Gott – Richter und Retter – Predigt für den Dreifaltigkeitssonntag – Für alle

Henry La Guardia war von 1934 bis 1945 Bürgermeister von New York. Von ihm wird folgende Geschichte erzählt:

An einem Wintertag führte man Henry La Guardia einen alten, vor Kälte zitternden Mann vor. Man hatte ihn in einem Laden beim Diebstahl eines Brotes ertappt. La Guardia sah sich an das Gesetz gebunden, das keine Ausnahme duldet. Deshalb verurteilte er den Mann zu einer Geldstrafe von zehn Dollar. Dann aber griff er in die eigene Tasche und bezahlte den Betrag anstelle des Angeklagten. Er warf die Zehndollarnote in seinen grauen Filzhut. Daraufhin wandte er sich an die Anwesenden im Gerichtssaal und bestrafte jeden Einzelnen von ihnen mit einem Bußgeld von 50 Cent; er begründete die Strafe mit dem Hinweis, dass sie in einer Stadt leben würden, wo sich ein Mensch zum Brotdiebstahl genötigt sieht, um nicht zu verhungern. Der Gerichtsdiener kassierte sofort die Strafe mit dem grauen Filzhut und übergab sie dem Angeklagten. Dieser traute seinen Augen nicht. Er verließ den Gerichtssaal mit 47 Dollar und 50 Cent und konnte zum ersten Mal seit Langem wieder etwas anfangen mit seinem Leben.¹

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¹zitiert nach: Kirche im Rundfunk Nr.14/2010, S.461f.

Was für ein kluger Richterspruch, liebe Schwestern und Brüder! Da wird ein Angeklagter, der nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus purer Not gestohlen hat, nicht abgeurteilt. Stattdessen sorgt der Richter dafür, dass der arme Kerl in Würde leben kann und dass seine Stadt ein bisschen menschlicher wird.

So ungefähr können wir uns die Tätigkeit eines Richters in der Zeit und der Welt der Bibel vorstellen. Damals war das Oberhaupt jeder Großfamilie der Richter. Wenn es unter den Familienmitgliedern Streit gab, dann sorgte das Familienoberhaupt dafür, dass alle Beteiligten sich an einen Tisch setzen und zusammen mit ihm die Probleme klären. Und wenn es Ärger zwischen den Großfamilien gab, setzten sich die Oberhäupter als Richter zusammen und überlegten, wie die Unstimmigkeiten aus der Welt geschafft werden können.

Die Richter kümmerten sich also darum, dass alle in Ruhe miteinander leben. Ihre Tätigkeit, das Richten, war daher weniger vom Verurteilen oder gar Hinrichten geprägt, sondern vielmehr von »Richten« im Sinne von »Reparieren«; man sagt ja bei uns umgangssprachlich: »Mein Fahrrad hat einen Platten. Ich muss es richten.« Oder: »Papa, kannst du mir meine Taschenlampe richten? Sie geht nicht mehr.«- Das war das Ziel des Richtens in der altorientalischen Kultur: kaputte Beziehungen reparieren, Ärger und Streit reparieren und damit die betroffenen Menschen auf-richten.

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Ein solches Richter-Bild liegt vor allem dem Alten Testament zugrunde, wenn dort Gott als Richter bezeichnet wird. Gott als Oberhaupt der Menschheits-Familie, der die Menschen aufrichtet, indem er das repariert, was in ihrem Leben kaputt gegangen ist. Gott als Richter, vor dem niemand Angst haben muss, weil dieser Richter dafür sorgt, dass sie in Ruhe und Würde leben können.

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Jesus ist mit diesem Verständnis von »Richter« vertraut. Doch als um das Jahr 100 herum das Johannes-Evangelium geschrieben wird, ist dieses Richter-Bild nicht mehr so geläufig. Die griechische Kultur breitet sich aus, und in dieser sind die Richter juristische Profis, die nach dem Gesetzbuch vorgehen und je nach Sachlage Strafen verhängen oder freisprechen. Und so beginnen die Menschen den Richter-Gott falsch zu verstehen; sie bekommen Angst vor ihm, sie befürchten, er könnte sie bestrafen, wenn sie Fehler gemacht haben, oder sogar in die Hölle werfen, wenn die Lebens-Bilanz nicht positiv genug ausfällt. Um dieses Missverständnis zurechtzurücken, schreibt Johannes in seinem Evangelium: »Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.« (Joh 3,17)

Richten und retten- im alttestamentlichen Verständnis war das das Gleiche, gegen Ende des ersten Jahrhunderts nicht mehr. Deswegen diese Abkehr vom Richter-Gott und die Verkündigung von Gott als Retter im heutigen Evangelium. Wenn Johannes kurz darauf Jesus wieder als »Richter« bezeichnet, dann auf diesem Hintergrund, dass der Richter immer auch rettet, also Kaputtes im Leben repariert und wieder gut macht.

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Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir dies wissen, brauchen wir keine Angst vor Gott zu haben. Gott ist immer Richter und Retter zugleich. Ein Richter nach dem Verständnis der Kultur des Alten Orients, der nicht hinrichtet, sondern aufrichtet, der nicht verurteilt, sondern repariert.

Wesentliche Eigenschaften dieses göttlichen Richters nennt uns die Lesung des heutigen Tages. Die erklärt uns: »Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.« Mit diesen Eigenschaften wird der göttliche Richter zum Retter; schauen wir sie genauer an.

  • Barmherzig: Gott hat ein Herz für uns, er sieht zuerst das Gute in uns.
  • Gnädig: Gott meint es gut mit uns, er rechnet uns nicht jeden Fehler kleinlich vor, sondern verzeiht großzügig, wenn wir bereuen.
  • Langmütig: Gott hat Geduld mit uns, er lässt uns Zeit, damit wir abschätzen können, was richtig und falsch war.
  • Reich an Huld: Gott ist liebevoll. Mit diesem liebevollen Blick schaut er uns an.
  • Reich an Treue: Gott hält zu uns, er wendet sich nie von uns ab, auch dann nicht, wenn wir Fehler machen.

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Liebe Schwestern und Brüder, das heißt für uns:

  • Wie ein alttestamentlicher Richter ist Gott darum bemüht, dass wir in Ruhe und Würde leben können- und die anderen Menschen ebenso. Damit dies gelingt, hat er uns in der Bibel wichtige Tipps hinterlassen- vor allem die Zehn Gebote.
  • Gott sieht unseren guten Willen und freut sich darüber. Noch mehr freut er sich, wenn gute Worte und Taten daraus entspringen.
  • Gott haut uns nicht in die Pfanne, wenn wir Fehler machen, und wendet sich auch nicht beleidigt von uns ab. Gott hat Geduld mit uns und hilft uns zu erkennen, was wir besser machen können.
  • Gott verzeiht uns, wenn wir Fehler bereuen, und er repariert Kaputtgegangenes in unserem Leben, damit es wieder gut wird.
  • Und Gott bleibt uns freundlich und liebevoll zugewandt.

An diesen Gott zu glauben, tut gut- es ist unser Gott, der nie richtet, ohne zu retten.

Matthias Blaha

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