Jahreslosung

1. Mose 16,1

Du bist ein Gott, der mich sieht. 

1. Mose 16,1

Es sind harte Erfahrungen, die einen Menschen zum Erkennen bringen: „Du, Gott, du hast mich gesehen.“ Und doch sind es bei aller Härte Erfahrungen, in welchen sich etwas zum Guten wendet.

Hagar und Sara, die beiden Frauen Abrahams, sind hart zusammengestoßen. Nachdem Hagar auf Wunsch von Sara von Abraham geschwängert worden war, fühlte sich Sara verachtet von der mit ihrem Bauch triumphierenden Hagar. Sie verstößt in ihrer Rivalität und Eifersucht ihre Nebenfrau. Dieser bleibt nur die Flucht in die Wüste hinaus. Hier an einem Brunnen kommt Hagar schließlich zur Einsicht in ihre Not: Wie kann sie allein in der Wüste gebären und ein Kind aufziehen? Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zurückzukehren und sich Sara zu unterstellen. Das schafft sie dank einer im wörtlichen Sinn subversiven Verheißung, die sie in ihrer lebensbedrohlichen Not bekommt. Sie unterstellt sich ihrer Herrin, damit ihr Sohn ein Leben, viele Nachkommen, eine echte Zukunft hat – ein riesiges Opfer von ihr! Aber nur so kann Ismael auf die Welt kommen und sein eigenes Leben gewinnen.

Was für Erfahrungen lassen uns zu Gott sagen: „Du siehst mich, du hast mich gesehen.“?
Die Großmutter meines Freundes in der damaligen DDR hat mehr als dreißig Jahre jeden Tag dafür gebetet, dass sie wieder frei sein darf. Mit 82 Jahren durfte sie nach ihrer ersten Reise in den Westen zufrieden einschlafen. Gott hat die Not dieser mich sehr beeindruckenden „Heldin des Gebets“ gesehen.
Es müssen aber nicht immer so große Erfahrungen sein, die wir mit Hagar teilen, es können auch kleine sein: Ab und zu hält einer die Hand dazwischen – etwa, wenn ich eine schmale Passstraße hinunterfahre und es kommt mir ein riesiger Car und ein ihn überholender Personenwagen entgegen und ich finde mit knappster Not die einzige Ausweichstelle um einer Frontalkollision zu entgehen. Atemholend, die Hände vor dem Kopf, seufze ich: „Danke, dass du mich gesehen hast!“
Ein Vater hat seinen Sohn durch Selbsttötung verloren und schafft es durch die tiefe Trauer hindurch dennoch, ein liebevoller Mensch zu bleiben. Er erzählt: „Zuunterst in meiner Not, in aller Sinnlosigkeit und Trauer, da, wo es eine große Leistung war, schon nur die nächste Viertelstunde zu überstehen, da hat mich etwas getragen. Danke, dass du mich gesehen hast, als ich verloren war.“

Das, was in solchen Erfahrungen von Gott her geschieht, geschieht ja immer wieder unter allerlei Hartem und Üblem: Dass Abraham, dieser Vater des Glaubens, dieser große Patriarch, eine so schwache Rolle einnimmt, dass er es zulässt, dass seine Lieblingsfrau Sara in ihrer Eifersucht ihre Magd und Nebenfrau Hagar dermaßen demütigt und zum Hinausgehen aus der Stammesgemeinschaft, wo Leben möglich ist, in die lebensbedrohliche Wüste nötigt, das ist mehr als bedenklich. Dabei steht er auch nicht zu seinem werdenden Sohn – was für eine schreckliche Haltung!
Und doch lässt Gott aus dieser riesigen Not, aus diesem bösen Übel, Gutes entstehen. Er greift ein, wo die Not groß ist, und rettet Leben: das von Hagar und das von Ismael. Ismael kommt gesund zur Welt, wird groß und hat eine Zukunft.

Wenn es zwischen Hagar und Sarah und Abraham im Verlauf des späteren Lebens ein stückweit zur Versöhnung kommt, darf das auch bei uns geschehen: Was wäre, wenn Christen, Juden und Muslime die Hagar-, Ismael-, Abraham- und Sara-Erfahrung ernst nehmen und versöhnlich zueinander sagen würden: Wir brauchen nicht in alle Ewigkeit die Rivalität von Sara und Hagar, die sich im Streit ihrer Söhne auf die nächste Generation übertragen und später über die ganze Welt ausgebreitet hat, fortzusetzen. Wir sehen, dass da viel Böses in der Weltgeschichte daraus entstanden ist. Es ist genug. Wir machen da nicht weiter …

Könnten wir in dieses Jahr 2023 gehen mit dem Blick, dass wir auch bei Gott stehen in seiner Not (Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Christen und Heiden“), vertrauend, dass Gott unsere Not gesehen hat, wir aber auch seine. Wäre das nicht verheißungsvoll?

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