Beifall?

Es war Heiligabend 2003. Ich hatte so etwas gelegentlich im Fernsehen gesehen, bei großen
Gottesdiensten oder auf dem Petersplatz.
Ich hatte am Anfang der Predigt eine wichtige Stelle aus dem eben in diesem Jahr erschienen Buch „Der kleine Frieden im Großen Krieg“ von Michael Jürgs gelesen.
Den vielen erwachsenen Gottesdienstbesuchern hatte ich schließlich die biblische Wahrheit ans Herz gelegt und „Amen“ gesagt. Der Organist wollte mit seinem Vorspiel zu „Lobt Gott, ihr Christen“ beginnen, kam aber erst nicht dazu. Plötzlich fing jemand an zu applaudieren. Andere folgten. Dann die ganze Kirche.
Ich hatte so etwas noch nicht erlebt. Eher nach dem Segen. Oder wenn ein Chor sang oder ein Orchester musizierte.
Aber nach meiner Predigt?
Wie denken Sie, liebe Leserinnen und Leser, über Beifall nach der Predigt?

Wolf Wondratschek schreibt in seinem neuen Roman „Selbstbild mit russischem Klavier“ (Berlin 2018) über den alternden Klavierkünstler Suvorin:

„Sehen Sie, sagte er und machte eine lange Pause. Ich wollte, glaube ich, wenn der Wunsch nur durchzusetzen gewesen wäre, nach dem Verklingen des letzten Akkords unsichtbar sein. Dass ich die Augen schloss, lässt vermuten, dass ich zumindest versuchte, es zu sein. Wenn ich nichts sehe, dachte ich, sehen andere auch nichts. Diese alte Kinderei, die Sie wahrscheinlich auch kennen. Ich wollte mich verstecken. Und warum? Ganz einfach, weil ich Applaus hasse. Was für ein dummes Geschäft, dieses Applaudieren! Bitte, ich konnte das nicht ausstehen! Als einer oben auf dem Podium nicht, was sich ja Gott sei Dank erledigt hat, aber auch danach als Zuhörer im Publikum nie. Der letzte, noch nicht einmal ganz verklungene Ton – und sofort Geschrei, Lärm, Bravo-Rufe. Nicht einen Augenblick Stille, keine halbe Sekunde. Was für Ignoranten! Was für Barbaren! Kein Nachklingen, kein Verweilen darin, keine Erschütterung, Verwunderung, nicht die Spur von Selbstvergessenheit in denen, die zugehört haben. Ich habe tatsächlich jedes Mal gebetet, sie möchten unfähig sein, sich zu rühren. Bitte, ihr Leute da unten, seid still! Bleibt still! Bleibt sitzen und seid still. Steht auf, geht weg, macht mit der Musik, die ich gespielt habe, was ihr wollt, nur macht keinen Radau. Was sind das für Menschen, die nach einer Sonate von Schubert, der späten in B-Dur zum Beispiel, zwei Monate vor seinem Tod vollendet, in Jubel ausbrechen? Ich spürte, dass alles, was ich bewunderte und gewollt hatte, der Sinn, den ich meinem Leben gegeben hatte, dahin war. Es blieb nichts übrig. Die Götter sind tot! Mir wird noch heute, noch jetzt, wenn ich daran denke, das Herz schwer.
Suvorin fuhr mit den Händen durch seinen weißen, noch immer kräftigen Haarschopf und schüttelte den Kopf. Das war es, sehen Sie, was diese Geste sagen wollte. Meine Hände an meinen Lippen waren die Bitte, mich nicht zu reizen, mich nicht, was hätte ich denn tun sollen, zu einer Verbeugung zu zwingen, zu einem Lächeln, bei gleichbleibendem Lärm zu einer Zugabe, das auch noch. Mein Gott, habe ich mir gedacht, was ist das? Muss ich mir das anhören? Und wenn du Pech hast, drücken sie dir auch noch Blumen in die Hand. Das ist ein Witz, wie man damit dann dasteht. Sie haben nichts kapiert, wissen nicht, wie sehr sie im Unrecht sind. Gould hatte recht mit seinem frühen Abschied. Der Typ war ja gerade mal zweiunddreißig! Aber er hatte es satt und hat das Handtuch geworfen. Guter Junge, noch dazu einer mit Humor. Das muss man ihm lassen, den hatte er. Während ich ... ich Feigling ... ich ärgerte mich, machte weiter und ging einen trinken.“ (a. a. O., S. 60ff)

Wie gehen wir mit Beifall, mit Applaus um?

Ich lasse zu diesem Thema unter der Überschrift „Predigt und Eros“ in dieser Ausgabe der PASTORALBLÄTTER, angeregt durch die Predigtreihe „Sinnlichkeit und Erotik ...“ von Pastor Jörg Schmid, den lange verstorbenen österreichischen Politiker und Schriftsteller Ernst Fischer zu Wort kommen.

Ich schließe: Mich selbst hat der Abend am 24. Dezember 2003 „verfolgt“. Wartete am nächsten Heiligabend auf ähnliche Reaktionen. Obwohl ich das alles abgetan hatte – eine Sondersituation, ich will das eigentlich nicht, ich brauche das nicht o. ä .... – saß der Predigt-Beifall von damals doch tiefer und lenkte meine Erwartung in eine bisher nicht gekannte Richtung. Ich hatte eine „Lust nach Beifall“ verspürt.
Sie hat sich längst gelegt. Hat sie das?

Gerhard Engelsberger

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