Erprobung pur – und Predigt und Erotik

Zwischen Passion und Ostern erreicht Sie diese Ausgabe der PASTORALBLÄTTER. Sie ist extrem umfangreich.
Ich bin dankbar, dass die EKD den PASTORALBLÄTTERN die Aufgabe anvertraut hat, für alle zur Erprobung vorgeschlagenen Bibeltexte im April eine Predigt - und wie in unserer seit 155 Jahren erscheinenden Monatszeitschrift üblich, auch Gebete, liturgische Hinweise und Liedvorschläge - zu veröffentlichen, die dann allen Pfarrerinnen und Pfarrern der EKD zum Download zur Verfügung steht.
Ich bin auch dankbar, dass der KREUZ VERLAG diese wichtige Aufgabe unterstützt, der Erweiterung des Umfangs zugestimmt hat und damit einen für die Perikopenreform der EKD wesentlichen Dienst übernimmt.
Seit der Januar-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER veröffentlichen wir zusätzlich in jeder Monatsausgabe einen Gottesdienstvorschlag/Predigtvorschlag zu einem vom Schriftleiter ausgewählten Kasus/Erprobungstext. Damit stellen sich der Verlag, der Schriftleiter, der Redaktionsbeirat und etwa 20 Autorinnen und Autoren in den Dienst der EKD und ihrer Pfarrerinnen und Pfarrer.
Ich möchte noch eigens darauf hinweisen, dass ich für jeden - in unserer Zeitschrift behandelten - Erprobungstext eine Datei anlege mit Hinweisen, Kritik, Zustimmung, Anregungen aus der Leserinnen- und Leserschaft. Ich gebe alle Kommentare (anonym) an die EKD weiter. Damit soll der Gesprächsprozess in der EKD über die Perikopenreform intensiv gefördert werden. Ich lade Sie alle herzlich zu Kommentaren ein. Die Namen der Autorinnen und Autoren der Kommentare bleiben ausschließlich beim Schriftleiter. Albrecht Grözinger hat in der Rubrik „Predigt im Gespräch“ auf meine Einladung hin einen Beitrag geschrieben, dessen „Geschichte“ ich erläutern muss. Als Pfarrvikar vor Jahrzehnten las ich in einem heute nur noch antiquarisch erhältlichen Buch. Damals ist mir die „Verführbarkeit“ der Hörerinnen und Hörer aufgefallen. Seither fand ich das damals Gelesene immer wieder - so oder so - bestätigt. In keiner „Homiletik“ hatte ich dazu ausführlicher gelesen. Albrecht Grözinger erst hat mich auf Thurneysens Essay „Die Aufgabe der Predigt“ gebracht. Seinerzeit war das nicht mehr als Examens-Stoff. Jetzt bin ich, sind wir gemeint.

Ich nenne das Thema „Predigt und Erotik“, und meine, wir sollten uns der rhetorischen Macht oder Ohnmacht - eben auch der erotischen - bewusst sein, wenn wir auf die Kanzel gehen. Dies gilt umso mehr, als dass - im Gegensatz zu den im Folgenden zitierten Gedanken - heute Frauen und Männer predigen.
Allerdings hat Ernst Fischer, den ich zitiere, nicht als Pfarrer geschrieben, sondern als (Partei-)„Redner“. Ernst Fischer (1899-1972) war österreichischer Schriftsteller und Politiker. Er war Mitglied der KPÖ, wurde aber wegen seiner Kritik an der russischen Politik angesichts des „Prager Frühlings“ 1969 aus der KPÖ ausgeschlossen. Er erzählt in seinen „Erinnerungen und Reflexionen“ (Hamburg 1969, S. 118f):

„Ich fühlte, während ich sprach, wie ich mit denen, die vor mir saßen, verschmolz, das schöne Gesicht der Frau war nicht mehr fern, wuchs ins Große wie im Film ein Gesicht, aus der Totale herausgelöst, füllte den Saal, war aller Gesicht, und plötzlich geschah das Unerwartete: Applaus, das Rollen von Wolke zu Wolke, wenn das Gewitter heraufzieht, elektrisches Fluidum, Vereinigung der Zuhörer mit dem Redner, aus den Vielen beginnt sich das Eine zu formen: die Masse.
Zu meinem Erstaunen, sie applaudierten, ich bin erstaunt, bestürzt, entzückt, und habe ich dreist den Anfang gemacht, so schreite ich nun fort in meiner Rede, vielmehr, werde von ihr fortgetragen, von ihr, die nicht nur aus eigener dunkler Vorstellung stammt, sondern zugleich aus den ,andern‘, in denen ich selber mich finde, ein bisher mir unbewusstes Ich. …
Die Sprache als Fessel, als Hemmschuh, hatte ich, der Stotterer, bis zur Verzweiflung kennengelernt. Mit Hilfe meiner Mutter und der Sprache Shakespeares hatte ich diesen Zustand überwunden. Doch was jetzt geschah, mit Hilfe eines elektrischen Fluidums, in dem Erotik mit Masse vermischt war, war das Erlebnis der Sprache als ein mit dem Denken kongruierendes Assoziieren, das Unbewusste an der Achse des Bewusstseins. Wieder Applaus, mich unterbrechend und zum kühneren Gleichnis, zum freieren Wort ermutigend, zu gleicher Zeit jedoch die Unschuld der Rede zerreißend: Der Redner wurde zum Rhetor.
Als ich durch den Applaus, der über mich hereinbrach, zu dem Tisch zurückging, an dem eine schöne Frau meinen, ihren Erfolg genoss, war es nicht mehr sie, für die ich gesprochen hatte, nur der Anlass, ihr ,zuliebe‘, doch diese Liebe aus den Ufern getreten, aus dem Zufall der Individualität in das reinere Sein der Internationale.
Ich hatte entdeckt, dass ich ein Redner war, unerwartet die Macht besaß, durch das gesprochene Wort Menschen zu verführen. Es war die verhängnisvollste Entdeckung meines Lebens. (Hervorhebung G. E.) Wenn ich sage: verhängnisvoll, meine ich zweierlei: die Verlockung, mit geringstem Aufwand an Zeit und Fleiß und Arbeitskraft zum größten, zugleich aber flüchtigsten Erfolg zu gelangen, und die unvermeidliche Routine der Rhetorik, die Leben und Literatur ins Rhetorische deformiert. Der Redner wirkt unmittelbar. Seine Rede ist nicht ein Werk, das, eh es in die Welt tritt, gemacht sein muss. Die Rede macht sich selbst, das Publikum wirkt mit, der Widerhall, den es dem Redner zuwirft, ist Stoff zu neuem Wort, Impuls zu neuer Assoziation. Alles ist work in progress, den Widerstand zu brechen, die Hingabe zu gewinnen, die Lust an der Verführung.“

Ich meine, es sei spannend, über konträre oder vergleichbare Erfahrungen zu reden. Ich kenne es aus unserer Kirche eher so, dass Kolleginnen und Kollegen bei solchen Gedanken abwehrend abwinken. Wir haben eine kleinspurige Ausbildung in Rhetorik genossen. „Erotik“ kam dabei auch nicht vor. „Eros auf der Kanzel“ ist ein „Nicht-Thema“.
Tut sich die Kirche seit vielen Jahrhunderten nicht schwer damit, dass Jesus selbst (jenseits aller Sensationsgier der Medien) offensichtlich (auch) ein „rhetorisches Talent“ besaß, dem er gelegentlich „entwichen“ ist? (vgl. Joh 6,15).
Und ist die rhetorische Gabe nicht auch ein Pfund, mit dem wir wuchern können/wollen/sollen? Das exakt aus diesem Grund eben auch geklärt, homiletisch besprochen - eben „kritisiert“ - werden muss?
Die Architektur der Kirchen, die Erhebung der Kanzel, die herrlichen Buntglasfenster, die machtvolle Orgelmusik, der erfüllende Klang der Chöre, die - zumindest in der katholischen Kirche - Schönheit der Gewänder … - sind sie nicht (auch) „erotisch“? Aber ich höre schon die Eindimensionalität der Widersprüche.
Selten hörte ich beim Schreiben des Editorials schon die geballte Widerrede. Heute schon. Ich bitte darum, die Widerrede - oder gar eigene Erfahrungen - homiletisch zu bedenken.
Albrecht Grözinger hat in seinem Beitrag von einer „anmutenden Predigt“ geschrieben. „Anmutung“. Anmutung trifft die Sache gut. Koketterie, das Gehabe der Hähne, nicht. Und doch ist mir „Anmutung“ zu wenig. Er selbst schreibt von „Agitation“ und von „Wirkung“. Ich meinte mehr. Ich meinte das, was „unter die Haut“ geht.
Was ich meinte, das ist diese gefährliche und gefährdende Metaebene der „Erotik“. Die Welt zwischen Einladung und Verführung, für die es keinen überzeugenden Namen gibt. Es sei denn den der „Passion“. Doch selbst bei der Verwendung dieses Begriffs für den leidenschaftlich Predigenden, Heilenden, Sterbenden und Ewigen höre ich „Widerworte“. Ich will uns nicht mit ihm vergleichen. Aber sind wir - auf der Kanzel - nicht doch eine Gleichung für ihn?

Dankbar, Ihnen allen die Nachricht aus „Matthäi am Letzten“ auch 2015 neu zusprechen zu dürfen, stelle ich mich in die Reihe derer, die vertrauen: Christus ist auferstanden. Mit ihm auch wir.

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