In den vergangenen Monaten hat sich die Lage weiter zugespitzt. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump und sein Vize J. D. Vance haben auf offener Bühne die bereits in Unordnung geratene Weltordnung endgültig für beendet erklärt. An die Stelle von wertebasierten Beziehungen und internationalem Recht treten Deals und die Macht des Stärkeren. Nicht, dass es solche Prioritäten nicht schon zuvor gegeben hätte – aber als offizielle Linie der größten Weltmacht sind sie neu. Gleichzeitig droht ein Handelskrieg mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. So sehr nun innergesellschaftlich ein starker Zusammenhalt helfen würde, so offensichtlich treiben Verteilungs- und Kulturkämpfe die Bevölkerung weiter auseinander, verstärkt durch ein bislang ungekanntes Maß an Populismus, der auch in die politische Mitte und seriös geglaubte Medien einsickert. Noch dazu vermeldet die Weltwetterorganisation dramatische globale Gletscherschmelzen, die die Meere ansteigen lassen. Die Ausmaße entsprechen dem Trinkwasserbedarf der gesamten Weltbevölkerung für 30 Jahre. Die Welt scheint zu einer einzigen Baustelle geworden zu sein.
Mit Geld alleine werden sich diese Probleme nicht lösen lassen. Ohne Geld freilich auch nicht, weshalb die Kehrtwende der Union bei der anvisierten Finanzierung im Bereich Verteidigung und Infrastruktur zwar einer Wählertäuschung ebenfalls noch nicht erlebten Ausmaßes gleichkommt – aber im Ergebnis notwendig ist. Doch neben der Aufnahme der Arbeit, die direkt vor uns liegt, brauchen wir einen langfristigen Plan, wo wir grundsätzlich hin wollen. Es ist ausreichend begründet worden, dass es eine neue Zukunftserzählung, „eine gute Geschichte“ (Florence Gaub) für die Zukunft braucht. Dafür wiederum braucht es das Bewusstsein, dass die Zukunft grundsätzlich offen und gestaltbar ist.
Wir müssen streiten lernen und besser zuhören
Über die richtige Richtung kann und muss gestritten werden: Wir müssen lernen, wieder angemessen zu streiten, Begründungen zu liefern, persönliche Angriffe zu vermeiden und trotz unterschiedlicher Meinungen potenziell befreundet sein zu können. Dem geht das gegenseitige Zuhören voraus. Nicht das Land ist polarisiert, vielmehr werden unsere Debatten fast ausschließlich polarisiert geführt, beschreibt der Soziologe Steffen Mau. Dabei sind sich breite Mehrheiten oftmals einig oder es gibt zumindest die Chance zur Einigung. Diesen Beweis müssen Demokraten wieder neu antreten, sonst haben die Extremen freie Bahn. Es geht darum, all die verfügbaren Kräfte in Deutschland zu mobilisieren, die immer wieder sichtbar werden, wenn man sie braucht und ohne dass man sie ruft: sei es bei der Bewältigung von Fluchtbewegungen, im Kampf gegen den Klimawandel, bei großen Demonstrationen gegen Remigrationspläne der AfD oder bei jeder Hochwasserlage. Die Zeit dafür ist reif. Dass in Deutschland zu viel gejammert wird, befinden 48 Prozent der Befragten einer Allensbach-Umfrage.
Wie kann es gelingen, aus dem Jammertal herauszukommen? Gewiss kann die neue Bundesregierung helfen, indem sie weniger Durcheinander vermittelt, transparenter kommuniziert, komplexe Zusammenhänge erklärt und Zielkonflikte aufzeigt. All das tut not. Doch der entscheidende Hebel liegt andernorts. Denn was ließ die Menschen an die Bahnhöfe strömen, mit Decken und Thermoskannen voller Tee, als die Balkanroute geöffnet wurde und innerhalb weniger Monate über eine Million Geflüchteter vor allem aus Syrien unser Land erreichten? In das überflutete Ahrtal strömten 2021 mehr Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet, als dort hilfreich sein konnten. Als Russland 2022 die Ukraine vollumfänglich angriff, stand plötzlich Wohnraum zur Verfügung, den man den Geflüchteten der Jahre davor vorenthalten hatte.
Entscheidend sind sicher konkrete Menschen, die loslegen und andere mitziehen. Hilfreich sind Strukturen, in denen sich Interessierte sinnvoll einbringen können; unsere real existierenden Strukturen bewirken oftmals eher das Gegenteil. Fundamental aber ist etwas anderes, im Grunde Banales: Es ist die Einsicht, gebraucht zu werden. Wir Menschen sind zufrieden, vielleicht sogar glücklich, wenn wir Sinn in unserem Handeln erkennen und ahnen können, wofür es gut ist, wohin es führt.
Deshalb müssen wir dem „Orientierungsnotstand” (Oskar Negt) begegnen. Orientierung entsteht nicht nur durch gute Führung. Eine neue Art der Orientierung oder zumindest Resilienz bei schwacher Orientierung muss sich heute erstmals demokratisch entwickeln. Dazu zählt auch das Ausloten von Möglichkeiten, sich gesellschaftlich einzubringen und dabei neue Selbstwirksamkeit zu erfahren – gegen starke Kräfte, die das Gegenteil im Sinn haben, die Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten, manches davon gesteuert aus den Hauptstädten autoritärer Staaten.
Die Menschen müssen sich die Zukunft wieder aneignen. Zukunft ist kein Elitenprojekt, sondern ein Projekt für alle. „Wer Leute für Veränderungen begeistern möchte, muss ihnen das Gefühl geben, dass sie die Veränderungen nicht nur erdulden oder erleiden, sondern sie mitgestalten“, so Steffen Mau. Es geht um „Mitmachmöglichkeiten“. Es gibt vielfältige entsprechende Initiativen in den Städten und auf dem Land, aber sie müssen sichtbarer gemacht und vernetzt werden. Denn gute Beispiele leiten uns oft mehr als große Theorien. Darin scheint schon heute eine mögliche Zukunft auf. Sie zeigen, wie es gehen kann und was noch fehlt. So lassen sie Hoffnung konkret werden.
Eine neue Zukunftserzählung muss kein Text sein; Menschen schöpfen Inspiration und Klarheit aus unterschiedlichen Quellen. Auf dem Weg dahin helfen Erzählungen, Bilder, Musik, Objekte, Installationen, Räume. Emotionen müssen ins Spiel. Die Zukunft zurückzuerobern verlangt alle Sinne. Eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft braucht gemeinsame Werte als Fundament, Kitt und Antreiber für aktives Tun. Wer wollen „wir“ sein – als Menschen, als Deutsche, als Europäer? Es gilt, Spannungen und Widersprüche aushalten zu lernen und mit ihnen die Widersprüchlichkeiten unserer Zeit.
Man kann das „Wir“ auch groß schreiben. Die Zukunft muss in jedem Fall eine gemeinsame Zukunft sein; aus lauter Ichs entsteht eben noch kein Wir. Es braucht die Wiederentdeckung des jeweils einzigartigen Menschen als soziales Wesen. Das ist kein Sozialklimbim. Den Menschen zeichnet die Fähigkeit aus, mit anderen in großer Zahl flexibel zu kooperieren. Entscheidend ist, was wir aus unseren Fähigkeiten machen und welches Wertefundament wir unserem Handeln zugrunde legen, um nicht weit unter unseren Möglichkeiten zu bleiben.
Das Gemeinwohl wird dann wieder zu einem attraktiven Konzept, wenn das derzeit vorherrschende Gefühl, dass nur ein kleiner werdender Kuchen aufgeteilt werden soll, dem Gefühl weicht, gemeinsam frische Kuchen zu backen. Dieses Versprechen muss ein attraktiver Zukunftsentwurf leisten. Denn wer „an eine gemeinsame Zukunft glaubt, verbündet sich“ (Marc Saxer).
Wie kann das gelingen? Wir Menschen scheinen nicht besonders gut darin zu sein, in größeren Linien zu denken. Das Misstrauen sitzt tief, dass die Probleme unserer Zeit gar nicht gesehen werden. Natürlich verheißen Populisten auf komplexe Fragen einfache Antworten, die in aller Regel nicht hilfreich bis falsch sind. Doch der Zulauf, den sie erhalten, ist Ausdruck des weit verbreiteten Gefühls, dass es so, wie es gerade ist, nicht bleiben kann – eine Einsicht, die Nicht-Populisten entweder nicht zu sehen oder nicht auszusprechen bereit scheinen. Insofern sind die Regierten vielleicht sogar einsichtiger als die Regierenden.
Der mangelnde Optimismus hängt auch damit zusammen, dass wir zu wenig schätzen, was wir haben. Zugleich lassen sich Probleme nicht von der Hand weisen: Aktuell soll die Energieversorgung umgestellt werden, die industrielle Basis unserer Wirtschaft steht unter Druck, die Infrastruktur ist vielfach marode, die äußere Sicherheit muss auch ohne oder mit weniger Einsatz der USA gewährleistet werden. Unser Bildungssystem wird seit Längerem eher zum Ausputzer gesellschaftlicher Probleme degradiert und hebt die wichtigsten Ressourcen, die wir im Land haben, nur sehr unzureichend. Viel zu langsam begreifen wir, welche Konsequenzen der demografische Wandel für uns hat. Das alles soll, müsste, muss sich ändern.
Wer in dieser Situation das Land auf Zuversicht, Hoffnung und Zukunft trimmen will, muss zunächst verdeutlichen: Wir leben in einer Zeit des Übergangs. Heute werden die Weichen dafür gestellt, ob es uns gelingt, klima- und umweltverträglich zu leben und zu arbeiten und gleichzeitig neue Arbeitsplätze und Perspektiven zu schaffen. Die kommenden Jahre entscheiden, ob unser Land zunehmend auseinanderdriftet oder ob es gelingt, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Ob sich in der Welt die Stärke des Rechts durchsetzt oder das Recht des Stärkeren. Solche Zeiten des Übergangs fordern uns einiges ab. Erst auf einer realistischen Grundlage entstehen „Visionen, die gehen“ (Olaf Scholz).
Gesucht wird deshalb die moderne, zivile Variante einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede. So schreibt es Ullrich Fichtner mit Verweis auf die vielen irrigen Vorstellungen, die wir uns von der Zukunft machen: „Die meisten Leute glauben immer noch, dass sie nur ihren Müll ordentlich trennen und weniger verpackte Sachen kaufen müssen.“
Möglicherweise wurde eine solche Rede bereits gehalten. Aber wer hat es mitbekommen? Das Sichtbarmachen solcher Beiträge und das Bündeln solcher Kräfte kann Menschen motivieren, Teil einer solchen Bewegung sein zu wollen. So entsteht Großes.
Es braucht gerade auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften
Orte für dieses Anliegen gibt es viele, angefangen von den Neujahrsempfängen Jahr für Jahr bis hin zu weiteren Anlässen im Verlauf der Monate, am besten verbunden mit Ehrungen für herausragende Leistungen in Sport oder Ehrenamt. In diesen Bereichen findet sich eine erstaunlich breite Mitte der Gesellschaft. Bürgerinnen und Bürger aus migrantischen Gruppen, Jüngere, Ärmere, Zugezogene sind allerdings auch dort zu oft nicht zugegen. Es braucht deshalb weitere Orte, an denen diese Zielgruppen angesprochen werden können. Eine inhaltliche Auseinandersetzung ist dabei wichtig. 2023 hat beispielsweise das Weltethos-Institut an der Universität Tübingen eine Ringvorlesung zum Thema „Was dürfen wir hoffen – und mit welchen Gründen?“ veranstaltet. Eine solche Vortragsreihe könnte deutschlandweit an Hochschulstandorten stattfinden; eine Nummer kleiner sich auch im Angebot von Volkshochschulen oder in Fastenpredigten wiederfinden.
Manche sagen, es sei Aufgabe „der Politik“, einen Zukunftsentwurf vorzulegen. Andere fragen „die Intellektuellen“, die Wissenschaft und deren Preisträger, wo denn deren Zukunftsentwürfe bleiben. Verständliche Wissenschaftskommunikation ist deshalb so wichtig wie die Wissenschaft selbst. Doch es geht am Ende nur gemeinsam – und beginnt schon früh, in Familien und den Bildungseinrichtungen. Gerade der soziale Nahraum ist wichtig, in dem Vertrauen und Zusammenhalt noch intakter sind; in Nachbarschaften, generell in Städten und Gemeinden.
Die Philosophin Martha Nußbaum schreibt, „Hoffnung und engagiertes Handeln sind für den Einzelnen schwer durchzuhalten, (…) religiöse Gruppierungen sind ein (…) Weg, auf dem Menschen zu hoffnungsvoller Gemeinschaft finden“ – es braucht also gerade auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda nennt darüber hinaus Kunst und Kultur: „Es sind kulturelle Formate wie Songs und Bücher, Theaterstücke und Filme, Bilder und Bauten, in denen sich (…) Vorstellungen einer anderen Gegenwart und Zukunft zeigen lassen.“
Einen weiteren Ort bieten Unternehmen, in denen Tag für Tag Investitionsentscheidungen für die Zukunft getroffen werden. Auch die zahllosen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Vereine, Protestgruppen, in denen sich Menschen einsetzen. Am wichtigsten bleibt: Es braucht generell Räume der Begegnung für Menschen mit ihren unterschiedlichen Ansichten.
Es ist deshalb nicht trivial, einen politischen Beteiligungsprozess zu entwerfen, in dem so etwas wie Mut zur Zukunft entsteht. Kunst, Wissenschaft, Medien und Religionen, die Bevölkerung insgesamt, kann man nur einladen, auf ihre Weise daran mitzuwirken. Schon eine Einladung signalisiert: Das, was alle angeht, können wir nur begrenzt an „die“ Politik delegieren. Wir sollten nach dem eigenen möglichen Beitrag fragen, wenn sich etwas verändern soll. Eine Zukunft für alle und die Ausrichtung auf das Gemeinwohl erfordern, dass Milieugrenzen überwunden und Brücken gebaut werden. Fortschritt ist keine lineare Angelegenheit, die automatisch in die Zukunft verlängert werden kann.
Im ganzen Land könnten Zukunftsgespräche stattfinden. Als Flaggschiff könnten wir in der Hauptstadt „Berliner Zukunftsgespräche“ veranstalten, in denen die Fäden zusammenlaufen. Es sollte ein konstruktives, lösungsorientiertes und spannendes Veranstaltungsformat sein, das einen Kontrapunkt zu den Talkshows setzt, die zu oft auf Krawall setzen und abmoderieren, bevor eine Lösung der Probleme angesprochen wurde. Das Frankfurter Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt bietet bereits sogenannte Zukunftsexpeditionen an. Im Rahmen der Ideen-und Umsetzungswerkstatt „Pizza & Politik“ wird ein Prototyp erarbeitet, wie Zukunftsentwürfe der jungen Generationen entstehen können – um die Jungen dann mit Hochbetagten ins Gespräch zu bringen, die ihnen aus ihrer Erfahrung viel über die Zukunft sagen können.
Zusammenkommen und über die Zukunft zu reden ist kein Selbstläufer. Denn oft haben wir das Zuhören verlernt. Das Vorzeigeprojekt der Wiener Charta kann als Vorbild dienen. Zur Verbesserung des Zusammenlebens in der Stadt Wien wurden Moderation und Werkzeugkoffer zur Verfügung gestellt und stadtweit diskutiert, wie ein gutes Zusammenleben in Vielfalt gelingen kann. Herausgekommen ist neben der Wiener Charta ein Prozess, der selbst zu gutem Zusammenleben beigetragen hat.
Zukunft ist schon da
Dabei muss es gar nicht explizit um das Thema Zukunft gehen. Zukunft ist schon da, wird schon gestaltet, an vielen, teilweise überraschenden Orten, von vielen Initiativen, überall, wo die „Virtuosen des Wandels“ (Berthold Vogel) aktiv sind. Dazu gehört Berthold Meyer, lange Jahre ehrenamtlicher Bürgermeister der kleinen Gemeinde Bollewick – einem Bioenergiedorf mit knapp 700 Einwohnerinnen und Einwohnern in der Mecklenburgischen Seenplatte. Dort wird aus regionaler Biomasse der Strombedarf zu 100 Prozent gedeckt und pro Jahr 623 Tonnen CO2-Ausstoß vermieden. Aus einer riesigen Scheune, für die es keine Verwendung mehr gab, wurden 1000 Tonnen Beton ausgebaggert; heute bietet das Gebäude Ladenzeilen, Büros, ein Hotel inklusive Restaurant sowie Veranstaltungsflächen; es ist zu einem kulturellen Anziehungspunkt der Region mit Märkten, Konzerten und Theateraufführungen geworden. Solche Aktivitäten enthalten Bausteine einer neuen Zukunftserzählung. Sie sollten als Vorbilder beworben werden, Vernetzungsmöglichkeiten und Unterstützung erfahren, sodass andere es ihnen nachtun können.
2006 hatte die damalige Bundesregierung mit Partnern die Initiative „Land der Ideen“ gestartet. Die von ihr ausgezeichneten Innovationsorte können sich mit dem entsprechenden Logo schmücken. Wie wäre es mit einer neuen Initiative „Deutschland – mein gutes Land von Morgen“? Eine große Konferenz könnte alle Beteiligten zusammenbringen, um sich zu vernetzen und positive Energie zu vervielfältigen.
Natürlich sollte die Digitalisierung helfen, Menschen zusammenzuführen. Allerdings: Praktisch alle sogenannten Sozialen Netzwerke sind entweder irrelevant oder haben sich zu toxischen Orten entwickelt. Deutlich zeigt sich letzteres seit der Übernahme von Twitter durch den Unternehmer Elon Musk. Natürlich hat auch Musk das Recht, noch dazu über sein Eigentum, seine Meinung zu verkünden, und sei es die Unterstützung der AfD oder von Donald Trump. Eine gezielte Beeinflussung der Menschen durch Algorithmen geht aber weit darüber hinaus. Selbst hart gesottene Marktanhänger sollten erkennen, dass es Zeit für eine öffentliche, demokratische, transparente Alternative zu „X“ ist.
Ob und wie sich dort eine faire Kommunikationskultur entwickelt, hängt freilich von den Nutzern ab. Der öffentliche Rundfunk steht Pate; er ist ein gutes und gefährdetes Beispiel zugleich. Denn Gereiztheit und schlechte Stimmung verbreiten sich auch über Medien. Oft streitet man lieber über Gendersternchen als über eine neue Weltordnung.
Das physische Treffen von Angesicht zu Angesicht bleibt vor diesem Hintergrund entscheidend. Selbstwirksamkeit entsteht, wenn sich Menschen real begegnen und gemeinsam etwas bewegen. Es werden deshalb Aktivierungsformate, Beteiligungsformate, Formate des gemeinsamen Tuns und der Erprobung der eigenen Selbstwirksamkeit gesucht, die möglichst viele Menschen erreichen, und die eine kollektive Selbstwirksamkeit oder ein kollektives Selbstvertrauen stärken, vom passiven Anspruchsteller oder Be-Kümmerten zum Beitragenden. Begegnungen schaffen eine wichtige Basis – Vertrauen, Zugewandtheit, gegenseitiges Verständnis, Wohlwollen – für gemeinsames Handeln. An Orten der Begegnung können verstärkt Übersetzungsleistungen gelingen, um in der öffentlichen Diskussion nicht nur Triggerpunkte zu bedienen, sondern fortzuschreiten in der Suche nach dem Verbindenden. Das braucht Zeit. Tiefergehende Gespräche gelingen nicht aus dem Stand heraus.
Wie wäre es mit einem bundesweiten Nachbarschaftstag an einem der vielen, eher unbemerkten oder routiniert von Eliten bespielten Gedenktage? Wer mitmacht, erhält Unterstützung, etwa ein Eindruckplakat für die Garage oder die Absperrung der Straße. Die schönsten Bilder und Geschichten, beispielsweise als Videoclip, werden ausgezeichnet. Man kann kein flächendeckendes Quartiersmanagement organisieren, aber man kann flächendeckend von Methoden des Quartiersmanagements lernen und die ganze Vielfalt unserer Nachbarschaften enger zusammenbringen.
Diese konkreten Beispiele sollen über Analysen und allgemeine Appelle hinaus einen Weg aufzeigen. Wenn er angelegt werden soll, braucht er eine Verortung, am besten in einer überparteilichen, breit angelegten Initiative.
Ein Weg ist indes noch kein ausgearbeiteter Plan. In meiner Heimatstadt Wiesloch steht ein Denkmal für die Automobil-Pionierin Bertha Benz. Das Denkmal erinnert an ihre abenteuerliche erste Fernfahrt mit einem pferdelosen Gefährt. Bertha Benz ist eine bewundernswerte Frau mit einer Botschaft auch für unsere Zeit: Es braucht den Mut, aus der Garage herauszufahren, auch wenn das Gefährt noch seine Schwächen hat. Und die Zuversicht, dass man die Probleme lösen kann, die sich auf der Strecke ergeben. Irgendwann werden aus diesem Mut mutmachende Geschichten, die uns helfen, die Zukunft zurückzuerobern.