Frieden ist ein Prozess – Gottesdienst über EG 421 (Verleih uns Frieden gnädiglich; Martin Luther)

Pfarrerin Anne Henning

„Heute will ich den blauen Becher!“
„Nein, ich bin dran!“
„Stimmt gar nicht! Du hast ihn gestern gehabt.“
„Nein, das war schon vorgestern!“
„Immer willst du den blauen Becher!“
„Du bist gemein! Jetzt hast du schon daraus getrunken!“
Tränen fließen.

Zwei Mädchen veranstalten mit ihrer Mutter ein Picknick auf der Wiese neben dem Spielplatz. Ich habe einen freien Tag und sitze mit meinem Buch in der Sonne auf der Parkbank und wundere mich, worüber Kinder sich streiten können. Was für uns Erwachsene nebensächlich ist, hat bei ihnen manchmal eine große Bedeutung. Vielleicht staunen unsere Kinder in den verschiedenen Familien aber auch ab und an, weswegen wir Erwachsene miteinander streiten oder worüber wir uns ärgern. Wenn es zum Beispiel darum geht, wer wo was rumliegen lässt, wer wem ständig hinterherzuräumen scheint.

Augenfälliger als in der Familie sind solche Situationen jedoch im täglichen Miteinander auf unseren Straßen. Mir schwillt zum Beispiel der Kamm, wenn mir jemand direkt vor der Nase einen Parkplatz wegschnappt, obwohl der oder die andere gesehen hat, dass ich schon viel länger in Warteposition stand. Warteschlangen beim Bäcker sind auch toll, wenn es um das Thema Gerechtigkeit geht. Da drängelt sich jemand dezent vor, um dann auch noch das letzte Brot unserer Lieblingssorte zu kaufen. Wahrscheinlich können Sie meine Liste im Kopf mühelos ergänzen mit Ereignissen, die im menschlichen Miteinander unrund laufen.

Manchmal lassen wir uns davon den ganzen Tag verderben. Die Welt erscheint ungerecht, die Mitmenschen sowieso. Alles ist irgendwie negativ. Am Abend wird das dann von den Nachrichten auf der großen Weltbühne bestätigt. Berichtet wird getreu dem Motto: „Only bad news are good news“, zu Deutsch: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, weil vor allem mit Berichten über Schlimmes die Medien hohe Einschaltquoten erzielen und somit gute Geschäfte machen können. Berichtet wird vor allem von Kriegen, Gewaltverbrechen, finanziellen Miseren, Naturkatastrophen, und dann hat auch noch der Fußballverein, dessen Fan wir sind, das entscheidende Spiel verloren. Wie würde sich unsere Sicht auf die Dinge verändern, wenn die Macher der Fernsehnachrichten gesetzlich verpflichtet wären, mindestens 30 %-50 % ihrer Sendezeit für gute Neuigkeiten zu nutzen? Ich bin überzeugt davon, dass das unser Weltbild nach einiger Zeit positiv verändern würde. Das ist etwas anderes, als Schlimmes zu verharmlosen oder unter den Teppich zu kehren. Es handelt sich vielmehr darum, das Leben von mehreren Seiten zu beleuchten, um so dem einseitigen Eindruck entgegenzuwirken, die Menschheit sei einfach nur schlecht.
Auch Martin Luther lebte zu einer Zeit, in der die „bad news“, die schlechten Nachrichten, an der Tagesordnung waren. 1529 waren die Menschen mehr als beunruhigt. Wien wurde durch die Türken belagert. Wie mochte das enden? Große Sorge ging um. Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse schrieb Luther nach der Vorlage des Wechselgesangs „Da pacem domine“ die Zeilen eines zu singenden Friedensgebets:

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.

Ich stelle mir vor, dass die Menschen im Gottesdienst den Vers in dieser aufregenden und besorgniserregenden Zeit immer wieder gesungen haben. Von Gott erwarteten sie Schutz und Bewahrung. Er sollte für sie kämpfen. Sie waren überzeugt, nur mit Gottes Hilfe konnte das gelingen.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.
Wir könnten nach dem Gottesdienst wahrscheinlich lange darüber diskutieren, ob Gott so direkt die Geschicke dieser Welt lenkt. Für mich schwingt in den Zeilen des Reformators noch etwas anderes mit. Ich denke weniger an äußere Kämpfe, wenn ich diese Zeilen lese. Vielmehr erinnere ich mich an Luthers inneren Kampf, von dem aus den Jahren zuvor ausführlich berichtet wurde. Luther hatte Angst, vor Gott ungenügend zu sein. Ihm fehlte die Gewissheit, so, wie er war, vor seinem Gott bestehen zu können. Also versuchte er sich immer wieder so zu verhalten, dass er Gottes Wohlgefallen zu erlangen glaubte. Und das war der Tod im Topf. Oder ist es Ihnen in Ihrem Leben bisher schon mal gelungen, alles richtig zu machen? Ich behaupte, dass das selbst für nur eine Woche unmöglich ist. Wir alle machen manchmal Fehler oder unterlassen Dinge, weil die Kraft fehlt. Oder wir tun oder sagen etwas, was für den einen gut, für jemand anderen aber schlecht ist. Wer das erkennt, zugleich aber perfekt sein will, der gerät in große innere Not. Martin Luther war in dieser Not. Er brauchte Hilfe. Er flehte zu seinem Gott. Der sollte für ihn streiten und ihn vor Teufel, Hölle und Fegefeuer bewahren. Denn Luther hatte längst erkannt, dass es aus eigener Kraft unmöglich war, alles richtig zu machen.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.
Gott stritt tatsächlich für Martin Luther. Denn Gott ließ ihm die Erkenntnis zuteilwerden, dass es unnötig ist, perfekt zu sein. Wichtig allein ist es, Gott zu vertrauen, Gott um Hilfe zu bitten und sich trotz der eigenen Unzulänglichkeit oder gerade deswegen - bildlich gesprochen - in Gottes Arme fallen zu lassen. Luther nannte das in Rückgriff auf die Bibelstellen Römer 5 und Galater 3 „gerecht aus Glauben werden“.
Wenn auch wir uns die Freiheit nehmen, seine Verse so zu lesen, dann enthalten sie die Bitte, dass Gott uns hilft, entgegen aller innerer Ansprüche und Antreiber Frieden in unserer Seele zu finden.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.
Diese Interpretation von Luthers Versen, den Seelenfrieden zu suchen, steht dabei nur scheinbar im Gegensatz zu der Frage, wie gesellschaftlicher oder gar politischer Friede erreichbar ist. Denn Friede und Krieg sind gleichermaßen menschengemacht. Sie entstehen aus einer inneren Haltung. Wenn es zu Konflikten, zu Streit, schließlich sogar zu Krieg kommt, stehen als Ursachen dahinter stets zentrale menschliche Bedürfnisse. Es geht um Selbstbehauptung und um die Sehnsucht, gesehen und ernst genommen zu werden oder eine bedeutende Rolle in dieser Welt zu spielen. All diese Bedürfnisse sind zunächst berechtigt. Wir alle wollen einen eigenen Platz im Leben und damit in unserem Umfeld einnehmen. Problematisch wird es dort, wo das rechte Maß verloren geht. Dann kippt die Situation. Die Selbstbehauptung wird zum Machtanspruch, die Sehnsucht, gesehen zu werden, zu Egoismus und Selbstsucht. Im schlimmsten Fall entsteht ein Größenwahn, der das Leben unzähliger Menschen zerstört. Immer dann, wenn das rechte Maß für das Ausleben jener zunächst verständlichen Bedürfnisse verloren geht, ist der Friede in Gefahr. Da gilt für Familie, Schule und Pausenhof ebenso wie für die große Weltpolitik.
Der äußere Friede ist in Gefahr, wenn Menschen ihren inneren Frieden verloren haben.

Was auf der Weltbühne schiefläuft, ist in außerordentlich vergrößerten Dimensionen das, was zu Hause anfängt. Deshalb ist es so wichtig, sich im Alltag immer wieder selbst die Frage zu stellen, wofür es sich zu streiten lohnt und Kompromissbereitschaft einzuüben.
In den meisten Dingen, die uns wichtig sind, geht es um das richtige Maß zwischen Habenwollen und Loslassen. Dieses Maß zu erspüren gelingt uns dann gut, wenn wir achtsam durchs Leben gehen und wach sind für unsere eigenen Gefühle. Wer wahrnimmt, wie er oder sie handelt, hat mit einiger Übung die Möglichkeit, sein Tun zu verändern. So kann er etwas tun für den Frieden im Miteinander ebenso wie für seinen inneren Frieden. Wer jedoch empfindungslos für die eigenen Regungen einfach drauflos poltert, der wird im alten Fahrwasser bleiben.

Luthers Vers kann uns Mut machen, unseren inneren Frieden täglich neu zu suchen. Seine beiden Sätze machen deutlich, dass Gott uns bei dieser Suche zur Seite stehen wird. Statt unter neuen Erfolgsdruck zu geraten, dürfen wir uns darauf verlassen, dass Gott unsere unperfekte und von Misserfolgen begleitete Suche nach Frieden wollwollend begleitet.

Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.
Die beiden Mädchen auf der Wiese im Park habe ich über mein Buch hinweg noch eine Weile beobachtet. Als ihnen langweilig wurde, schenkte ihnen die Mutter zwei Malbücher. Sie hatten unterschiedliche Motive. Beide Mädchen wollten das Buch mit den Prinzessinnen haben. Also ließ die Mutter sie losen. Die Größere zog das Prinzessinnenbuch. Die Kleine weinte und wollte sich kaum beruhigen. Da hörte ich die Große: „Komm, wir malen jede abwechselnd eine Seite in meinem Buch an.“ - „Nein!!“, kam die Antwort. Dann hörte ich wieder die Große: „Du kannst das Buch haben und ich nehme das andere, wenn du versprichst, dass wir uns nie wieder streiten.“ Das Weinen wurde jetzt lauter. Die Kleine wandte sich der Mutter zu und sagte: „Meine Schwester gibt mir das Buch, wenn ich ihr verspreche, dass wir nie wieder streiten. Aber das kann ich doch gar nicht versprechen!“ Sie wusste mit ihrem kleinen klugen Kopf sehr klar, dass so ein Versprechen kaum zu halten war. Also half die Mutter ihr. Sie lobte sie für ihre ehrliche Einschätzung. Sie hätte ja auch einfach „Ja“ sagen und später ihr Versprechen trotzdem brechen können, nur um das Buch zu bekommen. Dann riet sie ihr: „Sag doch deiner Schwester, dass du dich ganz doll bemühst, nie wieder zu streiten. Und das musst du dann auch wirklich versuchen!“ Die Kleine nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Was dann geredet wurde, war zu leise, als dass ich es verstanden hätte. Doch nach kurzer Zeit ergriff das größere Mädchen das andere Ausmalbuch. Die Mutter nahm sie in den Arm und lobte ihre Kompromissbereitschaft.

Das Beispiel der Kinder macht auf wunderbare Weise deutlich, dass innerer wie äußerer Friede das Gegenteil eines irgendwann erlangten Besitzes ist, den wir uns einmal erarbeiten und uns dann in ewiger Erleuchtung darin sonnen. Friede ist ein ständiger schöpferisch-kreativer Prozess. Er verlangt ein gutes Gespür für sich selbst, für den anderen und die Situation. Und es braucht eine ausgeglichene innere Haltung, um immer wieder aufs Neue friedlich zu leben und zu handeln. Diese innere Haltung gelingt besser, wenn es mir glückt, die guten Dinge im Leben, die mir zuteilwerden, ausreichend zu würdigen. Denn unsere Wahrnehmung macht es oft wie die Medien. „Only bad news are good news.“ Es ist leider sogar wissenschaftlich bewiesen, dass unser Gehirn aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen die schlechten Erlebnisse sehr viel nachhaltiger und bewusster speichert als die positiven. Deshalb möchte ich Ihnen nachher an der Kirchentür je fünf weiße Bohnen mitgeben. Stecken Sie diese Bohnen jeden Morgen in die linke Tasche. Jedes Mal, wenn Sie über Tag etwas Schönes erleben, lassen Sie eine Bohne von der linken in die rechte Tasche wandern. Das kann eine Blume am Wegesrand sein ebenso wie das nette Wort eines Nachbarn auf der Straße. Schauen Sie doch mal nach, wenn Sie abends zu Bett gehen, wie viele Bohnen ihre Tasche gewechselt haben und was Sie dabei empfinden. Denn Frieden ist ein Prozess. Er beginnt mit unserer Achtsamkeit für das Gute, das Gott uns zukommen lässt. Es zu sehen, wahrzunehmen und dankbar dafür zu sein, das lenkt unsere Schritte auf den Weg des Friedens.

(Quelle für das Ritual mit den Bohnen: Burkhard Heidenberger auf www.zeitblueten.com/news/die-gluecksbohnen/)

Fürbitte:
Du, Gott der Sanftmütigen,
lehre uns, ein gutes Gespür zu entwickeln für die Dinge, die wir brauchen, und für jene, die wir entbehren können. Wir brauchen deine Hilfe, damit wir loslassen können und frei werden für andere.
Du, Gott der Barmherzigen, hilf uns, Not zu lindern, wo wir gefragt sind, zuzupacken.
Lass uns zur helfenden Hand werden, wo konkrete Unterstützung nottut, damit unser Nächster wieder auf die Beine kommt, um selbst weiterzulaufen.
Du, Gott der Einfältigen, schenke uns die Kunst des Zuhörens, wenn jemand seinem Kummer Luft machen will. Gib uns den Mut, mit allen Sinnen da zu sein, statt mitleidig dreinzuschauen und kluge Ratschläge zu erteilen.
Du, Gott der Friedensstifter, gib uns Beharrlichkeit, damit wir uns täglich üben in Achtsamkeit, den Frieden suchen und uns anstecken lassen vom Hauch deines Geistes.

Lesung: Jeremia 29,11-14
Liedvorschläge: 425,1-3 (Gib uns Frieden jeden Tag!)
434 (Schalom chavarim)
421 (Verleih uns Frieden gnädiglich)
416 (Oh Herr, mache mich
zum Werkzeug deines Friedens)
170, 1-4 (Komm, Herr, segne uns)
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