"So nimm denn meine Hände" – Liedpredigt zum Ewigkeitssonntag, EG 376

„Zu welcher Musik möchte man in die Ewigkeit (oder in das Nichts) eingehen?", fragt die Wiener Schriftstellerin Hilde Spiel am Ende ihrer Autobiografie. Sie gibt zur Antwort:
„Ich hatte mir immer eine Schubert-Melodie gewünscht. Oder die c-moll-Sonate von Telemann für Oboe und Cembalo. Nun aber drängt sich mir der Ausklang des letzten der vier letzten Lieder von Richard Strauss auf ‚wie sind wir wandermüde', in dem das Motiv von Tod und Verklärung sich wiederholt. Nun gut, sage ich mir, wenn das der Vorschlag aus dem Jenseits ist, dann will ich ihn annehmen. Ich habe mich im Grunde immer einem Wink, der von außen kam und einsichtig war, gefügt."

Schubert, Telemann, Strauss. Grönemeyer, Hinterseer, Pink Floyd. Wer wünschte sich nicht, in den letzten Lebensmomenten noch einmal Musik zu hören, in der etwas vom eigenen Leben anklingt. Nicht die Fieptöne der medizinischen Apparate auf der Intensivstation, nicht das Quietschen von Bremsen und das Krachen aufeinander-prallender Autos, nicht den Schlag des Defilibrators. Zu welcher Musik möchte man in die Ewigkeit eingehen? Noch einmal singen, noch einmal rocken, noch einmal hören diese eine Melodie. In den meisten Fällen bleibt die Auswahl dann denen überlassen, die die Feierlichkeiten der Beerdigung miteinander gestalten. Die Musik, die auf dem Friedhof gewünscht und gespielt wird, ist so bunt und vielfältig wie das Leben der Menschen, die wir zu Grabe tragen. Volksmusik ist dabei und Popballaden werden eingespielt, auch Zirkusmusik erklang an einem sonnigen Tag auf dem Weg zu einem kleinen Grab, Choräle von Paul Gerhardt und „Tears in Heaven" von Eric Clapton.

Ein Lied gibt es, das über viele Geschmacks- und Milieu-grenzen hinweg bei vielen Beerdigungen gesungen wird. Es ist das Lied, das auch wir gerade gesungen haben: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich" nach einem Text von Julie Hausmann und einer Melodie von Friedrich Silcher.
Wer nun gleich einwenden will, dass dieses Lied doch eher schlicht und rührselig ist, dem wird man zunächst nicht allzu viel Gewichtiges entgegenhalten können. Ja, es stimmt. Das ist ein sentimentales Lied. Es bietet keine ausgefeilte Theologie, sondern redet in kindlichem Vertrauenstonfall, sein Gottesbild bleibt verschwommen, das Menschenbild ist passiv und schicksalsergeben. Der Kommission, die das Lied vor seiner Aufnahme in unser jetziges Gesangbuch auf seine Tauglichkeit hin überprüft hat, fehlt auch ein Bezug auf biblische Traditionen. „Gefühlchen statt Gefühl, Behaglichkeit statt Geborgenheit, Kindertümlichkeit statt Gotteskindschaft", lautet das strenge kritische Urteil.

Trotzdem hat es seinen Weg gemacht, steht sogar im Stammteil des Gesangbuchs und wird bei weit mehr als der Hälfte aller Beerdigungen gesungen. Bei einer Umfrage unter evangelischen Christen, die ein ihnen bekanntes Kirchenlied anführen sollten, belegte es hinter „Ein feste Burg ist unser Gott" und „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" den dritten Platz. Ich will versuchen zu sagen, warum das so ist, und dazu aus jeder der drei Strophen einen Gedanken aufgreifen.

„So nimm denn meine Hände." Was im Lied als Gebetszeile angelegt ist, das ist in vielen Fällen auch die unausgesprochene Aufforderung vieler sterbender Menschen. Nimm meine Hand. Halt mich fest. Ganz unwillkürlich tun wir das dann auch und ergreifen wir die Hände eines Menschen am Krankenbett, mit dem wir vielleicht nicht mehr reden können, wir drücken sie, wir legen sie uns an die Wange, wir streicheln den Handrücken. Es sind dieselben Hände, die ein Leben lang in Aktion waren, die uns vielleicht, als wir klein waren, an der Hand genommen und geführt haben, die uns gestreichelt haben und manchmal vielleicht auch geschlagen, eine Hand, um die einer angehalten und sie zum Traualtar geführt hat, Hände, mit deren Arbeit wir ernährt wurden, die uns die Welt gezeigt und erklärt haben, die uns gesegnet und abgewiesen haben. Hände, die schließlich zu schwach wurden, um eine Tasse, einen Löffel, eine Blume zu halten. Sie werden auf einmal zu einem wichtigen Kommunika-tionsmittel. Und wir sind es, die Frauen und Männer, Töchter und Söhne, Mütter und Väter, Schwestern und Brüder, Schwiegerkinder, Enkelinnen, Freunde, die plötzlich tun, was in diesem Lied beschrieben wird. Wir halten jemandem die Hand. Vielleicht war es tatsächlich so: Bis zum letzten Atemzug, bis ans Ende, haben Sie jemandes Hand gehalten. Oder ein winziges Wesen in ihrer Hand. Und haben dann auch die Erfahrung gemacht, diesen Menschen aus ihren Händen geben zu müssen. Sie halten plötzlich nicht mehr. Sie müssen die Hand loslassen. „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende." So heißt es im Lied. „Und ewiglich." Das können wir nicht. An der Pforte des Todes müssen wir loslassen oder werden losgelassen. Aber, und davon singt dieses Lied, wir können den Menschen, den wir hergeben müssen, anderen Händen anvertrauen wie bei einer Wachablösung am Krankenbett: Komm, übernimm du. So sage ich es manchmal, wenn wir am offenen Grab stehen und diesen schweren Moment aushalten müssen, dass ein Sarg ins Grab gelassen wird: „Wir legen diesen Menschen in Gottes Erde und in Gottes Hände." Wir sehen die Bewegung, die so unaufhaltsam und endgültig nach unten weist. Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.

Gehen wir einen Schritt weiter zur nächsten Strophe. Da heißt es: „Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind", und in diesen Worten klingt nun doch ein biblisches Motiv an. Mich erinnert diese Zeile an die Geschichte von Maria und Marta aus dem Lukasevangelium. Maria und Marta sind zwei Schwestern aus dem Freundeskreis Jesu. Bei einem Besuch Jesu passiert Folgendes: Marta ist sehr geschäftig und wuselt im Haus herum, richtet alles, wischt, bäckt, kocht, putzt, fegt. Sie macht sich viel zu schaffen, heißt es, Maria aber setzt sich von Anfang an in aller Ruhe zu Jesus, zu seinen Füßen und hört ihm zu. Als Marta sich über die mangelnden Unterstützung ihrer Schwester beschwert, gibt Jesus zur Antwort: „Maria hat das gute Teil erwählt, das soll ihr nicht genommen werden." „Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind." In der Begegnung mit Trauernden erlebe ich auch oft diese beiden Anteile, die in Maria und Marta so treffend verkörpert sind. Einerseits halten einen die vielen Dinge, die es zu erledigen gilt, aufrecht und am Leben. Es müssen allerhand Geschäftigkeiten erledigt werden, Grabstellen ausgesucht, ein Sarg bemalt, Papiere beschafft, Blumenschmuck bestellt und ein Gasthaus für den Leichenschmaus gefunden, Beileidskarten verschickt, Adressen ausfindig gemacht werden. Da sehnt man sich gelegentlich danach, einfach einmal nichts tun zu müssen und zur Ruhe kommen zu dürfen, zu begreifen, was geschehen ist, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper, ein Foto anzuschauen und eine Kerze anzuzünden, zu weinen, bis nichts mehr kommt, für sich und mit sich und seinen Gedanken allein sein. Die Augen schließen und glauben blind. Andererseits oder fast gleichzeitig fürchtet man genau diese Augenblicke, wenn der letzte Gang erledigt und das letzte Telefonat geführt sind und die Stille einkehrt. Plötzlich ist es eine Totenstille, in der viel mehr an die Oberfläche kommt, als man vielleicht zulassen möchte. Lass ruhn zu deinen Füßen dein armes Kind. Es will die Augen schließen und glauben blind. So ein Augenblick will erlebt und ausgehalten sein.

„Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht", beginnt die dritte Strophe. Sie beschreibt ziemlich treffend, wie trauernde Menschen sich fühlen. Leer, taub, als wäre etwas abgestorben, vom Leben abgeschnitten, wie gelähmt. Da dringt nichts zu einem durch, kein Trost, keine Beileidsbezeugungen, keine Nähe, auch wenn sie gut und aufrichtig gemeint ist. Eine Frau sagt zu mir: „In den Tagen nach dem Tod meines Mannes habe ich alles nur wie durch einen Nebelschleier wahrgenommen. Ich habe die Menschen gesehen und ich habe ihre Worte gehört und ich habe wohl auch irgendwie richtig darauf reagiert, aber es drang nichts bis zu mir durch. Irgendwie habe ich funktioniert, aber alles war gefühllos geworden, als hätte der Tod mir etwas genommen von meiner Fähigkeit, Gefühle zu haben. Viele Tage lang konnte ich auch nicht weinen. Da war einfach nichts. Ich habe so etwas noch nicht erlebt." Nichts mehr fühlen. Wir denken vielleicht, dieser Satz träfe in erster Linie auf die Toten zu. Aber er gilt auch den Lebenden. Gerade in dem Augenblick, wo so viele Gefühle da sein sollen, fühlen wir gar nichts. Nichts von Menschen. Und eben auch nichts von Gott. Wie abgeschnitten sind wir von den Quellen unseres Lebens.

Das Lied, das in diesen Situationen dann so gern gesungen wird, analysiert und problematisiert diese Dinge nicht. Es nimmt sie einfach wahr und spricht sie aus. Es lehnt sich an Gott wie an eine Mauer, von der es in diesem Augenblick nur eines zu spüren gilt, dass sie hält, nicht nachgibt, nicht einstürzt. Es streckt einfach suchend seine Hände aus in der Hoffnung, dass durch den Nebel hindurch sie jemand ergreift. Zu mehr reichen die Gedanken und reicht die Kraft oft nicht.

Ich will Ihnen erzählen, wie dieses Lied entstanden ist. Vielleicht ist es eine Legende, denn die Geschichte ist fast zu schrecklichschön, um wahr zu sein. Aber hören Sie selbst.
Da ist eine junge Frau mit Namen Julie Hausmann. 1826 wurde sie in Riga geboren. Mit ihren fünf Schwestern lebt sie im Haus des Vaters. Sie ist ein blasses und kränkelndes Kind und wird es bis zu ihrem Tod im Jahr 1901 bleiben. Zum Zeitpunkt, da wir in ihre Geschichte einsteigen, ist sie aber verliebt und glücklich. Sie möchte heiraten. Ein junger Pfarrer hat es ihr angetan. Kurz nach der Verlobung macht der sich auf, um wie lange schon geplant in Afrika als Missionar tätig zu werden. Julie folgt ihm im Abstand mehrerer Wochen, nachdem auch sie die nötigen Papiere zusammenhat. Als sie nach wochenlanger Schifffahrt am Zielhafen ankommt, fehlt von ihrem Verlobten jede Spur. Auf abenteuerlichen Wegen muss sie sich zu der Missionsstation durchschlagen, bei der er arbeitet. Dort empfängt sie die Nachricht, dass ihr Verlobter drei Tage vor ihrer Ankunft an einer Infektion gestorben ist. Sie kann nur noch sein Grab aufsuchen. Noch am selben Abend, so wird es berichtet, entsteht dieses Lied. Es ist das Lied einer verhinderten Hochzeit und es ist das Lied einer verpassten Beerdigung. Zu beiden Anlässen ist es denn auch immer wieder gesungen worden.
Und zwar auf jene Melodie, die Friedrich Silcher eigentlich für ein ganz anderes Abendlied geschrieben hatte. Unbekannt ist, wie Text und Melodie zusammenkamen. Bekannt ist, dass Friedrich Silcher auch andere Texte zu religiösen Schlagern vertont hat, die sich trotz beharrlicher Kritik, was ihre Güte anlangt, ungebrochener Beliebtheit erfreuen.
Oder singen Sie nicht am Heiligen Abend „Stille Nacht, Heilige Nacht"?

Zu welcher Musik möchte man in die Ewigkeit eingehen? Schubert, Telemann, Strauss, Grönemeyer, Hinterseer, Silcher. Wenn wir den Beginn der Ewigkeit heute am Ewigkeitssonntag einmal vom anderen Ende her betrachten, also vom Jüngsten Tag aus, dann ist es nach biblischem Zeugnis unstrittig, welche Musik da gespielt wird.

So schreibt der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und das plötzlich in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!"

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