Mystik

Mystik beschreibt das Bemühen eines Menschen um die Erfassung des Göttlichen. Gläubige möchten den unbegreiflichen Gott ganz persönlich erleben, ihn aus nächster Nähe anbeten und Kraft aus ihm schöpfen. Doch was bedeutet Mystik in unserem modernen Geistesleben konkret?

Mystik
© Pixabay

Oft wird Mystik fälschlicherweise mit Spiritualität oder Esoterik gleichgesetzt bzw. verwechselt. Tatsächlich stellen wir uns unter dem Begriff häufig etwas anderes vor, als wirklich dahinter steckt. Mystische Strömungen kommen in allen Weltreligionen vor und haben die verschiedensten Ausprägungen. Die große Suche nach Erfüllung in der Mystik ist heutzutage brennender denn je und fordert besonders die christlichen Kirchen der westlichen Welt heraus.

Was Mystik eigentlich bedeutet

Mystik ist in unserem geistlichen Leben präsenter, als wir vielleicht denken. Mystik will etwas beschreiben, was nicht Praxis, sondern Erfahrung ist. Der Mystiker sucht die Erfahrung göttlicher Wirklichkeit. Heutzutage ist dafür die Bezeichnung Spiritualität populärer geworden.

Das Wort Mystik lässt sich auch mit „geheimnisvoll“ oder „Mund oder Augen schließen“ übersetzen. Christliche Mystik bedeutet im Wesentlichen das Abschalten von Kopf, Herz und Hand. Wer Mystik praktiziert, will loslassen von festgefahrenen Dogmen und Lehren und nicht den Weg des Verstandes, sondern den des Herzens, also des Gefühls, gehen.

Was christliche Mystik ausmacht

  • Gott unmittelbar erfahren und mit ihm in Beziehung treten, ins Gespräch gehen
  • Sich einlassen auf Jesu Rat und Beistand
  • „In Christus sein“, Eins werden mit Christus
  • Dem Heiligen Geist im Inneren Raum schaffen
  • Das Herz reinigen, von Sünde befreien (siehe Psalm 51,9)
  • Empfänglich werden für eine schöpferische Einwirkung und Gottes Sprechen in das Leben
  • Erwartungen von der Welt rücken in den Hintergrund; es zählt nur Gottes Wille

Wie Gott im Alltag erfahrbar wird

  • Gott spricht durch andere Menschen, durch Gebet und durch das Studieren der heiligen Schrift, der Bibel
  • Durch Kontemplation oder Meditation mit Gott in Verbindung treten
  • Mantrisches Beten bzw. „Herzensgebet“ (z.B. ein Wiederholen und Verinnerlichen der Worte „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“)
  • Gottesdienste
  • Musik bzw. lebendiger Lobpreis / Anbetung des Göttlichen
  • Besuche von sakralen Orten wie Kirchen, Klöstern
  • Sich durch den heiligen Geist „überführen“ lassen: erkennen, was Egoismus, Erfolgssucht, Stress etc. ist und somit irdisch und nicht heilig ist
  • In allem, was im normalen Alltag passiert, Gottes heilige Gegenwart erhoffen bzw. erwarten

Mystik als Chance der heutigen Kirche?

„Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.", hat der berühmte Theologe Karl Rahner einmal gesagt.
Der heutige Christ braucht einen erfahrbaren Glauben und eine Beziehung zu einem nahbaren Gott. Ohne greifbare Gotteserfahrung können wir unsere Mitmenschen von der Authentizität des Christentums kaum überzeugen. Eine Frage, die man sich nach einer intensiven Auseinandersetzung mit christlicher Mystik sicherlich stellen kann, ist, ob Mystik die „Rettung“ unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft bedeuten kann. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass immer weniger Christen Interesse an der Theorie des Glaubens haben – vielmehr jedoch an der realen Wirksamkeit derer. Der Begriff „Generation Lobpreis“ ist in vielen christlichen Kreisen schon sehr geläufig. Er will die jungen Leute bezeichnen, die sich in ihrem Glaubensleben nahezu ausschließlich auf Lobpreis als Form der Anbetung Gottes konzentrieren, weil Lobpreis – besonders in pfingstlerischen und charismatischen Kirchenbewegungen – als etwas sehr Erfahrbares angesehen und auch vermehrt mit körperlich spürbaren Gotteserfahrungen verbunden wird. Diese Tatsache stellt lässt darauf rückschließen, dass Christen nie aufgehört haben, Gott zu suchen – sondern eher im Gegenteil, es nun mehr denn je tun. Die Religionen sind geprägt von dem Versuch, einen ungreifbaren Gott greifbar zu machen.

Die Kirche ist nun am Zug: Es gilt, ihren Bezug zur Mystik wiederherzustellen und sich von verkopftem Denken und Fühlen zu lösen, um die Säkularisierung abzuschwächen und den Menschen das zu geben, was sie so offensichtlich brauchen: einen Rahmen, der es möglich macht, Jesus zu begegnen. Zum Beispiel könnten katholische Messen mit christlicher Musik untermalt werden oder der Predigtinhalt könnte so gestaltet werden, dass mehr das Innere angesprochen wird und der Kopf abschalten darf.

Margot Käßmann über Mystik

"Mystik scheint vielen eine eher fremde Form der Spiritualität. Mich hat besonders fasziniert, dass mit Dorothee Sölle eine Protestantin, die ihr Leben lang stark dem politischen Engagement verpflichtet war, ihr Alterswerk zur Mystik geschrieben hat. In vielen Beispielen macht sie deutlich, wie Mystik, dieses Geheimnis, diese Sehnsucht nach Gott, Menschen überwältigen kann und zu tiefen religiösen Erfahrungen führt. Und gleichzeitig ringt Dorothee Sölle darum, diese Mystik mit der Welt zusammenzuhalten.

Wer Texte der Mystik liest, ahnt, dass sie von einer tiefen, ja überwältigenden Gotteserfahrung gespeist sind. Und gleichzeitig ist gerade den Mystikerinnen und Mystikern offenbar besonders bewusst, wie begrenzt unsere Sprache ist, um Gotteserfahrungen überhaupt in Worte zu fassen. Es ist deshalb schwer, Mystik zu definieren, einzugrenzen.

Es gibt Menschen, die ihr Leben ganz der Mystik, der Gottesbegegnung, widmen. Dorothee Sölle will eher ermutigen, „die eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen, sie aufzubewahren, sie zu ,rahmen‘, wie wir es mit einem uns wichtigen Foto tun“. Dabei eine Balance zu halten zwischen den eigenen Säulen und der mystischen Erfahrung, erscheint mir wichtig. Sonst ist jede Erfahrung von Ergriffenheit gleich eine mystische Erfahrung. „Wenn es eine christliche Mystik gibt, dann müsste es eine solche Mystik der Verschränkung von Innen und Außen sein ... Bei dieser Mystik werden also auch unsere Sinne nicht etwa ausgeschaltet, sondern vielmehr geschärft, so dass wir Augen bekommen zu sehen, staunend zu sehen und Ohren zu hören, staunend zu hören.“

Mystik wird auch als „cognitio dei experimentalis“, als Versuch der Erkenntnis Gottes, definiert. Ihr Höhepunkt ist die „unio mystica“, die Vereinigung meiner Seele mit Gott, die sich in Ekstase ausdrücken kann. Diese Erfahrung wird vorbereitet durch einen Weg von innerer Reinigung und Umkehr, von Stille und Staunen. Von Verzückung und Entrückung ist in vielen Schilderungen die Rede. Ich nehme an, es ist der Eindruck von einem völligen Loslassen der Welt. Hier die biblischen Bezüge festzuhalten, dürfte besonders schwer sein.

Nach meinem Verständnis ist Mystik ein Weg der Spiritualität, den ich nicht eben mal an einem Wochenende gehen kann, den ich nicht ausprobieren kann wie eine Wegstrecke auf einem Pilgerpfad, den ich auch nicht in einem Kurs absolviere. Wer sich auf diesen Weg begeben will, muss im Grunde das ganze Leben neu ausrichten. Es kann ein Weg sein, der viele Jahre dauert.

Persönlich ist mir Mystik eher fremd geblieben. Aber mich faszinieren die wunderbaren Texte und Gedanken. Sie lassen uns etwas ahnen von den Möglichkeiten und Tiefen der Begegnung mit Gott."

Quelle: Mitten im Leben 6/2020

Gefahren von christlicher Mystik

1.    Gott begreifen wollen

„Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“ (Lutherübersetzung 1912).
Wer sich in der Bibel auf die Suche nach Mystik begibt, wird schnell auf diese Stelle im ersten Korintherbrief stoßen, in der Paulus einen gehaltvollen Einblick in seine Gedanken gibt. Das „Stückwerk“, von dem er spricht, beschreibt die Unmöglichkeit, dass Gott für uns Menschen begreifbar wird. Wir Menschen werden Gott nie ganzheitlich verstehen können. Daher ist es wichtig, in der mystischen Praxis demütig und bescheiden zu bleiben.

2.    Sich selbst nicht prüfen

Sich mit Mystik zu befassen bedeutet auch, nicht immer alles gleich zu verstehen. Oft sammelt man Erfahrungen, die zuerst einmal fremd sind und sich ungewohnt anfühlen. Dort fehlt dann das nötige Urteilsvermögen, was wahr ist und was Produkt des eigenen Verstandes ist. Christen sollten offen dafür sein, sich vom Gegenüber ermahnen zu lassen und sowohl vor Gott, als auch mit anderen Brüdern und Schwestern im Glauben das Erlebte zu prüfen.

3.    Leistungsdruck

Der Kernpunkt der Mystik und zugleich der Kernpunkt des gesamten christlichen Glaubens ist es, dass wir nichts durch eigene Leistung erbringen können, sondern gänzlich auf Gott angewiesen sind. Dinge wie Kontemplation und Meditation können zwar geübt werden, aber das Erfahren Gottes ist sein Gnadengeschenk an uns und entspringt keinesfalls aus unserer persönlichen Leistung.

4.    Biblische Grundlage?

Mystik verspricht das Loslassen von eingefahrener Lehre und trockener Theorie. Allerdings ist Mystik ohne fundierte biblische Lehre äußerst fragwürdig. Ohne biblische Grundlage gerät der Mystiker in Gefahr, sich ein personalisiertes Gottesbild zu schaffen, das auf seinen subjektiven Erfahrungen und nicht auf der Bibel basiert. Kritiker der „Generation Lobpreis“ bemängeln zudem oft, dass eine höhere Aufmerksamkeit auf die Wirksamkeit des Spirituellen oftmals zur Folge hat, dass die wissenschaftliche Erkenntnis auf der Strecke bleibt.

Mystik in den Weltreligionen

Die allgemeine Definition von Mystik lautet in etwa „Erfahrungen mit einer göttlichen Wirklichkeit machen und sich um diese Erfahrung bemühen“. Dies lässt sich noch genauer differenzieren: In monotheistischen Religionen bezieht sich eine mystische Erfahrung immer auf die Erlebbarkeit Gottes und dem Bestreben danach. In theistischen und polytheistischen Religionen liegt der Fokus tendenziell auf keiner konkreten göttlichen Person.

Zwei Religionen im Vergleich:

In der hinduistischen Mystik geht es darum, sich selbst durch eigene Leistung höherzustellen (Kastensystem) und das eigene Selbst zu optimieren. Im Christentum hingegen ist man der Überzeugung, dass es möglich und notwendig ist, mit Gott in eine reale Beziehung und in den Dialog zu treten. Christliche Mystiker legen ihren Fokus darauf, Gottes Nähe zu suchen und ihn zu verherrlichen. Eine klare Bezogenheit auf Jesus Christus als Erretter nimmt in diesem Denken die Vorherrschaft ein.

Christentum – Westliche und Orthodoxe Mystik

Die westliche Mystik wurde von Lehrern wie Meister Eckhart, Teresa von Avila, Augustinus von Hippo oder Franz von Assisi geprägt. Franz von Assisi wird in der römisch-katholischen Kirche als Heiliger verehrt und legte in seiner Lehre den Schwerpunkt auf die Barmherzigkeit und Güte Gottes. Unter seinen zahlreichen Werken gibt es viele Gedichte und Lieder, die auf den heiligen Geist hinweisen und von der Fülle, die in Gott gefunden werden kann, erzählen.
Meister Eckhart ist der wohl bekannteste Mystiker, der auch bedeutenden Einfluss auf Martin Luther genommen hatte. Er predigte hauptsächlich über die „Geburt Gottes in der Seele“. Damit meint er das Reinwerden des Menschen von aller Sünde, sodass Gott einen Raum im inneren des Menschen haben und ihm vergeben kann. Eckhard lehrt, dass der Mensch erst „leer werden“ muss, um dann von Gott erfüllt zu werden.
Mystiker der heutigen Zeit sind beispielsweise Anselm Grün, Johannes Hartl und Leo Bigger, die sehr viele Anhänger haben.

Das orthodoxe Christentum wird tendenziell als besonders mystisch wahrgenommen. Der am meisten verbreitete mystische Ritus der Ostkirche ist der byzantinische Ritus. Dieser Ritus umfasst eine sehr feierliche, zeichen- und symbolreiche Form des Gottesdienstes, in der es viel um die Verehrung der Ikonen (Heiligenbilder) geht. Die Ikonen sind meist auf Holz gemalt und kirchlich geweiht. Sie sind für die Spiritualität in Ostkirchen zentral und sind auch im privaten Bereich als Andachtsbilder verbreitet. Mit der Verehrung der Ikonen erinnern sich orthodoxe Christen an christliche Wahrheiten und an die direkte Gegenwart Gottes. Man verneigt und bekreuzigt sich vor ihnen oder wirft sich zu Boden.
Vladimir Lossky prägte die orthodoxe Kirche mit seiner Theologie maßgeblich, unter anderem auch durch sein Werk „Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche“. Er legt einen Schwerpunkt darauf, dass die ostkirchliche Tradition nicht zwischen Mystik und Theologie unterscheiden sollte, sondern dass beides unabdingbar zusammengehört.

Islam

Im Islam findet sich die Mystik in dem sogenannten „Sufismus“ wieder. Dieser Begriff bezeichnet Strömungen im Islam, die eine starke spirituelle Orientierung aufweisen. Sufismus ist bis heute ausschlaggebend für die Gewinnung von Nicht-Muslimen für den Islam. Die Sufis praktizieren eine tägliche Übung namens Dhikr, was „Gedenken an Gott“ bedeutet. Dabei wird der Koran rezitiert und mantrisch gebetet, manchmal ist dies mit bestimmten Bewegungen verbunden. Der Sufismus lehrt, dass jeder Mensch einen Funken Göttlichkeit in sich trägt.

Judentum

Der Begriff „Kabbala“ bezeichnet eine mystische Tradition des Judentums. Die Basis dieser Tradition sind deren Schriften, jedoch gibt es keine allgemeingültigen Dogmen. Die jüdische Mystik ist von verschiedenen Lehren und Praktiken wie zum Beispiel die Stufen der Weisheit, dem Weltenbaum, den Entsprechungen von Oben und Unten etc. geprägt.

Buddhismus

Ein großer Bestandteil der buddhistischen Mystik ist der Zen-Buddhismus aus China. Die Praxis des Zens fordert größte Hingabe. Viele buddhistische Ordensleute widmen sich ihr bis zu 12 Stunden am Tag. Ihr Ziel ist es, durch diese Geistesschulung zur Ruhe und Gelassenheit zu kommen, aus derer sie die Welt objektiv betrachten und eine universelle Einheit mit ihr spüren können. Diese Form von Meditation nimmt sich keine besonderen emotionalen Zustände zum Ziel, sondern soll ein klares Bewusstsein schaffen. Es geht also nicht um die Erfahrung eines göttlichen Wesens, sondern um die Selbsterfahrung.

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