bekenntnis mit politischer Bedeutung. Hinzu kommt die spezifische Wahl von geistlichen Texten, die von unseren Hörern politisch ganz eindeutig aufgefasst wurden; die Texte waren für uns voller Allusionen und Reminiszenzen."8

Sicher wussten die Hörer solche kryptischen Botschaften auch zu entschlüsseln, wenn sie nicht geistlich gekleidet daher kamen, wie etwa ein anderes zur gleichen Zeit und im gleichen nationalen Wettbewerb ausgezeichnetes Werk, "Strophen", das mit einem arglos anmutenden Wort von Menander beginnt: "Ja, etwas schönes ist der Mensch, wenn er Mensch ist", dann Sophokles und Jesaja zitiert ("Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen […]"), um mit dem gelehrten persischen Epigrammatiker Omar Chayyam aus dem 11. Jahrhundert zu enden:

"Von der Erde bis zum Himmel habe ich alle Fragen der Welt gelöst, mir sind alle Listen und Falschheiten aufgegangen. Ich bin frei aller Ketten außer der Kette des Todes."

In diese Freiheit will uns Krzysztof Penderecki rufen und uns, trotz aller Bosheit und Gewalt, trotz aller Schuld, die Aussicht auf Ausgleich, Vergebung, auf eine gesegnete Zukunft eröffnen. So senkt sich der Vorhang am Ende seiner Oper "Die Teufel von Loudun", einer Anklage gegen Denunziantentum und Inquisition, gegen verzehrenden Hass und todbringendes Unrecht an einem Gerechten, der auf dem Scheiterhaufen ruft: Vergib ihnen, vergib meinen Feinden! Selbst seine Oper "Die schwarze Maske" nach Gerhart Hauptmanns Einakter aus dem Nachklang des Dreißigjährigen Krieges, wo am Ende nach dem großen Hassen und Schlachten alle Unheilsträger einer quälend weiter schwelenden Vergangenheit vom Tod dahingerafft werden - der am Sklavenhandel reich gewordene Kapitalist, der selbstsüchtige Politiker, Diener, Neger, Mulattin, die Glaubensstreiter, der Abt, der Jansenist, ein Hugenotte … allein ein Jude wandert ewig weiter - endet mit einem in Glissandi eingebetteten Chor: "Confutatis maledictis, flammis acribus addictis, voca me, voca me cum benedictis, oro supplex et acclinis, cor contritum quasi cinis, gere curam mei finis" - mit der innigen Bitte der Schuldiggewordenen um Gnade aus der Sequenz der römischen Totenmesse.

Nur seine Opera buffa "Ubu Rex", dieses buffonesk verkleidete böse Stück über einen macht- und raffgeilen Usurpatoren-Clan, der vor einem Königsmord nicht zurückschreckt, endet mit der zynischen Erkenntnis, dass derlei Un-Menschen immer wieder aufs neue einen Spielplatz suchen; das Absurdistan dieses Stucks, in dem immerhin eine polnische und eine russische Armee vorkommen, hat der Ur-Autor Alfred Jarry 1896 so lokalisiert: Polen = Nirgendwo = Uberall9. Zu Jarrys Stück hatte Penderecki schon 1963 eine Bühnenmusik für das Stockholmer Marionettentheater geschrieben; der lange gehegte Plan für eine eigene Oper gedieh nicht recht. 1984 schrieb er dafür - in Polen war das Kriegsrecht verhängt und für eine absurde, wenn auch politisch recht hintergründige Groteske eher nicht die Zeit - der innersten Not der Zeit und des polnischen Volkes entsprechend sein "Polnisches Requiem"; für den lästerlichen König Ubu hatte es bis 1991 gute Weile, und nichts war versäumt - Ubu ist leider zeitlos.

Der Schluss von "Paradise Lost", einem John Milton entlehnten Oratorium über den Sündenfall, endet bei Penderecki, anders als bei Milton und im Buch Genesis, hoffnungsträchtiger: "Seid stark im Glauben, in der Hoffnung und Liebe, die stärker ist als alles" - so entlässt der strafende Erzengel das schuldig gewordene Paar, "dann werdet ihr ohne Angst aus diesem Paradies von dannen ziehen und dafür ein Paradies in Euch gewinnen." Und der Chor beschließt die Sacra Rappresentazione mit den Worten: "Durch der Zeit lange Nacht wandert nun der Mensch bis einst er an sich erfährt die heil'gen Kräfte der Harmonie, nach deren Bild er Mensch ward."

Wer Krzysztof Penderecki fragt, weshalb er denn offenbar so gerne geistliche Musik komponiere, mehr als jeder andere Komponist des 20. Jahrhunderts, erhält die schlichte Antwort: Weil ich Christ bin und auch als Christ komponiere. Oder, bei der Uraufführung der Lukas-Passion 1966 in Münster, noch bündiger, lapidarer: Weil ich katholisch bin. Bei der Arbeit an den "Sieben Toren Jerusalems" sagte er:

"Heute, vierzig Jahre nach dem Erstlingswerk, 'Aus den Psalmen Davids', kann ich klar sehen, dass allein der Homo Religiosus mit Erlösung rechnen kann."10

Die Partitur dieses Werks trägt, Joseph Haydn nachempfunden, die Widmung "ad majorem Dei gloriam et eius sanctae civitatis laudem aeternam". Sein geistliches Werk ist wahrlich eindrucksvoll, es reicht mit den "Sieben Toren Jerusalems" in die Zahl der bis jetzt acht Symphonien hinein; das "Polnische Requiem", in seinen vier Teilen den Werftarbeitern von Danzig, den Opfern des Warschauer Aufstands von 1944, Kardinal Stefan Wyszynski (1901-1981) und Maximilian Kolbe OFMConv (1894-1941) gewidmet, wurde zu einem Inbegriff nationaler Identität, das "Credo" zu seiner Missa Solemnis, außerdem Veni Creator Spiritus, Magnificat, Hymne auf Daniel - was wäre nicht alles zu nennen.

Zeugnis für Christus - Leidenschaft zur Versöhnung

Die Katholische Akademie in Bayern verlieh Krzysztof Penderecki im Jahr 2002 den Romano-Guardini-Preis, der, dem Namensgeber gemäß, Verdienste um die christliche Deutung der Zeit und Geschichte, christliches Bekenntnis und Wirken in der Gesellschaft ehren soll. Nicht die reiche Fülle sakraler Musik des Komponisten Penderecki war der Grund für den ihm zuerkannten Romano-Guardini-Preis. Es war der eigentliche Kern seines Schaffens: das Zeugnis für Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, mit dem er so beispielhaft in unsere Zeit hineinwirkt. Geehrt werden sollte die Leidenschaft zur Versöhnung einer zerklüfteten, dissonanten Welt, zur Versöhnung einer immer wieder schuldig werdenden Welt mit einem unendlich barmherzigen Gott.

Und dieser Gott ist für ihn ein konkreter Gott, kein Gott philosophischer Spekulation, sondern ein im Glauben fassbarer Gott, beinahe konnte man sagen, ein polnischer Gott, ein Gott, zu dem man beten kann, um einen Ausspruch von Martin Heidegger zu wenden. Ein Gott, wie er ihn von Kind auf erfahren hat und der ihn und die Familie über eine schlimme, eine grausame Zeit von Not und Angst und Bedrohung geführt hat. Aus dieser Wurzel kommt die Kraft zur Versöhnung der Dissonanzen, der Drang, zu bewahren, was wichtig ist, zu retten, was gefährdet ist, Zukunft zu sichern aus der Verantwortung für das Erbe und die Nachwelt. Penderecki komponiert keine Zweifel, sondern Hoffnung - eine im Glauben gründende Gewissheit.

Diese Gewissheit verlässt ihn auch nicht, wenn das Leben verwirrt, der Weg verstellt erscheint, wenn kein Ausweg sichtbar ist. Penderecki schildert schöpferische Arbeit als ununterbrochene Suche nach dem Ziel, er kennt das damit verbundene Risiko des Scheiterns und verweist auf Heideggers "Holzwege", "die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören"11.

Kein Wunder, dass Penderecki oft das Bild des Labyrinths verwendet, wenn er über seine und unsere Zeit spricht, über "la fin et le debut d'un siecle"12. Es ist das Sinnbild schlechthin für Verwirrung und Unübersichtlichkeit, Orientierungslosigkeit, mangelnden Durchblick und für dräuende Ausweglosigkeit, die uns umstellen, uns ängstigen; das Labyrinth ist aber auch Verheißung - der bedachtsam, umsichtig, glaubend Suchende kann den richtigen Weg finden.

So verwirrend das Labyrinth erscheinen und sein kann, es vermag auch zu bergen und zu verbergen. Den Weg in die Freiheit findet freilich meist nur, wer den Umweg nicht scheut, wer auch in Sackgassen nicht verzagt, über allem Anschein unüberwindlicher Widrigkeit stete Hoffnung bewahrt und die Demut und Kraft zur Umkehr, zur Metanoia, zum Um-Denken, zum Neu-Denken der Welt, zum Neu-Begreifen unserer Existenz.

All dies hat Krzysztof Penderecki erfahren: als Zeitgenosse, als ein der Kunst Geborener, als Musiker aus Leidenschaft, als Mensch, dem das Wahre ins Herz gebrannt ist, der aber auch die Nacht und Demütigung der Unfreiheit erlebte. Er zitiert selbst gelegentlich einen Satz von Gustav René Hocke über die Welt als Labyrinth: "Der Umweg führt zum Mittelpunkt. Nur der Umweg führt zur Vollkommenheit."13 Der Befund stammt aus einer Betrachtung der Zeit und Kunst des Manierismus. Doch so unähnlich war die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts der unseren nicht: Der 1933 geborene, Mitte der 50er Jahre erstmals in Krakau und Warschau in die Öffentlichkeit tretende junge Komponist sah sich in einer recht ähnlichen Situation machtpolitischer Verwirrung und grundstürzender geistiger Umbrüche. Wieder öffneten naturwissenschaftliche Erkenntnisse dem Weltbild atemberaubende neue Dimensionen und dem Menschen Gelegenheit zu neuer Hybris.

Die Welt war gespalten und führte einen, wenn auch kalten, so doch ideologisch erbitterten Krieg; die Machtblöcke rüsteten um die Wette, womöglich mit dem Risiko, nicht nur den Gegner und sich selbst, sondern die Schöpfung und alle menschliche Existenz zu vernichten. Grausame, blutige Kriege waren gerade durchlebt; unsägliches Leid durch unsägliche Schandtaten über die Menschen gekommen. Und wer im östlichen Polen, zur Ukraine, damals zur Sowjetunion hin, geboren und aufgewachsen war, hatte alles mit angesehen, auch wie die Hälfte der Einwohner der Heimatstadt Debica, jene, die Jiddisch sprach, zusammengefangen und abtransportiert wurde - später wusste man dann, wohin. Man wusste, je näher das Grauen drohte, dass es Auschwitz gab und Treblinka und alle die Todeslager. Man wusste wohl auch von Katyn und merkte bald, dass man 1944 nur in neue Repressionen eines anderen menschenverachtenden Regimes und in einen Friedhofsfrieden befreit worden war.

Polnischer Frühling für Kunst und Künste

Denkende, aufgeweckte junge Menschen, aus der in der Kindheit erlebten Unterdrückung besonders im Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit aufgewachsen, mussten alles, was war und bestand, als abgewirtschaftet, verbraucht, als durch Gewalt und Mord, Leid und Elend kompromittiert empfinden. Dazu gehörte der junge Penderecki, der neben Musik zunächst einige Jahre alte Sprachen, Literatur und Philosophie studiert hatte - freilich ohne Studienplatz, der ihm als Sohn eines bürgerlichen Rechtsanwalts nicht zustand, er war kein Arbeiter- und Bauernkind und zudem unverhohlen katholisch.

Man suchte nach neuen Formen und Inhalten, auch in der Kunst, allerdings nicht, um allein um der Kunst willen keck und kühn eine neue Mode, eine neue Ästhetik zu schaffen, sondern um das leidvoll Bestehende hinter sich zu lassen, um dem parteiamtlichen ästhetischen Kanon des sozialistischen Realismus zu entgehen, dem alles Ungewohnte, auch die neuen Strukturen der Musik, wie sie aus dem bösen kapitalistischen Ausland irgendwie eingeschmuggelt wurden, verdächtig war; derlei galt als revisionistisch, subversiv, umstürzlerisch. Zum Glück, auch für den jungen Penderecki, wagte man gerade im Polen dieser für ihn entscheidenden Jahre dann aber doch nicht zu verbieten, was eigentlich verboten war, zum Beispiel geistliche Musik, auch wenn sie sich in neuen, ganz und gar ungewohnten Formen darbot. Zu stark war die Mehrheit der mehr als 90 Prozent der Bürger, die sich zur katholischen Kirche bekannten und in ihr unter der ebenso klugen wie charismatischen Führung des Kardinals Wyszynski geistigen und gesellschaftlich-politischen Halt fanden. Die machthabende Nomenklatura wusste, dass es Grenzen der Unterdrückbarkeit gab, und die machtlose Mehrheit wusste, dass der nationale Kommunismus immerhin die Sowjetunion vor der Tür hielt.

So gab es, etwa ab 1956, nach den blutigen Arbeiterunruhen in Posen, eine Art polnischen Frühling für Kultur und Künste. Und die Avantgarde der jungen polnischen Intelligenz, wie eben Krzysztof Penderecki, nutzte ihn - für sich und für ihr Volk, zu dessen Trost und Selbstachtung und zur Überraschung der Welt draußen, im Westen zumal, der sich in satter Selbstgefälligkeit allein für innovations- und fortschrittsfähig hielt. Dazu brauchte man nicht nur überzeugendes Können, sondern vor allem Mut. Auf Penderecki und seinen Freunden in Polen lastete die Geschichte unserer Zeit ungleich schwerer als auf gleichaltrigen Zeitgenossen im freien, politisch vergleichsweise risikolosen Westen. Und die Geschichte seines Volkes, die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts lastet auf seinem Schaffen. Sein Werk tönt, erzählt von dieser Geschichte und sucht sie zugleich zu uberwinden.

Arche und Baum

Es ist bezeichnend, dass ihn offenbar seit langem zwei Bilder besonders beschäftigen: die Arche und der Baum. Die Arche, die das Bewahrenswerte jeglicher Art vor zerstörender Überflutung und Untergang schützt, und der Baum, der im Boden wurzelt und daraus die Kraft zu stetig neuer Zukunft gewinnt. Es ist seltsam: In den privaten Aufzeichnungen von Romano Guardini findet sich nach einem Spaziergang am Pfingstmontag des Jahres 1953 der Satz: "Welch eine Anwesenheit, solch ein Baum! Er ist allemal eine Welt; geht in die Tiefe hinab, steigt auf, greift in den Raum hinaus. Ist still und lebt."14 Das könnte auch Penderecki in seinem geliebten Arboretum in Luslawice so empfunden haben! Dort kehre er, so hat er einmal bekannt, in sich zurück und dies sei für die Authentizität seines Schaffens unentbehrlich.

Eben dort, in Luslawice, knapp 100 km östlich von Krakau, hat er Mitte dieses Jahres ein ungemein großzügig ausgelegtes "Europäisches Krzysztof-Penderecki- Musikzentrum" eröffnet, mit Studien- und Seminarräumen, Bibliothek und einem 650-Plätze-Musiksaal von bester Klangqualität, ein modernes architektonisches Kleinod in barocker Umgebung und nächst dem ausgedehnten, fünf Hektar großen Arboretum Pendereckis. Es soll eine Begegnungsstätte sein für junge musikalische Talente und ausgewiesene Meister der Musik, zur Förderung schöpferischer Phantasie und musikalischer Praxis, aber auch zur Vermittlung der philosophischen Grundlagen des kulturellen Erbes Europas. Penderecki wird dazu mit dem Bekenntnis zitiert:

"Keine Kunstform kann überleben, wenn sie keine Wurzeln hat. Schauen wir uns doch ganz einfach einen Baum an: er lehrt uns, dass ein Meisterwerk sowohl im Himmel als auch im Boden verwurzelt sein muss, und, dass dies immer die wichtigsten und fundamentalsten Werte sind, die dabei zusammenwirken."15

Der Genius loci des Arboretums als Vermächtnis! Vielleicht sinnt er aber dort auch dem Wissen nach, dass alles Irdische vergänglich ist - wie in den "Liedern der Vergänglichkeit" in seiner 8. Symphonie aus, wie immer bedachtsam gewählten, Gedichten Joseph von Eichendorffs, Rilkes, Achim von Arnims, Goethes, Hermann Hesses, die alle von Bäumen im Jahres- und Lebenslauf handeln: Von Rilkes "Herr, es ist Zeit" bis hin zu Bert Brechts brennendem Baum, der irgendwann in einer letzten Stunde da stand "so wie ein alter Recke, müd, todmüd doch königlich in seiner Not". Dort mag ihm dann auch Hesses "Frühlingsnacht" in den Sinn gekommen sein:

"In den Garten unbelauscht / schlummern mondbeglänzte Bäume, / durch die runden Kronen rauscht / tief das Atmen schöner Träume. / Zögernd leg ich aus der Hand / meine, warmgespielte Geige, / träume, sehne mich und schweige."

Doch, wie konnte es bei Penderecki anders sein, auch diese Lieder der Vergänglichkeit munden, mit Worten Achim von Arnims, in die Aussicht dessen, der den grünen Baum des Lebens in sich entdeckt hat: "Es ward mein Sinn erheitert, die Welt mir aufgetan / Der Geist in Gott erweitert, unendlich ist die Bahn!" Umgekehrt könnte die Erinnerung an Jakobs Erwachen nach dem Traum, die Penderecki zum Anlass einer symphonischen Reflexion nahm, ein Bild Guardinis sein: Gott ist hier, ist überall, auch wenn wir ihn gerade nicht wahrnehmen - jener Gott, von dem Jakob die Gewissheit erfuhr: Ich werde dich behüten, wo immer du hingehst.

Neben der zitierten Literatur habe ich Hinweise zur Biographie und zum Werkverständnis vor allem entnommen: Ray Robinson / Allen Winold, Die Lukaspassion von Krzysztof Penderecki. Celle 1993; Karl Kardinal Lehmann, Einführung: Neue Musik zwischen künstlerischer Autonomie und kirchlichen Erwartungen, in: Musik - Sprache wo Sprachen enden. Neue Musik zwischen künstlerischer Autonomie und kirchlichen Erwartungen. Dokumentation eines Werkstattgesprächs Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 18. bis 21. April 2002 auf Schloss Hirschberg. Bonn 2002, 7-16; Clytus Gottwald, Vom Geistlichen in der Neuen Musik, in: ebd.; Jean-Noel von der Weid, Die Musik des 20. Jahrhunderts. Von Claude Debussy bis Wolfgang Rihm. Ein Handbuch. Frankfurt 2001 - sowie nicht zuletzt durch Begegnungen und Gespräche mit Krzysztof Penderecki selbst.

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