"Es kennt der Herr die Seinen" (EG 358) – Lieder predigen

Wenn Sie gefragt würden, welchen Menschen Sie richtig gut kennen, was würden Sie antworten? Meine Mutter? Meinen Vater, meine Geschwister, meine Kinder? Oder kommt da zuerst der Ehepartner? Der den Ring mit meinem Namen trägt? Kann ein Freund aus Kindertagen der Mensch sein, den ich wirklich kenne? Schlichtes Nachfragen führt in nötiges Nachdenken, behaupte ich.

Im Fernsehkrimi stellt der Kommissar die obligatorische Frage: „Wie gut kannten Sie den Toten?“

Die Gefragten zählen Merkmale auf, geben Einschätzungen ab, zucken mit den Achseln.

Wie tief bzw. wie oberflächlich kennen wir uns?

Klaus-Peter Hertzsch schreibt im Spätsommer 1986 ein Gedicht für seine Eltern. Sie feiern ihre Diamantene Hochzeit, den 70. Hochzeitstag. Beim Blick auf den langen gemeinsamen Weg heißt es: „Je weiter wir vom Anfang uns entfernen, umso tiefer prägt sich die Erfahrung ein, einander lieben heißt: einander kennen lernen und nie im Leben damit fertig sein.“

Die Liebe schließt uns füreinander ebenso auf wie für Gott. Sie gewinnt in verschiedenster Weise Gestalt. Sie sucht die Herzen. Sie beschreibt eine wundervolle Beziehung. Sie setzt in Kenntnis, weil sie sich mit dem Gegenüber auseinandersetzt. Auf das Verhältnis Gottes zu den Menschen trifft das in jedem Fall und zu jeder Zeit zu.

Von Menschenkenntnis in Liebe, von unvergleichlicher Vertrautheit erzählt ein altes Lied.

Vor fast 170 Jahren hat es Philipp Spitta aufgeschrieben. Wer ihn näher kennen lernen und sich auf seine Spuren begeben möchte, muss durch Niedersachsen reisen. In der Lüneburger Heide geboren, erlernt der spätere Pfarrer, Seelsorger und Superintendent zunächst das Uhrmacherhandwerk. Doch im Studium der Theologie, merkt er, wo sein Herz schlägt. Den Herren und Gott erkennen „… und nie im Leben damit fertig sein“, dazu fühlt er sich berufen. Und er glaubt fest: „Es kennt der Herr die Seinen und hat sie je gekannt, die Großen und die Kleinen in jedem Volk und Land …“

Diese Aussage sucht er in seinem Choral zu begründen. Wir wollen ihn singen nach der Melodie, die Rudolf Zöbeley 1941 für Jochen Kleppers „Er weckt mich alle Morgen“ geschrieben hat.

(EG 452)

Wir singen Strophe 1.

Zunächst lässt einen die erste Zeile an die Rede Jesu aus dem Gleichnis vom guten Hirten denken: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich ... meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir.“ (Joh 10,11.27)

Hier ist nicht bloß von einem echten Tierfreund die Rede. Hier wird die feste Beziehung zwischen dem Hirten und den ihm anvertrauten Tieren deutlich. Sie sind ein Teil von ihm selbst; sie sind die Seinen. Dass es ihnen gut gehe, das liegt ihm am Herzen. Dafür setzt er alle Kraft ein. Wenn es sein muss, sogar sein Leben. So ist dieser Hirte, und er ist unser Herr.

Seine Liebe riskiert alles. Sie stellt sämtliche Sicherheiten weltlicher Maßstäbe auf den Kopf. Die Liebe Gottes will uns ganz. Das geht über jegliches rationale Verstehen hinaus.

Philipp Spitta hat es erlebt, dass diese Liebe durch einen hindurchströmen muss. Erst dann vermag der Prediger, sie glaubwürdig weiterzusagen. Dass man sie nicht zum Gegenstand der Betrachtung machen bzw. in Dogmen fassen kann, wurde Spitta gegenüber der kirchlichen Lehrmeinung seiner Zeit überdeutlich. Der Glaube braucht das Fühlen. Erst dann wird er den Menschen zum Ganzen bringen und er wird Geborgenheit spüren, Vergebung ertasten, Frieden wahrnehmen.

Gott, der Herr, kennt uns. Er ruft uns sogar alle beim Namen, wie der zweite Jesajaprophet überliefert. Welche Nähe. Welche Liebe. Sie eröffnet die unglaubliche Tiefe der Zusammengehörigkeit. Sie zeigt sich im Beistand. Ein Christ darf sich darauf verlassen, im Leben und im Sterben geführt zu werden. Mit dem Stecken der Fürsorge und dem Stab der Liebe, auf gutes Land, dem Licht entgegen. Das Versprechen des Herrn ist sicher. „Ich bin mit dir!“ So ist und so bleibt es.

Trotzdem kommen Zweifel auf. Sie sind dem Herrn nicht unbekannt. Wie wir plötzlich zaudern und zögern, weil Lippenbekenntnisse auf dem Blitzeis der Anfechtung einfach wegrutschen. Weil der feste Stand zu Lesung und Gebet in der Kirchenbank jedoch in Gegenwart von Krankheit und Tod ins Trudeln gerät wie der Kreislauf in der Gewitterschwüle. Die Gewissheit nicht verlieren, das fällt schwer. Wenn wir sie in Not und Angst zusammenlegen als Schwestern und Brüder, wird sie reichen. Wenn wir versuchen, sie als Licht mit denen zu teilen, die dieses Licht überhaupt nicht kennen, dann werden wir zu neuer Stärke finden.

Nun sieht uns der Liederdichter mit den Augen des Herrn und erkennt, wie wir unsere Gottesbeziehung mit Leben erfüllen. Als Geländer dient die wegweisende Aussage des Apostels Paulus, die das Hohe Lied der Liebe beschließt.

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

(1. Kor 13,13). Glaube, Hoffnung, Liebe, von diesen Dreien künden die Liedverse 2 bis 4.

Wir singen sie jetzt und werden der Aufgabe gewahr, die der Gabe Gottes entspringt.

Glauben auf das Wort hin! Wir haben biblische Vorbilder. Petrus überwindet seine Berufserfahrung und spricht zum Herrn: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen, aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen!“ (Lk 5,5) Glauben gegen den Anschein. Selig, wer es vermag! Vertrauen wie der heidnische Hauptmann, draußen vor der Stadt. „Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.“ (Mt 8, 8) Glauben aus der Kraft des heiligen Wortes heraus. In Demut und Ehrfurcht lernen, dass hier keine Vorräte anzulegen sind. Die Herausforderung steht immer neu.

„Glaube ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist“, sagt der Dichter Tagore. Das Lied auf das Leben. Und dabei sich auf das Wort berufen und dann geradestehen vor anderen und sich selbst. Gelingt das? Gott kennt uns. Er weiß um unsere Fäulnis erregende Kompromissbereitschaft. Auch, dass wir das Wort so weit abschleifen können, bis es nicht mehr sticht. „Ich kenne meine Pappenheimer, ihre Schwächen, ihre Not, und be-kenne mich dennoch zu ihnen.“ Das ist unser Herr!

In der dritten Strophe kommt die Hoffnung zur Sprache. Das Bild der grünen, unverwelkten Pflanze unterstreicht das Lebendige. Wenn der Herr uns an der Hoffnung Mut erkennt, dann mag es manchmal nur der Mut der Verzweiflung sein. Im Boot wecken die Jünger todesängstlich ihren Kapitän und schreien: „Herr, hilf, wir kommen um!“ (Mt 8,25). Er ist ihre sprichwörtlich letzte Hoffnung. Daran klammern sie sich und werden kleingläubig genannt, aber letztlich gerettet. Das Leben zählt! Und falls unsere Hoffnung ein einziger grüner Halm sein sollte, der sich zwischen den Ritzen der Betonplatten des scheinbar Unabänderlichen herauswagt, so gibt es ihn dennoch.

Gott ist da. Ganz gleich, was passiert. Komme, was mag. Auf ihn hoffen heißt einen Schritt vom Abgrund zurücktreten.

Glaube, Hoffnung und jetzt die Liebe. Die Größte unter ihnen. Liebe kann man nicht machen. Auch nicht kaufen. Liebe ist ein Geschenk. Genauso Hoffnung und Glaube. Aber jedes Herz, das unser Schöpfer schlagen lässt, in dem Moment, da es zur Welt kommt, ist voll von Liebe. Jedes Herz trägt in sich das Samenkorn der Liebe. Es möge aufgehen und Früchte tragen. Auf seinem Weg ins Leben wird aber manches Herz verhärtet. Die Liebe kann weder raus noch rein. Gott kennt das. Aber er gibt nicht auf. Unaufhörlich stiftet er zur Liebe an. Sein Segen liegt auf den Liebestaten. Mögen sie noch so unvernünftig und verschwenderisch sein.

Da liegt die Mutti im Krankenhaus, und ihre Tochter hat große Angst. Deshalb ist sie in der Schule nicht bei der Sache. Während der schriftlichen Leistungskontrolle legt sie ein Blatt auf den Fragebogen und schreibt der Mutti einen Brief. Die anderen Schüler sollten es nicht merken, darum jetzt und auf diese Art. Plötzlich steht der Lehrer auf und kommt zielgerichtet an den Platz des Mädchens. Fix schiebt sie das Briefblatt in ihren Block. Er will wissen, was los ist. Sie gibt das Geheimnis nicht preis. Die Zeit ist um. Nur eine Frage hat das Kind beantwortet. Der Lehrer erteilt eine Sechs. Diese Leistung ist ungenügend, doch die Bestrafte stolz. Sie steigt in die Straßenbahn und fährt zur Klinik. Mutti liegt auf der Intensivstation. Durch die Glaswand sieht die Tochter, dass der Brief auf den Beistelltisch gelegt wird. Sie freut sich in aller Angst. Das war das Beste, was sie an diesem Tage tun konnte. Irgendwann später will die Mutter wissen, wie es zu dieser schlechten Zensur kam. Da beichtet die Elfjährige. Auch weshalb sie dem Lehrer den Liebesbrief nicht gezeigt hat. Die Mutter nimmt sie in den Arm, schenkt ihr einen Kuss und sagt: „Ich kenne dich, mein Kind. Du bist wunderbar.“

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Die Liebe ist am größten. In dieser Liebe kennt uns Gott, der Herr. Wenn uns der vorletzte Liedvers jetzt eine Art Zusammenfassung und Deutung gibt, werden wir neu auf unsere Abhängigkeit vom Schöpfer und Erlöser aufmerksam gemacht. Ganz gleich, ob klein, ob groß, ob stark oder schwach, wo auch immer auf dem blauen Planeten: Es kennt der Herr die Seinen. Er begabt sie mit den Voraussetzungen, glauben, hoffen und lieben zu können.

Vor aller Welt und zu jeder Zeit soll diese Lebensart uns kennzeichnen. So mögen wir antworten auf Gottes Rufen. Dass es möglich ist, dafür hat er selbst gesorgt. Wie wir es tun, steht in unserer Verantwortung.

Wir singen Strophe 5.

„So gut kennt der Herr die Seinen ...“, wie wir die Unseren, selbst innerhalb der Familie, kaum kennen. Wir bleiben einander im bestimmten Maße ein Geheimnis. Das auf dem Herzensgrund Verborgene werden wir nicht aufdecken. Wir müssen es auch nicht. Klaus-Peter Hertzsch sagt: „Denn in dem andern liegt ein Sinn verborgen, ein Einfall Gottes unverwechselbar, ein ferner Glanz vom ersten Schöpfungsmorgen, und manchmal ahnen wir, wie groß der war.“ In dieser Erkenntnis, die Würde des anderen zu wahren, fördert nicht die Gleichgültigkeit, sondern die Achtung vor dem Einmaligen und Unverwechselbaren.

Sich füreinander öffnen und mit dem Kennenlernen niemals fertig sein, voller Vertrauen, zuversichtlich und liebevoll, hilft gegen jedwede Oberflächlichkeit im Umgang. In allem aber soll uns bewusst sein, dass vor Gott alles aufgedeckt ist. Das schafft Sicherheit und Hilfe. Denn darauf ist der Glaube angewiesen. Wollen wir uns darauf besinnen und den Inhalt des Liedes weitertragen.

Die letzte Strophe mag als gesprochene Bitte auf das Kennen mit dem Bekennen antworten. Es ist die Bitte um ein echtes und gerettetes Leben; ein Leben, das dem Willen Gottes entspricht.

Wir beten Strophe 6.

Alternativgebet:

Herr, du kennst uns. Darin liegt unsere Chance. Du siehst, wie porös unser Glaube ist, wie zerbrechlich unsere Hoffnung, wie halbherzig unsere Liebe. Auch wenn wir es anders wollten, oft können wir nicht aus unserer Haut. Aber das kennst du ja längst. Wir bitten dich um deine Gegenwart. Bleibe bei uns in jedem Augenblick und dann, wenn wir unsere Augen schließen. Verändere und befreie uns. Damit der Glaube hält, die Hoffnung bleibt, die Liebe trägt.

(Literatur: Klaus-Peter Hertzsch, Chancen des Alters, Radius Verlag 2008, S. 82ff)

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