Wenn Maße fühlbar werden

Welchen Mehrwert – auch aus liturgischer Sicht – besitzt zeitgenössische Kunst im Kirchenraum? – Ein Blick auf Andreas Bees Rauminstallation in Münster im Herbst 2021.

Andreas Bees Rauminstallation in Münster 2021
Drei halbkugelartige, organische Formen, die sich nach unten wie nach oben öffnen, hat der Künstler Andreas Bee für die Pfarrkirche St. Joseph in Münster geschaffen.© Helmut Winterfeld

Drei große Formen schweben durch den Raum. In einer aufsteigenden Bewegung gleiten sie von Westen nach Osten genau durch die Mittelachse der Kirche. Ganz plötzlich waren sie da, haben sich (den) Raum genommen – und dennoch könnte man meinen, dass sie schon immer hier zu sehen waren. Das kommt nicht von ungefähr: Der Bildhauer Andreas Bee entwickelt seine Rauminstallationen und Skulpturen stets präzise für den Ort, an dem sie zu sehen sind.

Seit gut 20 Jahren gibt es in der Pfarrkirche St. Joseph temporäre Kunstpräsentationen und -projekte. Das Spektrum reicht von „klassischen“ Malerei-, Grafik- oder Fotografieausstellungen bis hin zu unterschiedlichen Installationen im Kirchraum. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich um Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen, Künstler und Gruppen. Über das Potenzial von zeitgenössischer Kunst im Kirchraum muss an dieser Stelle nicht mehr verhandelt werden. Vielerorts nutzen Gemeinden die Möglichkeiten aktueller ästhetischer Interventionen in einem bestehenden Sakralraum. Zu Recht fasst beispielsweise der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards zusammen: „Temporäre künstlerische Interventionen in alten Kirchenräumen können dazu verhelfen, die glatte Oberfläche des allzu Bekannten aufzurauen und die Tiefendimensionen dahinter wahrzunehmen“ (εὐangel, Nr. 3/2019).

Die Qualität solcher Unternehmungen hängt gleichwohl von verschiedenen Faktoren ab. Es genügt eben nicht, künstlerische Positionen ohne solide ausstellungsdidaktische Konzeptionierung an die Wand zu bringen oder in die Kirche zu zwängen. Gleichermaßen kontraproduktiv ist es allerdings auch, zeitgenössische Kunst im Kirchenraum als Element religiöser Belehrung und Steigerung der Frömmigkeit zu verzwecken oder zum „Soteriologiesurrogat“ hochzustilisieren.

In St. Joseph geht das zugrunde liegende Konzept der Ausstellungstätigkeit von der Prämisse aus, dass Kunst und Kirchenraum als eigenständige Partner zusammenkommen. Weder wird der Raum als „White Cube“ oder St. Joseph als spezielle Kunstkirche verstanden, noch sind die präsentierten Arbeiten Adiaphora oder werden zum Raumschmuck degradiert. Kunst wird vielmehr als autonome Dimension im working space eines liturgisch vollumfänglich genutzten Sakralraums gezeigt. Eine derart konzipierte Partnerschaft unterminiert Deutungshierarchien, wirkt vorschnellen Interpretationen oder der Identifizierung und Repetition von kirchlich approbiertem Vorhergewussten entgegen. Gleichwohl setzt man auch in St. Joseph auf die Interferenzen zwischen Ort/Raum und Werk, also auf das sozusagen bilaterale Framing, das den Mehrwert generiert. Dabei gelingt es gerade – aber keineswegs ausschließlich – mit künstlerischen Positionen, die eben nicht auf eine dezidiert religiöse, parareligiöse oder religionsanaloge Sinnstiftung zielen, das Feld der Interpretation zu weiten und die Alteritäten säkularer Gegenwartsästhetik zu heben.

Raum und Mensch als Ausgangspunkte

Im Herbst 2020 begannen die Planungen für die Rauminstallation, die vom 26. September bis zum 24. November 2021 in St. Joseph, Hammer Straße, Münster, zu sehen war. Andreas Bee (geb. 1959) lebt und arbeitet in Düsseldorf und lehrt seit 1989 an der dortigen Kunstakademie. Papier und Holz gehören zu seinen bevorzugten Materialien. Daraus entstehen Objekte und Rauminstallationen, wie Bee sie beispielsweise 2020 in der Ausstellung 1799m³ im Hawerkamp, Münster, oder 2014 im Sculpture Court des Edinburgh College of Art und 2009 im Suyama Space, Seattle, USA, zeigte.

Der Ausgangspunkt solcher künstlerischen Entwürfe ist für Bee immer der Ort an sich: Wie sind die Abmessungen des Raumes? Wie sind die Volumina verteilt? Wie verhalten sie sich zueinander? Das gilt auch für die filigranen Formen aus Papier über einem Holzgerüst, die für St. Joseph in Münster entwickelt wurden. Basierend auf dem Grundmaß der neogotischen Kirche hatten die Einzelobjekte an ihrer breitesten Stelle einen Durchmesser von 5,60 m. Ihre Hängung – ein dünnes Stahlseil verankerte sie im Scheitelpunkt des Gewölbes – erfolgte in einer Art exponentiell aufsteigender Kurve: Während vom Hauptportal aus betrachtet die ersten beiden Formen auf der Horizontalen einen größeren Zwischenraum aufwiesen, wurde der Abstand zwischen der zweiten und dritten Form minimiert. Auf gleicher Höhe hätten sie sich tatsächlich berührt.

In der Vertikalen verhielt es sich genau umgekehrt: Der leichte Höhenunterschied zwischen den ersten beiden Objekten wurde bei den folgenden deutlich gesteigert. Damit entstand eine Dynamik, die eine gedankliche Fortführung der Objekte suggerieren kann. Potenziell hätte sich die vierte Form dann bereits außer- bzw. oberhalb des Kirchenraums befunden. Eine Steig(er)ung gen Unendlich ist vorstellbar.

Eine zweite Maßeinheit kommt in Andreas Bees Konzept hinzu, nämlich der Mensch: Wie ist er im Raum, wie bewegt er sich, wie fühlt und atmet er in diesem, genau diesem (Um-)Raum. Aus diesen sowohl berechenbaren wie gefühlten Koordinaten entwickelt sich die Installation. Sie ist ebenso sehr Intervention in den Raum wie auch seine Weiterentwicklung und organische Ergänzung. Die Berechnung der Hoch- und Längsachse führte in St. Joseph beispielsweise dazu, dass die drei Formen beim Eintritt von Westen her nicht auf einen Blick zu erfassen waren, sondern sich erst sukzessive beim Gang unter ihnen hindurch zeigten. Der Reflex auf das menschliche Maß und die menschliche Dimension wurde zusätzlich gestärkt durch die Entscheidung des Künstlers, die Installation konsequent sich im Mittelschiff „ereignen“ und vor der Altarinsel enden zu lassen.

Andreas Bees Installation in Münster  2021Aus Raummaß und menschlichem Maß schuf Bee für St. Joseph die drei halbkugelartigen Formen, die sich nach unten weit und nach oben in einem verkleinerten Durchlass öffneten. Sie hatten etwas Schützendes und Geschmeidiges, dem sich der Betrachter anvertrauen mochte. Im Umkreis ihrer ausladenden unteren Öffnung konnte sich ein Besucher geborgen und umfangen fühlen, ohne dass er eingeengt, gezwungen oder begrenzt wurde. Die deutliche Verkleinerung der oberen Öffnung verstärkte im Sinne einer Bündelung den in der kurvenartigen Hängung angelegten Zug in die Höhe. Die Materialfarbigkeit von Eschenholz und altweißem Künstlerpapier sowie die Kurvatur der Holzleisten korrespondierten auffallend mit dem Kreuzrippengewölbe der Kirche.

Eine Besonderheit – und letztlich nicht eingeplante Resonanzfläche – von Andreas Bees Rauminstallation in St. Joseph war die dreitägige Aufbauphase bei geöffneter Kirche. Dimension und Konstruktion der drei Formen brachten es mit sich, dass ihre eigentliche Entstehung in den Kirchenraum verlagert werden musste. Während die einzelnen Holzleisten im Atelier des Künstlers zugeschnitten und geleimt worden waren, erfolgten Zusammenbau und Papierbespannung am Zielort. Regelmäßige und zufällige Besucher der Kirche stutzten nicht allein über die produktive Unordnung, sondern beobachteten interessiert den Entstehungsprozess in dieser ungewohnten Werkstatt- oder Ateliersituation und nutzten auch die Gelegenheit zur Diskussion mit dem Künstler.

Deutungen – innerhalb und außerhalb von Liturgie

Was weiter oben über das Neben- und Zueinander von Raum und Werk und den daraus resultierenden Mehrwert im Allgemeinen gesagt wurde, gilt auch im Hinblick auf die Liturgie im Speziellen. Einzige Voraussetzung für Ausstellungsprojekte in St. Joseph ist, dass durch die Disposition im Kirchenraum Liturgien, liturgienahe Feierformen, pastorale Formate und auch die individuelle Andacht nicht verunmöglicht werden. Künstlerinnen und Künstler werden hingegen weder danach ausgesucht noch dazu angehalten, einen dezidierten Anknüpfungspunkt an die liturgische Dimension zu integrieren oder eine Nutzbarmachung ihrer Werke in dieser Richtung zu forcieren. Vice versa gilt das ebenso für die Leiterinnen und Leiter von gottesdienstlichen Feiern in St. Joseph. Auch in diesem Kontext setzt man auf das freie und überraschende Zusammenspiel der Kräfte.

Ohne in die Integrität des Werkes einzugreifen, darf und kann es natürlich etwa liturgisch oder in der Verkündigung fruchtbar gemacht werden. So auch Andreas Bees Rauminstallation: Beim Totengedenken an Allerheiligen beispielsweise fanden Fürbittgebet und Weihrauchspende unter der mittleren Form statt, durch deren schmale obere Öffnung beides gebündelt emporsteigen konnte. Ein „Abend der Mystik“ etwa setzte auf eine mehrfarbige Lichtinszenierung mittels Bodenstrahlern. Das Spiel von Licht und Schatten integrierte nicht nur die Elemente der Installation, auch das weiße Künstlerpapier der Bespannung sorgte für eine Art Reflexion nach unten.

Es erschließt sich von selbst, dass gerade eine großformatige Installation wie die von Andreas Bee auch ohne spezielle Indienstnahme einen merklichen Einfluss auf das (Feier-)Geschehen in St. Joseph hatte. Schon allein die gerichtete Raumstruktur der Kirche erfuhr einen zusätzlichen Impetus, der die Bewegung nicht nur gen Osten, sondern vor allem in die Höhe stärkte und verdichtete.

Bee liefert keine Konnotation oder semantische Engführung für seine Installationen mit; sie sind für seine Konzeption nicht intendiert und letztlich auch irrelevant. Dennoch forderten die basalen Formen in St. Joseph beinahe unmittelbar die symbolische Deutung durch den Betrachter heraus. Die Interpretationen reichten dabei vom „Schirm“ bis zum „Ballettröckchen“, und auch Vergleiche aus Flora und Fauna wurden häufig aufgerufen.

Andreas Bees Rauminstallation in Münster 2021Immer wieder wurden aber vor allem die Empfindungsqualitäten – Schutz, Geborgenheit, Behütetsein, … – durch Besucher hervorgehoben. Leicht wurden diese Charakteristika beispielsweise auch in Verbindung zu entsprechenden sprachlichen Elementen in der Liturgie bzw. der Verkündigung gebracht, so dass sich zwanglos eine multisensorische Dimension von Kommunikation entfalten konnte. Zudem wurde häufig auch die Leichtigkeit der großen Formen – sie umfangen, ohne zu belasten oder zu erdrücken – als wohltuend, angenehm, beflügelnd usw. charakterisiert. Tatsächlich wurde der Blick durch die Installation eher vorsichtig geführt als autoritär gelenkt. Sichtachsen wurden nicht blockiert, die Interaktion nicht eingeschränkt. Dem Betrachter wurde weder ein (idealer) Standort oktroyiert, noch wurden ihm Orte verweigert.

So wenig wie sie den Menschen bedrängte, vereinnahmte Bees Arbeit in St. Joseph letztlich den Raum. Die Formen dominierten die Kirche nicht, veränderten aber gleichwohl Wahrnehmung und Empfinden des Ortes. Das häufig unvermittelt geäußerte: „Die passen aber gut hier hin, die sind ja wie für den Raum gemacht“, zeigt deutlich, dass sich Bees Konzept von Maß und Zahl intuitiv-sensorisch mitteilt.

Nicht nur die symbolische Deutung durch Rezipienten war individuell unterschiedlich, auch hinsichtlich des Zusammenspiels von Installation und Liturgie differierten die Auffassungen. Tatsächlich ließ sich dabei eine interessante Zweiteilung beobachten: Regelmäßige Gottesdienstteilnehmer/innen und Besucher/innen der Kirche nahmen die schwebenden Formen vor allem als eine atmosphärische sowie ästhetische Bereicherung des Raumes wahr und schätzten sie auch als Kontrasterfahrung zur sonst gewohnten Raumgestalt.

Anders stellte sich das mitunter für Besucher dar, die mit dem speziellen Kirchenraum wenig oder gar nicht vertraut waren. Sie bewerteten Bees Installation ab und an als integralen Bestandteil oder permanentes Element des Kirchenraums. Teilnehmer bei Trauungen oder Firmungen gingen bisweilen davon aus, dass es sich um eine anlassbezogene Präsentation handelte. Ein Hochzeitsgast zeigte sich beeindruckt und fragte nach, ob man sich hier für jede Trauung so viel dekorative Mühe mache.

Der Nachklang von Holz und Papier

Knapp zehn Wochen waren Andreas Bees große Formen in der Kirche zu sehen. Wie ihr Einzug, so wurde auch ihr Auszug bemerkt. Ihr Fehlen wurde in einer Weise wahrgenommen, wie es am Ende einer Ausstellung nicht alltäglich ist. Die im Prinzip durchweg positive Aufnahme der Rauminstallation führte bereits im Verlauf der Präsentation auch dazu, dass mehrfach der Wunsch geäußert wurde, sie doch dauerhaft in St. Joseph zu belassen oder zumindest noch für einen längeren Zeitraum.

Unmittelbar nach dem Abbau der Installation schien es, als wäre der Kirche tatsächlich etwas abhandengekommen, als wäre eine Schwingung zum Stillstand gelangt. Nebenbei bemerkt hatte die Demontage an sich, die ja nur mittels Zerlegung der Holzgerüste und Zerstörung der Papierbespannung erfolgen konnte, ein frappierend gewaltsames – beinahe ikonoklastisches – Moment. Präsent und ephemer zugleich eröffnete Andreas Bees Installation in St. Joseph für eine kleine Weile sowohl Räume im Raum als auch Möglichkeitsformen in der Zeit – vor allem aber auch das, was der Philosoph Ernst Bloch schon 1963 in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie den „Ritz und Riß im üblichen, gewohnten Bemerken“ nannte.

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