Kirche – eine "uncoole" Größe ohne Profil?

Mich hat ein Nebenbei-Satz meines Sohnes Christoph wachgerüttelt.
Wir saßen in guter Runde bei meinem Geburtstag. Man kommt - bei einem väterlichen Pfarrer, der weiterhin Gottesdienste macht, theologische Bücher schreibt und die PASTORALBLÄTTER herausgibt - irgendwann dann doch auf die Kirche zu sprechen.
Er ist Organist an verschiedenen Orten, ein guter Songschreiber, Vater zweier unserer Enkel und Lehrer für Deutsch und Geschichte.

Ich erzähle von einer Biografie über Otto den Großen.
Er erzählt von seinen Erfahrungen mit der Kirche und sagt:
„Die Kirche versucht krampfhaft cool zu sein, verliert so ihr klares Profil und ist am Ende nicht mehr authentisch. Uncool. Profillos. Nichts, an dem man sich reiben kann. Damit auch nichts, an dem man sich aufrichten kann. Die Worte der Predigten überzeugen nicht, wirken entweder wie abgelesen oder aus einem Werbespot für ,junge Leute’ schlecht kopiert. Mir fehlen Predigten, in denen mir Menschen als Menschen etwas zu sagen oder zu erzählen haben.“

Uncool. Profillos. Nichts, an dem man sich reiben kann. Damit auch nichts, an dem man sich aufrichten kann. Erst recht nichts, an dem man wächst. So habe ich Christoph (33 Jahre alt) verstanden. Er redet nicht nur für sich, sondern auch für seine Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe.

Ist die Kirche, ist der Gottesdienst, ist die Predigt ein Auslaufmodell?
Ich breche seine Kritik auf meine Zeit als „Jugendlicher“ herunter und „erlebe“, wie sich vieles „überlebt“. Da waren - in seinem Fach „Geschichte“ - Namen, die ich auswendig lernte, und Jahreszahlen, die ich herbeten konnte. Ich war allerdings nie in Magdeburg oder Quedlinburg (Otto), war damals nicht in Theresienstadt, Bergen-Belsen oder gar Auschwitz, auch nicht in Paris oder London. Ich war 17 oder 18. Musste Geschichte auswendig lernen wie die Vokabeln in Latein. Bekam in Religion eine 1, wahrscheinlich einfach deshalb, weil ich interessiert war.

Was nimmt einem jungen Lehrer die Freude an der Kirche?
Was dämpft die Begeisterung?
Er sagt, die Kirche sei nicht mehr erkennbar. Habe keine Ecken und Kanten mehr. Kein Profil. Alles bewege sich in einem „wabernden“ Raum. Es gäbe kaum noch erkennbare Instanzen, die man an ihrem Profil erkennt.

Wir erinnern uns an den Stuttgarter Kirchentag im Juni. Viele Tausend Jugendliche. Begeisterungsfähig, fröhlich, bunt. Was bleibt davon, was wird Salz, was wird „Sand im Getriebe der Welt“ (Günter Eich), was ölt die Apparate?
Meinen Abituraufsatz hatte ich 1967 zu Sätzen von Günter Eich zu schreiben. Günter Eich ist 1907 geboren, 1972 gestorben.

„Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht! …
Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt
geschäftig sind!
Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind …
Tut das Unnütze, singt Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem,
seid Sand,
nicht das Öl
im Getriebe der Welt!“

Aber bitte - so würde es Christoph sagen - nicht einfach „vorlesen“.
Leben!
Widersprüchlich leben.
Aneckend leben.
Eben: Sand - nicht Öl.

Von dem sonnendurchfluteten Stuttgarter Kirchentag geht - so hoffen wir alle - eine einladende Bewegung aus. Auch auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017.
Wie immer taucht dann nach einem Kirchentag das Phänomen auf: Es bleibt bei diesem Event. Der Schwung schlägt nicht durch auf die Gottesdienste zu Hause. Und bald ist auch dort wieder die übliche flache Ruhe eingekehrt. Die Wellen, die der Stein des Anstoßes geschlagen hat, laufen sich müde. Still ruht der See.

Die Menschen vermissen die Lebensfreude.
Den Menschen fehlt ein scharfes, klares, profiliertes Wort.
Ihnen fehlt die Kirchen-Sonne.
Den Menschen fehlt die gelegentlich ärgerliche Klarheit.

Margot Käßmann - auf dem Kirchentag mit Recht gefeiert - ist die gefühlte EKD-Ratsvorsitzende eben deshalb, weil sie sich den Mund nicht verbieten lässt; weil sie gut ist für ein scharfes, klares, profiliertes, salziges Wort; für einen offenen Umgang mit eigenen Fehlern; für eine ärgerliche Klarheit; für Spontaneität bei offenem Mikrofon; sie lebt Widersprüche; sie ist deshalb spürbar nah bei den Menschen.
Und wenn es dann knirscht, dann ist es auch gut so. Man spürte auf dem Kirchentag körperlich ihre Präsenz, und damit die Präsenz eines scharfen Profils, das in der Kirche mehr und mehr Abschied gefeiert hat. Und diese widersprüchliche Präsenz braucht es.

Es müssen 2017 keine 95 Thesen sein.
Vielleicht zehn - wenn sie nur greifen und wirken.
Die alte Kirche bezeichnete als Einstiegssünde in die schweren Sünden bzw. „Todsünden“ die acedia, wörtlich die „Herzlosigkeit“ oder die „Trägheit des Herzens“. Heute würde ich übersetzen die „Gleichgültigkeit“.

Es muss uns mit Hilfe des Heiligen Geistes - und links und rechts die Hand eines offenen Menschen, der die Weite ahnt - gelingen, diese grassierende seelische Krankheit „Gleichgültigkeit“ aufzubrechen, die sich unter uns breitgemacht hat. Dann müssen wir nicht mehr „cool“ spielen oder auf Mega-Events warten. Dann machen wir Fehler, gehen zu weit oder werfen neue Fragen auf. Aber man spürt uns. Spürt die Kirche Jesu Christi. Anders geht Kirche nicht.
Kirche wird sonst austauschbar. Sie ermüdet mit all ihren Kostbarkeiten, Ikonen, Bekenntnissen, Erfahrungen und Menschen lendenlahm in den Wechselstuben der Zeit.

Eine Lehrerin in Prag meinte Mitte Juni, dieser Aufbruch könne nach ihrer Überzeugung eigentlich nur aus dem Gottesdienst geschehen. Ich weiß das nicht. Ich kann sie aber gut verstehen. „Auslandsgemeinden“ spüren unser Verlust-Konto nachhaltiger als wir. Sie sind angewiesener - und vielleicht deshalb freier. Sie sind ärmer - und vielleicht deshalb begeisterungsfähiger.
Ich bin jeder Kollegin und jedem Kollegen dankbar, der oder die sich auf diesem Weg auf dem Fenster herauslehnt. Das ist gelegentlich gefährlich. Meist mühsam. Immer spannend. Danke für diesen Dienst!

Dort in Prag las ich anlässlich eines Gottesdienstes in der „Sakristei“ der St. Martin-in-der-Mauer-Kirche den Satz: „Wer uns Einhalt gebietet, gibt uns auch Halt.“ Oder anders: Wer dich aufhält und hält, dem bist du nicht gleichgültig.

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