Drei große Formen schweben durch
den Raum. In einer aufsteigenden
Bewegung gleiten sie von Westen
nach Osten genau durch die Mittelachse der
Kirche. Ganz plötzlich waren sie da, haben
sich (den) Raum genommen – und dennoch
könnte man meinen, dass sie schon immer
hier zu sehen waren. Das kommt nicht
von ungefähr: Der Bildhauer Andreas Bee
entwickelt seine Rauminstallationen und
Skulpturen stets präzise für den Ort, an
dem sie zu sehen sind.
Seit gut 20 Jahren gibt es in der
Pfarrkirche St. Joseph temporäre Kunstpräsentationen
und -projekte. Das Spektrum
reicht von „klassischen“ Malerei-,
Grafik- oder Fotografieausstellungen bis
hin zu unterschiedlichen Installationen
im Kirchraum. Bis auf wenige Ausnahmen
handelt es sich um Arbeiten zeitgenössischer
Künstlerinnen, Künstler und
Gruppen. Über das Potenzial von zeitgenössischer
Kunst im Kirchraum muss
an dieser Stelle nicht mehr verhandelt
werden. Vielerorts nutzen Gemeinden
die Möglichkeiten aktueller ästhetischer
Interventionen in einem bestehenden
Sakralraum. Zu Recht fasst beispielsweise
der Bonner Liturgiewissenschaftler
Albert Gerhards zusammen: „Temporäre
künstlerische Interventionen in alten
Kirchenräumen können dazu verhelfen,
die glatte Oberfläche des allzu Bekannten
aufzurauen und die Tiefendimensionen
dahinter wahrzunehmen“ (εὐangel, Nr. 3/2019).
Die Qualität solcher Unternehmungen
hängt gleichwohl von verschiedenen Faktoren
ab. Es genügt eben nicht, künstlerische
Positionen ohne solide ausstellungsdidaktische
Konzeptionierung an die Wand zu
bringen oder in die Kirche zu zwängen.
Gleichermaßen kontraproduktiv ist es allerdings
auch, zeitgenössische Kunst im
Kirchenraum als Element religiöser Belehrung
und Steigerung der Frömmigkeit zu
verzwecken oder zum „Soteriologiesurrogat“
hochzustilisieren.
In St. Joseph geht das zugrunde liegende
Konzept der Ausstellungstätigkeit von
der Prämisse aus, dass Kunst und Kirchenraum als eigenständige Partner
zusammenkommen. Weder wird der Raum
als „White Cube“ oder St. Joseph als spezielle
Kunstkirche verstanden, noch sind die
präsentierten Arbeiten Adiaphora oder
werden zum Raumschmuck degradiert.
Kunst wird vielmehr als autonome Dimension
im working space eines liturgisch
vollumfänglich genutzten Sakralraums
gezeigt. Eine derart konzipierte Partnerschaft
unterminiert Deutungshierarchien,
wirkt vorschnellen Interpretationen oder
der Identifizierung und Repetition von
kirchlich approbiertem Vorhergewussten
entgegen. Gleichwohl setzt man auch in
St. Joseph auf die Interferenzen zwischen
Ort/Raum und Werk, also auf das sozusagen
bilaterale Framing, das den Mehrwert
generiert. Dabei gelingt es gerade – aber
keineswegs ausschließlich – mit künstlerischen
Positionen, die eben nicht auf eine
dezidiert religiöse, parareligiöse oder religionsanaloge
Sinnstiftung zielen, das Feld
der Interpretation zu weiten und die Alteritäten
säkularer Gegenwartsästhetik zu
heben.
Raum und Mensch
als Ausgangspunkte
Im Herbst 2020 begannen die Planungen
für die Rauminstallation, die vom 26. September
bis zum 24. November 2021 in
St. Joseph, Hammer Straße, Münster, zu
sehen war. Andreas Bee (geb. 1959) lebt
und arbeitet in Düsseldorf und lehrt seit
1989 an der dortigen Kunstakademie.
Papier und Holz gehören zu seinen bevorzugten
Materialien. Daraus entstehen
Objekte und Rauminstallationen, wie Bee
sie beispielsweise 2020 in der Ausstellung
1799m³ im Hawerkamp, Münster, oder
2014 im Sculpture Court des Edinburgh
College of Art und 2009 im Suyama Space,
Seattle, USA, zeigte.
Der Ausgangspunkt solcher künstlerischen
Entwürfe ist für Bee immer der
Ort an sich: Wie sind die Abmessungen
des Raumes? Wie sind die Volumina verteilt?
Wie verhalten sie sich zueinander?
Das gilt auch für die filigranen Formen
aus Papier über einem Holzgerüst, die für
St. Joseph in Münster entwickelt wurden.
Basierend auf dem Grundmaß der neogotischen
Kirche hatten die Einzelobjekte an
ihrer breitesten Stelle einen Durchmesser
von 5,60 m. Ihre Hängung – ein dünnes
Stahlseil verankerte sie im Scheitelpunkt
des Gewölbes – erfolgte in einer Art exponentiell
aufsteigender Kurve: Während
vom Hauptportal aus betrachtet die ersten
beiden Formen auf der Horizontalen
einen größeren Zwischenraum aufwiesen,
wurde der Abstand zwischen der
zweiten und dritten Form minimiert. Auf
gleicher Höhe hätten sie sich tatsächlich
berührt.
In der Vertikalen verhielt es sich genau
umgekehrt: Der leichte Höhenunterschied
zwischen den ersten beiden Objekten
wurde bei den folgenden deutlich
gesteigert. Damit entstand eine Dynamik,
die eine gedankliche Fortführung der Objekte
suggerieren kann. Potenziell hätte
sich die vierte Form dann bereits außer- bzw.
oberhalb des Kirchenraums befunden.
Eine Steig(er)ung gen Unendlich ist
vorstellbar.
Eine zweite Maßeinheit kommt in Andreas
Bees Konzept hinzu, nämlich der
Mensch: Wie ist er im Raum, wie bewegt
er sich, wie fühlt und atmet er in diesem,
genau diesem (Um-)Raum. Aus diesen sowohl
berechenbaren wie gefühlten Koordinaten
entwickelt sich die Installation. Sie
ist ebenso sehr Intervention in den Raum
wie auch seine Weiterentwicklung und organische
Ergänzung. Die Berechnung der
Hoch- und Längsachse führte in St. Joseph
beispielsweise dazu, dass die drei Formen
beim Eintritt von Westen her nicht auf
einen Blick zu erfassen waren, sondern
sich erst sukzessive beim Gang unter ihnen
hindurch zeigten. Der Reflex auf das
menschliche Maß und die menschliche Dimension
wurde zusätzlich gestärkt durch
die Entscheidung des Künstlers, die Installation
konsequent sich im Mittelschiff „ereignen“ und vor der Altarinsel enden
zu lassen.
Aus Raummaß und menschlichem
Maß schuf Bee für St. Joseph die drei halbkugelartigen
Formen, die sich nach unten
weit und nach oben in einem verkleinerten
Durchlass öffneten. Sie hatten etwas
Schützendes und Geschmeidiges, dem sich
der Betrachter anvertrauen mochte. Im
Umkreis ihrer ausladenden unteren Öffnung
konnte sich ein Besucher geborgen
und umfangen fühlen, ohne dass er eingeengt,
gezwungen oder begrenzt wurde.
Die deutliche Verkleinerung der oberen
Öffnung verstärkte im Sinne einer Bündelung
den in der kurvenartigen Hängung
angelegten Zug in die Höhe. Die Materialfarbigkeit
von Eschenholz und altweißem
Künstlerpapier sowie die Kurvatur der
Holzleisten korrespondierten auffallend
mit dem Kreuzrippengewölbe der Kirche.
Eine Besonderheit – und letztlich nicht
eingeplante Resonanzfläche – von Andreas
Bees Rauminstallation in St. Joseph
war die dreitägige Aufbauphase bei geöffneter
Kirche. Dimension und Konstruktion
der drei Formen brachten es mit sich, dass
ihre eigentliche Entstehung in den Kirchenraum
verlagert werden musste. Während
die einzelnen Holzleisten im Atelier
des Künstlers zugeschnitten und geleimt
worden waren, erfolgten Zusammenbau
und Papierbespannung am Zielort. Regelmäßige
und zufällige Besucher der Kirche
stutzten nicht allein über die produktive
Unordnung, sondern beobachteten interessiert
den Entstehungsprozess in dieser
ungewohnten Werkstatt- oder Ateliersituation
und nutzten auch die Gelegenheit zur
Diskussion mit dem Künstler.
Deutungen – innerhalb und
außerhalb von Liturgie
Was weiter oben über das Neben- und
Zueinander von Raum und Werk und
den daraus resultierenden Mehrwert im
Allgemeinen gesagt wurde, gilt auch im
Hinblick auf die Liturgie im Speziellen.
Einzige Voraussetzung für Ausstellungsprojekte
in St. Joseph ist, dass durch die
Disposition im Kirchenraum Liturgien,
liturgienahe Feierformen, pastorale Formate
und auch die individuelle Andacht
nicht verunmöglicht werden. Künstlerinnen
und Künstler werden hingegen weder
danach ausgesucht noch dazu angehalten,
einen dezidierten Anknüpfungspunkt an
die liturgische Dimension zu integrieren
oder eine Nutzbarmachung ihrer Werke
in dieser Richtung zu forcieren. Vice versa
gilt das ebenso für die Leiterinnen und
Leiter von gottesdienstlichen Feiern in
St. Joseph. Auch in diesem Kontext setzt
man auf das freie und überraschende Zusammenspiel
der Kräfte.
Ohne in die Integrität des Werkes
einzugreifen, darf und kann es natürlich
etwa liturgisch oder in der Verkündigung
fruchtbar gemacht werden. So auch Andreas
Bees Rauminstallation: Beim Totengedenken
an Allerheiligen beispielsweise
fanden Fürbittgebet und Weihrauchspende
unter der mittleren Form statt,
durch deren schmale obere Öffnung beides
gebündelt emporsteigen konnte. Ein
„Abend der Mystik“ etwa setzte auf eine
mehrfarbige Lichtinszenierung mittels
Bodenstrahlern. Das Spiel von Licht und
Schatten integrierte nicht nur die Elemente
der Installation, auch das weiße Künstlerpapier
der Bespannung sorgte für eine
Art Reflexion nach unten.
Es erschließt sich von selbst, dass gerade
eine großformatige Installation wie die
von Andreas Bee auch ohne spezielle Indienstnahme
einen merklichen Einfluss auf
das (Feier-)Geschehen in St. Joseph hatte.
Schon allein die gerichtete Raumstruktur
der Kirche erfuhr einen zusätzlichen Impetus,
der die Bewegung nicht nur gen Osten,
sondern vor allem in die Höhe stärkte und
verdichtete.
Bee liefert keine Konnotation oder semantische
Engführung für seine Installationen
mit; sie sind für seine Konzeption
nicht intendiert und letztlich auch irrelevant.
Dennoch forderten die basalen Formen
in St. Joseph beinahe unmittelbar die
symbolische Deutung durch den Betrachter
heraus. Die Interpretationen reichten dabei
vom „Schirm“ bis zum „Ballettröckchen“,
und auch Vergleiche aus Flora und Fauna
wurden häufig aufgerufen.
Immer wieder wurden aber vor allem
die Empfindungsqualitäten – Schutz, Geborgenheit, Behütetsein, … – durch Besucher hervorgehoben.
Leicht wurden diese Charakteristika beispielsweise auch in Verbindung
zu entsprechenden sprachlichen Elementen in der Liturgie
bzw. der Verkündigung gebracht, so dass sich zwanglos eine
multisensorische Dimension von Kommunikation entfalten konnte.
Zudem wurde häufig auch die Leichtigkeit der großen Formen – sie
umfangen, ohne zu belasten oder zu erdrücken – als wohltuend,
angenehm, beflügelnd usw. charakterisiert. Tatsächlich wurde der
Blick durch die Installation eher vorsichtig geführt als autoritär
gelenkt. Sichtachsen wurden nicht blockiert, die Interaktion nicht
eingeschränkt. Dem Betrachter wurde weder ein (idealer) Standort
oktroyiert, noch wurden ihm Orte verweigert.
So wenig wie sie den Menschen bedrängte, vereinnahmte Bees
Arbeit in St. Joseph letztlich den Raum. Die Formen dominierten
die Kirche nicht, veränderten aber gleichwohl Wahrnehmung und
Empfinden des Ortes. Das häufig unvermittelt geäußerte: „Die passen
aber gut hier hin, die sind ja wie für den Raum gemacht“, zeigt deutlich, dass sich Bees Konzept von Maß und Zahl intuitiv-sensorisch
mitteilt.
Nicht nur die symbolische Deutung durch Rezipienten war individuell
unterschiedlich, auch hinsichtlich des Zusammenspiels
von Installation und Liturgie differierten die Auffassungen. Tatsächlich
ließ sich dabei eine interessante Zweiteilung beobachten:
Regelmäßige Gottesdienstteilnehmer/innen und Besucher/innen
der Kirche nahmen die schwebenden Formen vor allem als eine
atmosphärische sowie ästhetische Bereicherung des Raumes wahr
und schätzten sie auch als Kontrasterfahrung zur sonst gewohnten
Raumgestalt.
Anders stellte sich das mitunter für Besucher dar, die mit dem
speziellen Kirchenraum wenig oder gar nicht vertraut waren. Sie
bewerteten Bees Installation ab und an als integralen Bestandteil
oder permanentes Element des Kirchenraums. Teilnehmer bei
Trauungen oder Firmungen gingen bisweilen davon aus, dass es
sich um eine anlassbezogene Präsentation handelte. Ein Hochzeitsgast
zeigte sich beeindruckt und fragte nach, ob man sich hier für
jede Trauung so viel dekorative Mühe mache.
Der Nachklang von Holz und Papier
Knapp zehn Wochen waren Andreas Bees große Formen in der
Kirche zu sehen. Wie ihr Einzug, so wurde auch ihr Auszug bemerkt.
Ihr Fehlen wurde in einer Weise wahrgenommen, wie es am
Ende einer Ausstellung nicht alltäglich ist. Die im Prinzip durchweg
positive Aufnahme der Rauminstallation führte bereits im Verlauf
der Präsentation auch dazu, dass mehrfach der Wunsch geäußert
wurde, sie doch dauerhaft in St. Joseph zu belassen oder zumindest
noch für einen längeren Zeitraum.
Unmittelbar nach dem Abbau der Installation schien es, als
wäre der Kirche tatsächlich etwas abhandengekommen, als wäre
eine Schwingung zum Stillstand gelangt. Nebenbei bemerkt hatte
die Demontage an sich, die ja nur mittels Zerlegung der Holzgerüste
und Zerstörung der Papierbespannung erfolgen konnte, ein
frappierend gewaltsames – beinahe ikonoklastisches – Moment.
Präsent und ephemer zugleich eröffnete Andreas Bees Installation
in St. Joseph für eine kleine Weile sowohl Räume im Raum als
auch Möglichkeitsformen in der Zeit – vor allem aber auch das, was
der Philosoph Ernst Bloch schon 1963 in seiner Tübinger Einleitung
in die Philosophie den „Ritz und Riß im üblichen, gewohnten Bemerken“
nannte.