Vorbemerkung: Die Niederschrift dieser „Trauerwege“ regte Gerhard Engelsberger an. Es brauchte den Anstoß eines mir vertrauten Menschen, um nach einigem Zögern mir von der Seele zu schreiben, was zu meinem Leben, meiner Biografie, gehört. Das Schreiben tat mir gut, ich danke dir, Gerhard. In kritischer Auseinandersetzung mit den zahlreichen Veröffentlichungen zum „Prozess des Trauerns“, zu „Trauerphasen“, „Trauerarbeit“ und „Trauerbegleitung“ ist mir wichtig zu betonen: Ich gebe eine ganz persönliche Erfahrung weiter, teile Individuelles subjektiv mit, was nicht übertragbar ist. Vielleicht berühre ich damit, was andere (anders) erleben, lasse etwas in ihnen anklingen oder wecke Sensibilität im Umgang mit Trauernden. Aber nichts von dem, was ich hier weitergebe, erhebt irgendeinen Anspruch darauf, was zum Wesen der Trauer gehört und was es für einen Menschen bedeutet zu trauern. Ich will dem Trauern keinen Sinn abgewinnen, stattdessen mich an jenen erinnern lassen, der damals im Garten Gethsemane „anfing zu trauern“, er war nicht allein (Matthäus 27,37).
Am Ewigkeitssonntag sangen wir noch beide im Kirchenchor mit, abends waren wir zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, tags darauf passierte es: Meine Frau fiel ins Koma, durch einen akuten Gefäßverschluss, wie sich schnell herausstellte. Unsere Kinder hatten sich kurz zuvor, nachdem wir mit ihnen gefrühstückt hatten, auf den Schulweg begeben. Als sie wieder nach Hause kamen, war Mama bereits einige Stunden in der Klinik. Unvergesslich bleibt mir der Augenblick, als ich ihnen sagen musste, was geschah. Von den Ärzten, die um das Leben meiner Frau kämpften, hatte ich die Information, dass sich der Thrombus innerhalb eines Zeitraumes von etwa sechs Stunden auflösen müsse, um eine Schädigung des Gehirns zu verhindern. Bange Stunden. Stoßgebete. Ich bitte viele der uns vertrauten Menschen, für meine Frau zu beten. Anhaltendes Bemühen der Ärzte um die Rettung einer 42-jährigen Frau. Vergeblich. Das Gefäß bleibt verschlossen. Die Folge: totale Lähmung.
Was für ein Schock. Die Kinder, die Eltern, die Geschwis-
ter, ich. Es kann nicht sein. Du wirst nicht sterben. Hätte ich Anzeichen der Erkrankung erkennen müssen? War ich zu unachtsam gewesen? Beunruhigendes Fragenkarussell. Konsultationen der Ärzte. Immer wieder frage ich nach. Wir tun das Menschenmögliche. Nach drei Tagen wachte Hanne aus dem Koma auf. Ein Wunder? Aber von jetzt an war nur noch eine Kommunikation mit den Augen möglich. Sonst konnte meine vor Kurzem noch so agile Frau sich nicht mehr bewegen. Die Lähmung ist nur vorübergehend, bald wirst du wieder gehen können, wir werden miteinander üben, üben, üben. Du wirst wieder die Treppen hinauf- und hinabspringen. Ich werde dich wieder „huckepack“ die knarrende Pfarrhaustreppe hochtragen, woran wir beide, auch die Kinder, so oft unseren Spaß hatten. Die Krankengymnastin bestärkte uns. Die Ärzte machten wenig Hoffnung. Aber wir wollten sie uns nicht nehmen lassen. Täglich kamen Genesungswünsche aus der Gemeinde. Nicht nur einmal hing an der Klinke der Pfarrhaustür eine Tasche mit frisch gebackenem Brot, für Sonntag meist ein Kuchen. Unsere Kinder und ich waren von der Gemeinde umsorgt, welch ein Privileg, das wohl nur eine Pfarrfamilie genießt, kaum eine Privatperson. Die Advents- und Weihnachtszeit stand bevor. Wie sehr fehlte nicht nur die Ehefrau und Mutter, sondern auch die Pfarrfrau. Die Frage, ob ein Wunder geschah, bewegte uns noch einmal just am Heiligen Abend.
Meine Frau konnte jetzt ohne künstliche Hilfe aus eigener Kraft atmen. Für uns das schönste Weihnachtsgeschenk. Wir schöpften neue Hoffnung. Die zunächst nötige Tracheotomie könnte nun bald wieder aufgehoben werden. Aber stattdessen die Ernüchterung durch ärztliche Aufklärung: die Atmung gehöre lediglich zur Peripherie des Stammhirns, das jedoch durch den zu großen Sauerstoffmangel schwer und irreparabel geschädigt sei. Wir, die Familie, konnten und wollten diese Diagnose nicht akzeptieren. Und meine Frau? „Meinst du, du schaffst es?“ Die Bewegung ihrer Augen schien Zuversicht zu signalisieren. Aber sah ich nur das, was ich sehen wollte? „Du weißt, die Konfirmation unseres Jüngsten steht in diesem Jahr bevor, du wirst bis dahin zu Hause beim Fest in unserer Mitte sein.“
Ich bewundere unsere Kinder, wie sie im Haus anpacken, Aufgaben im Sinne ihrer Mutter übernehmen - „Mama kommt bald wieder nach Hause“. Bei den täglichen Besuchen in der Klinik ließen sie ihre Mutter am Lebensalltag teilnehmen, den vor allem die Schule bestimmte. Lachen und Weinen. Die Kinder hatten stets ihre Aufmerksamkeit. Weihnachten feierten wir in der Klinik. Jedes Kind brachte etwas für eine festliche Dekoration mit: ein kleines Kunststofftannenbäumchen, Kerzen, ein Glöckchen, Minikrippe und Strohsterne.
Wie wird es weitergehen, was wird das neue Jahr bringen? Du wirst es schaffen, wirst uns nicht allein lassen. Ich bin da. Wir sind da. Du bist da. Wir treffen die nötigen Vorbereitungen. Wie hast du uns durch die Gegend „kutschiert“, flotte Chauffeurin der Familie. Jetzt werden wir dich chauffieren, bis du wieder das Steuer in die Hand nehmen kannst. Noch sieben Jahre bis zu unserer Silberhochzeit. Die Hochzeitstorte ist von einer Nachbarin bereits versprochen.
Dann überkommt mich wieder die Angst. „Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind.“ Im Gottesdienst hatte ich diese Bibelworte als Zuspruch an meine Gemeinde weitergegeben. Sind sie auch dir gesagt, in deine Angst hinein? Ich weiß es nicht. Bin unsicher. Gedanken-, Gefühlskarussell. Um Trost ist mir bange. Darf ich dies unsere Kinder spüren lassen? Muss ich nicht stark sein, Zuversicht ausstrahlen? Vorbild im Glauben, im Gottvertrauen sein? Schon von Berufs wegen? Wie oft hat sie mich ermutigt. Gedanken, dass Mama nicht mehr gesund werden, geschweige denn sterben könnte, lassen die Kinder nicht an sich heran. Weil es nicht sein kann. In der Gemeinde Verunsicherung und Verstörtheit. Kein Tag vergeht, ohne dass die Familie gefragt wird, wie es gehe. Bangen schwingt mit, auch das Hoffen, vom Schlimmsten verschont zu bleiben.
„Hilf mir eilends“, beten wir im Sonntagspsalm. In den Gottesdiensten während dieser angespannten Zeit versammeln sich mehr Menschen als sonst. Ich empfinde, sie wollen der Familie ein Zeichen geben - wir sind an eurer Seite. Kommt mir das Beten und Singen jetzt inniger vor? „Schüttet euer Herz vor ihm aus“, wie oft schon stimmten wir in diese Psalmworte ein, dann das „Kyrie eleison“, dieser uns so vertraute Gebetsruf, wird zum Schrei aus der Tiefe, die geläufige getragene gregorianische Melodie scheint in der augenblicklichen Situation nicht zu tragen. Ich klammere mich an den Zuspruch: „Ich habe dein Gebet erhört und deine Tränen gesehen“, und ich fühle in diesem Augenblick, es sind viele, die sich mit mir und unserer Familie daran festhalten.
Inzwischen gibt es konkrete Überlegungen, meine Frau nach Hause zu holen. Alles ist vorbereitet und seit einigen Tagen miteinander kommuniziert. Am Vorabend „besprechen“ wir in der Klinik die Einzelheiten. Die Kinder sind dabei. Am nächsten Morgen Telefonanruf aus der Klinik. Die Seele unserer Familie kehrt nicht mehr in das Haus zurück, in dem sie mit uns lebte. Im Traum nimmt mich meine Frau „Huckepack“ und springt mit mir die Pfarrhaustreppe hinauf. Ich will ihr wehren, da es bisher mein Part war, doch sie: Jetzt trage ich dich.
An meinem Geburtstag ist sie wie gewohnt die erste Gratulantin. Ich schaue auf die Uhr, es ist Vieruhrzehn, der Zeitpunkt, der mir durch jenes auf einmal so vieles verändernde Kliniktelefonat mitgeteilt wurde. Es naht der traurigste Tag meines bisherigen Lebens. Ob es ein Doppelgrab sein sollte, fragte mich der Gemeindemitarbeiter, der auch unser Kirchendiener war. Unfähig, mich zu entscheiden, überließ ich ihm die Wahl. Er wählte einen Platz in der Mitte des Friedhofes. Die ganze Gemeinde und viele aus Nah und Fern begleiten die junge Frau auf dem Weg zum Grab. Auch ich fühle mich mit unseren Kindern und unserer Familie begleitet, gestützt.
In den nächsten Tagen übernehmen die Kinder das eine oder andere Tun der Mutter. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten bleibt ein Platz zunächst leer, bis ein Kind fragt, ob es sich künftig auf Mamas Stuhl setzen dürfe. Das abendliche Ritual pflegen wir unverändert weiter. Jedes Kind hat sein eigenes Abendgebet. „Schau auch von dem Himmel nieder auf die lieben Eltern mein ...“, heißt es in einem der Gebete.
Der Alltag kehrt ein. Es fällt mir schwer, mich darauf einzustellen. Werde ich meine Aufgaben in Gemeinde und Schule gut genug bewältigen? Kann ich für andere Menschen, die mich brauchen, ganz da sein? Wo ich doch selbst mehr denn je trostbedürftig bin? Unseren Kindern muss ich jetzt Vater und Mutter sein. Sie sind mir eine große Stütze. Wie viel Lebendigkeit geht von ihnen aus. Vieles vom Wesen ihrer Mutter spiegelt sich in ihnen. Sie geben mir Halt, und ich will unseren Kindern Halt geben. Unter den Kondolenzschreiben eines meines Religionslehrers: „Ich kann nicht verstehen, dass Gott so verschwenderisch mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgeht.“ Ich will eine Zeit lang pausieren, um mehr Zeit für unsere Kinder, die Familie, zu haben.
Da kommt ein Telefonanruf aus der Schule: „Komm wieder.“ Die kollegiale Stimme tut mir gut, ich folge dem Ruf und nehme gleichzeitig den Dienst in der Gemeinde wieder auf. „O Gott, hilf ...“ In der Religionsstunde schenkt mir ein Schüler ein selbst gemaltes Bild mit einem Motiv aus der biblischen Jonageschichte. „Für dich.“ Ein großer Fisch mit weit geöffnetem Maul. Im dunklen Rachen, noch ganz hinten, ist ein Menschlein zu sehen, die Hände nach vorne zur Öffnung gestreckt. Ich bin zutiefst berührt. Das Bild begleitet mich seither. In meiner Familie mache ich die ersten Erfahrungen eines Alleinerziehenden. Besorgtes Anteilnehmen in der Gemeinde. Freundliche Angebote, mitzuhelfen. Ich muss es packen und will es. Meinen Weg unter den neuen Gegebenheiten weitergehen. Meiner Frau zuliebe. Hilfst du mir dabei? In der Gemeinde erzähle ich von meiner neuesten Errungenschaft: ein Dampfbügelautomat - Hemden- und Hosenbügeln in der halben Zeit! Einige Tage nach einem Traugottesdienst klingelt das Telefon. Die Braut bedankt sich. Ob sie meine Predigt wünsche? O ja, gerne. Aber eigentlich wolle sie sich nach dem von mir bei der Festtafel so hoch gepriesenen Bügeleisen erkundigen. Es war nicht das letzte Telefonat in dieser Sache. Praktische Theologie!
Tatsächlich stehe ich jeden Tag neu vor der Gestaltung meines nun ganz anderen Lebens. Ich tue mich schwer dabei, Beruf und Familie zu verbinden, die rechte Balance zu finden. Schlechtes Gewissen am Abend, wenn ich den Tag Revue passieren lasse. Bist du den Kindern sowie den Menschen in Gemeinde und Schule gerecht geworden? Phasen der Überforderung folgen schneller als früher aufeinander. Du wirst es, du musst es schaffen. „Sei mir ein starker Fels ..., denn mir ist angst.“ Du, wer sonst, kannst mich aus meiner Enge führen. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ Etwas von dieser Weite empfinde ich in der Musik. Geschenk des Himmels. Klänge aus der Ewigkeit. Jeden Abend sangen wir mit unseren Kindern: „... wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt ...“ Lass den Jammer, die Trauer, nicht übermächtig werden. Das Leid darf uns nicht fressen. Die Seele der Kinder soll keinen Schaden nehmen. Heute leben wir in einer großen Familie.
Ich habe ein zweites Mal eine Frau gefunden. Ihr Mann starb ebenfalls jung. Zwei vom Leid geschüttelte Familien finden zusammen. Welch ein Glück.
Hast du dafür gesorgt?
Aber zunächst unsichere Gefühle auf beiden Seiten. Sind wir unseren verstorbenen Ehepartnern nicht Treue schuldig? Können wir eine neue Beziehung eingehen, ohne unsere erste Ehe abzuwerten, die Liebe zu verraten? Hätten wir uns nicht dem Schicksal ergeben und unseren Weg als Verwitwete, wie so viele andere, weitergehen müssen? Geht das, sich neu verlieben?
Es bleiben Fragen. „Mein Gott, warum ...?“
Der von meiner Frau in vielen Stunden kunstgehäkelte Spitzensaum für die Altardecke, ein Geschenk für die Gemeinde, ist nicht ganz fertig geworden.