Zeit für Herbstfarben

Liebe Leserinnen und Leser,

bald ist es wieder soweit. Endlich! Die Natur führt ihr jährliches Schauspiel auf. Der Titel: Bunt sind schon die Wälder, Farbenlächeln oder so. Der Weg durch den Wald mag in diesen Tagen derselbe sein wie sonst, aber die Farbspiele der Blätter, die ihn umkleiden, sind unerschöpflich. Und das taucht auch den Weg, auf dem du gehst, für eine begrenzte Zeit in ein neues Licht.
Kurze Zeit nur steht diese Aufführung auf dem Spielplan, dann wird sie vom Winde verweht. Bald verschwinden die Farben wieder im Grau des Novembers. Doch bis dahin gibt die Natur alles. Da wirft sie sich für ein paar kostbare Wochen ihre schönsten Kleider über und taucht ihre ganze Umwelt ein in ein Spiel aus bezaubernden Herbstfarben. Das ist kein fest einstudiertes Schauspiel, das ist echtes Improtheater. Jeden Tag eine Abwandlung, eine Nuance intensiver, und aus Statisten werden in diesem Spiel über Nacht die Hauptdarsteller.
Ich liebte es schon als Kind, durch den Herbstfarbenwald zu streifen, über gestapelte Baumstämme zu balancieren, in Blätterhaufen herumzuhüpfen, schließlich die bunten Kunstwerke vor meinen Füßen zu sammeln und sie dann in den schweren Büchern der väterlichen Lexikonausgabe zu plätten und zu trocknen, wo sie die erstaunten Eltern Jahre später fanden.

Fast jeder Mensch hat eine Lieblingsjahreszeit, fast jeder Mensch eine Lieblingsfarbe.
Ich mag es sehr, das leicht verwaschene Bunte am Herbst, seine Aquarelltechnik mit den ineinanderfließenden Farben, die für ein paar bezaubernde Wochen als grandioses Bühnenbild dienen. Keine Frage, auch das knallige Blühen im Frühjahr ist umwerfend schön; die Erhabenheit eines Sommerabends, die endlose blaue Weite über dem Meer oder das kitschverdächtige und doch echte Gipfelglühen lassen mich genauso fassungslos zurück wie ein eisklarer, schneeweißer Wintertag (wo immer es ihn noch gibt). Doch keine andere Jahreszeit versetzt mich in einen Zustand tieferer Freude als der Herbst mit seinen Farben; er nimmt mich einfach hinein in dieses bunte, fröhliche und zugleich tief melancholische Schauspiel, das wahrscheinlich gut zu mir passt, das mir in besonderer Weise liegt und angenehm ist.

Der wiederkehrende Jahreslauf lädt uns Menschen ein, das Leben nach den Jahreszeiten, also nach seiner Natur und auch nach ihrer Couleur, auszurichten. Denen, die beruflich mit der Natur arbeiten, liegt der Rhythmus der Jahreszeiten im Blut; andere, etwa in Großstädten, passen sich immerhin noch den Farben der jeweiligen Jahreszeit an mit der Auswahl ihrer Kleidung: Im Winter wird in gedeckten dunklen oder weißen Tönen herumspaziert, im Frühling Blütenhaftes aufgetragen, im Sommer geht es farbig zu wie auf einer ungemähten Wiese vor den Stadtmauern, gefolgt von schönsten leichten Herbsttönen, bis sich dann wieder die Rückkehr zum gedeckten Dunkel und Hell des Winters einstellt. Das Leben und die Mode richten sich auch farblich nach den Jahreszeiten aus, mal bewusst, in den meisten Fällen unbewusst.

Aber nicht nur der Jahreslauf, auch einzelne Lebensabschnitte haben ihre Farben wie die Jahreszeiten: Der Frühling als Kindheit wird begleitet mit blühendsten Farben auf kleinen Dinosaurier-T-Shirts und quietschrosa Turnschuhen. Je bunter, je besser. Der Sommer des Lebens als die Zeit „der besten Jahre“ mit schier unerschöpflichen Kräften, unzähligen Aufbrüchen und Plänen, der Gründung von Lebensgemeinschaften und Familien, der Zeit weltumspannender Reisen und der Ernte von immer mehr Früchten im Beruf spiegelt sich in signalhaft farbigen Anzügen und Hemden und Kleidern wieder, auch in teuren Uhren und Schmuck, die auf der Haut getragen werden wie ein Hinweis auf die glänzenden reifen Früchte, die an den Bäumen ringsum hängen, welche der Mensch mit Geschick selbst gepflanzt, gepflegt und zum Blühen gebracht hat.
Der Herbst wird dann gerne als Lebensübergang zum Ruhestand, als Zeit der vertieften Reife, als Zeit der Betrachtung und der Lebensbilanz beschrieben. So wie es zwischen Schwarz und Weiß bei näherer Betrachtung allerhand Grautöne und Schattierungen zu entdecken gibt, mischen sich nun die Farben eher ins Unauffälligere und ineinander; das Leben wird im Rückblick in freundlichen Pastellfarben betrachtet und getragen oder mit großen herbstfarbenen Tüchern umwickelt. Zuletzt der Winter als Lebensabend und Lebensabschied: Er kommt gesetzt und gedeckt daher.
Farben der Natur, der Jahreszeiten, sie begleiten unser Leben. Auch über die Farben in unserer Religion schreibt einer unserer Autoren in diesem Heft mit dem Thema „Zeit für Buntes“ einen schönen Beitrag.

In meiner Bibel kann ich den Herbst mit seinen Farben nicht finden. In Israel wird nur unterschieden zwischen einer kühlen, regnerischen Winterzeit (Oktober bis April) und einem trockenen, heißen Sommer (Mai bis September), die Übergänge sind nicht so fließend und abgestuft wie bei uns. Ich finde aber dennoch herbstliche Anklänge in der Schrift.
Dazu braucht es noch einen Blick auf unsere Herbstfarben. Biologisch sind die Verhältnisse klar: Das Chlorophyll im Blattwerk wird mit den kälter werdenden Tagen nicht mehr gebraucht zur Photosynthese, nun kommen dafür die ebenso im Blatt vorhandenen, aber bis dahin verborgen gebliebenen gelben und roten Pigmente zum Vorschein und zum Tragen. Scheinbar nutzlos schenken sie dem stillen Betrachter auf Waldwegen doch eine schönste Zeit und zeigen sie, was außer Chlorophyll noch alles in den einzelnen Blättern steckt.
Die Natur erzählt uns menschlichen Betrachtern damit künstlerisch und spielerisch von der Würde des Herbstes, von der bleibenden Würde eines jeden Blattes, das seine Arbeit getan hat und das sich nun einer anderen Aufgabe widmet, der Betrachtung von Schönheit, Kunst und dem kreativen Segen, der immer schon in ihm verborgen liegt.
Übertrage ich dieses wunderbare Schauspiel der Farben auf die Lebenszeiten des Menschen, entdecke ich darin die Botschaft, wie viel Würde und kreativer Segen auch im Älterwerden steckt und dass der Übergang vom Beruf in den Ruhestand, vom Gestalten zum Bewahren, von der letzten regelmäßigen Überweisung an Tochter und Sohn zum ersten nächtlichen Gesang für das Enkelkind tausendmal mehr ist als die Frage: Wozu werde ich jetzt noch gebraucht? Die Zeit des Herbstes im Leben, so lehrt mich die Natur, ist eine Zeit der besonderen Würde, es ist sogar eine ungeahnt kreative Zeit: Es ist die Zeit der Entdeckung von all den anderen Farben, die es immer schon in uns gab, die den Menschen mit ungeahnter Würde umkleiden und jetzt wie ein Schauspiel zum Sehen einladen: Zur vertieften Betrachtung des Lebens, der gesammelten Lebenserfahrungen, eines damit reiferen Verständnisses und vertieften Glaubens und Segens.
Diese Zeit besonderer Würde hat auch ihre eigene Aufgabe: die Schönheit und den Wert des Lebens zu betrachten und sie darzustellen in ganz eigenen Farben und Konturen, dass sie zum Segen und zum Schauspiel werden den suchenden Spaziergängern, den staunenden nachfolgenden Generationen. Es ist die Aufführung eines Schöpferlobs, nachdem der Vorhang von Arbeit und Verpflichtung gefallen ist.
Und dieses Herbstspiel von Würde und kreativem Erzählen in feinen Farben finde ich auch in meiner Bibel, zum Beispiel gleich zu Beginn im Lukasevangelium. (Lukas 1 f.)
Wer dem Lobgesang des alten Zacharias nachspürt oder dem mindestens so alten Jerusalemer Bürger Simeon in den Tempel folgen mag, wo er die schönen Worte findet: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“, der ahnt die herbstliche Szenerie, die in diesen Momenten und in dieser Lebensphase steckt. Simeon nimmt seine Aufgabe als im Herbst angekommener Mensch an und segnet die nachfolgenden Generationen auf seine ganz eigene Weise, mit seinen Worten, in seinen Farben. Das steckt andere an. Die hochbetagte Prophetin Hanna trat aus dem Schatten und „pries Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.“ Momente voller herbstlicher Farben, Schönheit und Würde und Segen sind das.
Was für eine Zeit, diese kostbaren Farbspiele, die wir Herbst nennen!

Wir wünschen Ihnen eine gesegnete Zeit zur Betrachtung der Herbstfarben
und viele schöne Entdeckungen
auch in den bunten Beiträgen zu dieser Ausgabe der Pastoralblätter!

Herzliche Grüße,
Ihre Redaktion
und Ihr Jochen Lenz
(Schriftleitung)

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