Wenn ich die Himmel sehe ... - Ein Faible fürs Bleiben

Ich sehe entsetzt Filme vorbeihuschen. Sie haben keinen Blick für das Wesentliche, keine Ruhe. Sie bleiben bei keiner Einstellung, ob im Freibad oder in den Himmeln. Gerne würde ich den Amateurfilmern sagen: Lass dir Zeit. Bleib auf dem Motiv. Ruh‘ dich aus. Es ist furchtbar, von einem Bild zum anderen zu hetzen, begleitet von einer Musik, die auch von einem Take zum anderen hetzt. Die Smartphones tragen das Ihre dazu bei. Das Senkrecht-Filmen führt zu zwei Balken links und rechts. Ich könnte – und bin auch nur Amateur – davonlaufen.
Lass dir Zeit. Du wirst keinen Stern entdecken, keinen Nebel und keine Galaxie, wenn du nicht eine ruhige Hand und ein Faible fürs Bleiben hast. Du wirst nie durch ein Teleskop sehen, wenn du an den Einstellungen rumschraubst, drehst und windest.
Den Himmel sieht man nur, wenn deine Augen bleiben, deine Sinne fokussiert sind, deine Hände ruhen. Wir haben uns manchmal mit den Kindern, ggf. in Decken gehüllt, im Odenwald auf Liegen gelegt, haben sogar eine Hangliege gebaut, auf der wir alle Platz hatten. Schweigen und Schauen – zwei Teile eines Ganzen.
Das hat eine biografische Ursache. Ich habe meinen Vater sehr geliebt. Ich ging in Heidelberg auf die Barrikaden. Mein Vater hoffte, es kämen keine schlimmen Anrufe. Ich meinte, es sei unsere, die neue Zeit. Ich habe immer wieder versucht, nein, nicht ihn nachzumachen. Aber einfach seine „Wirkung“ zu erreichen. Das ging nicht. Kam er in einen Raum, dann ging die Sonne auf. Es gibt wenige Menschen in meinem Leben, von denen ich das erzählen kann.
Ich schätze als eine wesentliche Erinnerung an ihn sein „Sternenbuch“. Mein Vater besaß neben seinen Fachbüchern – er war Schneidermeister – nur wenige Bücher. Darunter Bruno Bürgels Buch „Eine volkstümliche Himmelskunde“, erstmals erschienen 1939 im „Deutschen Verlag“, dann wieder aufgelegt 1952. Meine Mutter hat es ihm zum 40. Geburtstag geschenkt. Ihre „Widmung“ in Sütterlinschrift, etwas schräg nach rechts oben verlaufend: „Meinem lieben Gatten für den Feierabend von deiner Emilie“.
Ich war damals vier Jahre alt.
Er hatte kein Teleskop, besuchte nie ein Planetarium und bekam auch erst später ein – allerdings sehr gutes – Nachtlicht-Fernglas. Und doch hat er mir in seinen einfachen Worten Wesentliches erzählt. Er erzählte mir vom Kosmos. Er machte vor dem fremden Wort „Kosmos“ immer eine kleine Pause. Er war ein einfacher Mensch. Er hat nicht „Sterne“ gesagt, sondern „Gestirne“, – und „Kosmos“. Er sagte das auf eine Art, bei der der kleine Junge, dem er von fernen Milchstraßen und Spiralnebeln erzählte, eine große Ehrfurcht bekam, auch wenn er kein Wort verstand. Es musste etwas erschütternd Großes sein, wenn mein Vater so redete.
„Da draußen sind Welten“, sagte er. Das Kind schwieg staunend. Welt, das waren Erde, Sonne, Mond und die Sterne. Er sprach von „Welten“. Und wie er das Wort aussprach, mussten die „Welten“ etwas Heiliges sein.
Oder er erzählte vom Licht der Sterne. „Es gibt Licht, das wir jetzt sehen, doch es ist seit Jahrmillionen unterwegs.“ Und wie er das Wort „Jahrmillionen“ aussprach, dabei die Hand mit Nadel und Faden auf seinem Schneidertisch in der Bewegung innehielt, mich über den Rand seiner Brille ernst ansah, da war es, als ob er von Kanzel oder Katheder mir ein großes, heiliges Geheimnis anvertraute.
Ehrfurcht lehrte er mich vor dem Schöpfer, dessen Liebe in Sekundenbruchteilen, in „Überlichtgeschwindigkeit“ Welten und Jahrmillionen durcheilte. Ehrfurcht vor Zeit und Raum, in denen sich dieses Kommen und Gehen, Bleiben und Leuchten und Erlöschen abspielte.

Kirchen – oder eben der Schneidertisch meines Vaters – sind Orte, an denen man lernt, Geheimnisse zu bewahren als Kostbarkeiten. Das war über Jahrhunderte unsere Kompetenz. Kirchen als Orte, an denen man gemeinsam wieder staunen lernen kann. Staunen will gelernt sein. Staunen ist das, was nur ein Mensch kann. Kann der Mensch nicht mehr staunen, ist er nicht mehr Ebenbild Gottes und erst recht nicht „Krone der Schöpfung“. Staunen können macht den Menschen zum Menschen. Ein Mensch darf sagen: Ich staune – also bin ich.

Ich staune, dass es der Mensch ist, dem in der Kürze seines Lebens all diese Fülle geschenkt ist. Sein Leben ist ein Geschenk mitten unter Geschenken. Ich staune, dass ich sein darf und sinne nach, wer ich sein soll.
Jörg Zink sagt in einem seiner vielen Bücher: „Unendlich viele Jahre waren, ehe es mich gab. Unendlich viele Jahre werden vielleicht nach mir sein. Irgendwo in ihrer Mitte sind ein paar Sommer, in denen für mich Tag ist auf der Erde. Für diese Spanne Zeit danke ich dir, Gott.“ (Jörg würde mir verzeihen, dass ich die Quelle nicht finde.)
Ein paar Sommer, in denen für mich Tag ist auf der Erde.
Staunend stehe ich still und danke dir, Gott.
Das möchte ich als Bilanz meines Lebens einmal sagen können: Es war großartig, dabei gewesen zu sein. Das ist doch so grandios, so einzigartig. Es war großartig, dabei gewesen zu sein. Mehr ist einem Menschen wohl nicht möglich. Den gewaltigen Rest muss Gott besorgen, wie immer man ihn sich vorstellt.

Gerhard Engelsberger

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