Gesellschaftliche BeobachtungenDie Moral hochhalten

So richtig hoffnungsvoll ist man nach der Lektüre nicht gestimmt. Das ist aber auch nicht der Anspruch der Dramatikerin und Essayistin Anne Rabe, die sich in ihrer jüngsten Publikation gegen die Verachtung der Moral wehrt und dafür anhand verschiedener gesellschaftlicher Schlaglichter ihre Beobachtungen skizziert. Dabei ist sie von der These geleitet, dass das „M-Wort“, die Moral, in Ungnade gefallen sei und unter Verdacht stehe – „der Realitätsferne oder gar der Ideologie“. Warum, so fragt sie, „haben wir Angst, dass der Streit grundsätzlich werden könnte, weil die Gemeinsamkeit der Werte nicht mehr selbstverständlich ist? Stehen wir noch auf dem gleichen Grund?“

Der Zeitgeist in Deutschland habe sich nach rechts verschoben, das Land befinde sich mental auf einem Weg in autoritäre und nationalistische Denkmuster, diagnostiziert Rabe anhand des Aufstiegs der AfD und ihrer steigenden Zustimmung in der Bevölkerung. Als weitere Beispiele für das Abhandenkommen moralischer Vorstellungen dienen ihr etwa die Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, der gegenwärtige Umgang mit dem Klimawandel, der Historikerstreit sowie die Debatten um Migration. Aufmerken lässt, dass die Autorin zwischen diesen bekannten Krisenherden auch ein Kapitel dem Fall Gisèle Pelicot widmet. Der Prozess gegen rund 50 Männer wegen mehrerer hundert Vergewaltigungen und das Urteil des Gerichts waren weltweit verfolgt worden. Rabe zeichnet anhand des Prozesses und seiner Wahrnehmung nach, inwiefern auch in der westlichen Welt weiterhin Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen und tief in die Gesellschaft eingeschriebene Muster Autoritarismus befördern.

Größter Kritikpunkt am Essay ist derweil die inhaltliche Unschärfe des Begriffs der Moral, mit dem Rabe operiert. Eine nähere Bestimmung, die über die universale Anerkennung der Gleichheit aller Menschen hinausgeht, hätte den Text an Prägnanz gewinnen lassen. Dass sich mancher wohl an der ein oder anderen Analyse der Autorin stoßen wird, ist derweil gar nicht schlecht – dann lässt es sich besser debattieren. Und gelingende Debatten wiederum wären doch ein guter Hoffnungsmarker.

Anzeige: Menschenrechte nach der Zeitenwende. Gründe für mehr Selbstbewusstsein. Von Heiner Bielefeldt und Daniel Bogner
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