Gewissen

Gewissen (griechisch „syneidesis“, lateinisch „conscientia“) bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, Haltungen und Handlungen ethisch zu beurteilen, sowie die Freiheitserfahrung, in der ein Mensch sich seiner Verantwortung bewusst wird.

Geschichtliches und Begriffliches

In den biblischen Offenbarungszeugnissen wird das Gewissen umschrieben und als Begriff verwendet. In den Umschreibungen dessen, was mit Gewissen gemeint ist, spricht die Schrift vom Herzen, in das der Wille Gottes geschrieben ist (Röm 2, 15), das versteinern (Ez 11, 19) oder geteilt (Jak 1, 8) sein kann, das beschnitten werden muss (Apg 7, 51), in dem das Licht der göttlichen Wahrheit leuchtet (2 Kor 4, 6). Wer ein „reines Herz“ hat, der wird Gott schauen (Mt 5, 8 28; vgl. 12, 34 f.).

In der griechischen Philosophie des 1. Jh. v.Chr. kam der Begriff Syneidesis für „sittlich urteilendes Selbstbewusstsein“ auf (bei Cicero †43 v.Chr. und a. röm. Philosophen „conscientia“); er ging auch in die apostolischen Schriften des NT ein. Für Paulus haben die Starken im Glauben das Gewissen der Schwachen (1 Kor 8, 7–13) und das Gewissen der Heiden (1 Kor 10, 28 f.) zu achten. Die ethischen Anforderungen sind von Natur aus in das Herz der Heiden eingeschrieben und werden vom Gewissen mitbezeugt (Röm 2, 14 ff.).

In der Theologiegeschichte befasste sich Thomas von Aquin († 1274) eingehend mit dem Gewissen Er unterschied die Gewissensanlage als die Fähigkeit, gut und böse zu erkennen und sich für das Gute zu entscheiden, von der Gewissenstätigkeit als dem konkreten Gewissensurteil in einer konkreten Situation. Hinsichtlich dieses Urteils betonten die Anhänger des Thomismus die Bestimmung durch die Vernunft, während die Franziskanerschule im Willen das bestimmende Moment sah. Das Gewissensurteil kann nach übereinstimmender Tradition fehlgehen, weil ihm falsche Informationen oder Irrtümer zugrunde liegen können oder es falsche Schlussfolgerungen zieht; es bleibt für den Menschen dennoch verpflichtend. Die Redeweise vom „irrigen Gewissen“ ist allerdings falsch, da nicht die Gewissensanlage als solche, sondern nur das konkrete Urteil irrig sein kann.

Für die ganz vom Gedanken der Rechtfertigung aus Gnade allein bestimmte reformatorische Theologie hat das Gewissen die Funktion, die Sünde ins Bewusstsein zu rufen.

In der Philosophie der Neuzeit wurde das Gewissen im Zusammenhang mit der Frage nach Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung diskutiert. Während das II. Vaticanum sich positiv zum Gewissen äußerte (GS 16) und die Gewissensfreiheit als Religionsfreiheit anerkannte, vermehrten sich die Warnungen der kirchlichen Leitungsinstanz vor Irrtümern und möglichem Missbrauch des individuellen Gewissens, verbunden mit dem Anspruch des Amtes, bei der Vermittlung von Normen an das Gewissen mitzuwirken.

Systematisch

Der Mensch, der sich in seiner konkreten Situation entscheiden muss und dennoch von der möglichen Falschheit seines Gewissensurteils weiß, ist auf die Gnade Gottes angewiesen, die seine Freiheit befreit. Dies immer vorausgesetzt, kann zusammenfassend folgendes gesagt werden. Die Bildung der inneren Überzeugung ist in die Verantwortlichkeit der Person gegeben und muss sich darum auf alles beziehen, was mit „Person“ gesagt ist: Verantwortung vor Gott als dem richtenden Geheimnis, vor dem eigenen Ich und seiner inneren Wahrheit (Wahrhaftigkeit) und vor dem sozialen Umfeld, den Beziehungen dieses Ichs. „Bildung“ des Gewissens bedeutet, dass seine Reflexion über die vorgegebenen Wirklichkeiten vertieft und geschärft werden kann. Dazu gehört, dass der Mensch die von ihm erkannten objektiven Normen (aus Gottes Offenbarung und dem Sittengesetz) in seinem Freiheitsakt bejaht. Diese objektiven Normen werden dem Menschen aber nur durch die Vermittlung seines personalen Gewissensurteils überhaupt präsent. Die objektiven Normen müssen also in ihrer Herkunft, in ihrer genaueren Bedeutung und in ihrem Geltungsanspruch von der Vernunft erkannt werden; sind sie Ergebnis einer Interpretation (wie das bei der Interpretation der aus der Offenbarung abgeleiteten Normen durch das kirchliche Lehramt der Fall ist), dann muss diese Interpretation sich in jeder Hinsicht (nach ihren eigenen Quellen, Voraussetzungen, mitschwingenden Meinungen usw.) als vernunftgemäß und argumentativ überzeugend ausweisen, weil andernfalls die interpretierend vorgetragenen Normen gar nicht Gegenstand eines Gewissensurteils werden können. Sind die Voraussetzungen für ein Gewissensurteil gegeben und erfolgt dieses, dann ist es in jedem Fall absolut bindend. Ob und wie es erfolgt, hängt aber von der Stellungnahme des Willens zur vernünftigen Erkenntnis ab. Von da aus kann in mehrfacher Hinsicht von Gewissensfreiheit gesprochen werden: a) die Freiheit des Willens, die Forderungen des Gewissens anzuerkennen oder nicht; b) die Freiheit, gegenüber jeder Beeinflussung von außen dem Gewissen allein zu gehorchen; c) die Freiheit, im sozialen Umfeld gemäß dem eigenen Gewissen zu leben (Toleranz).

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

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