Gesinde, Sanftmut, wohlgefällig – was kommt Ihnen bei
diesen
Wörtern in den Sinn? Drangsal, heimsuchen, ruchlos– wann haben Sie zuletzt solche Wörter benutzt oder
auch nur gelesen? Wenn man die gleiche Sprache spricht und die
Wörter und ihre Bedeutung kennt, wird man einen Text mühelos
verstehen. Als diejenigen, die das Wort Gottes verkündigen, wissen
wir aber, dass die biblischen Bücher Vokabular enthalten, das
uns herausfordert. Gerade Eigennamen und Fremdwörter beeinträchtigen
oft das spontane, flüssige Vortragen und Verstehen von
Schrifttexten und verlangen, sich mit einem Text auseinanderzusetzen
und vertraut zu machen.
Das Buch Nehemia beschreibt eine Szene, die den Prozess des
Sprachverstehens in den Blick nimmt. Dort wird bildhaft eine Verkündigung
beschrieben, und ohne etwas über deren Inhalt mitzuteilen,
vor allem die Reaktion der Menschen aufgegriffen: „Der
Priester Esra brachte die Weisung vor die Versammlung, (…) alle,
die schon mit Verstand zuhören konnten. [Er] las (…) den Männern
und Frauen und denen, die es verstehen konnten, daraus
vor“ (Neh 8,2–3). Und weiter: „Man las (…) in Abschnitten vor und
gab dazu Erklärungen, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen
konnten“ (V. 8). Was für eine irritierende Beschreibung! Waren
die Leute unwissend, ungebildet, und war das Vorgelesene – die
Weisung Gottes – so kompliziert, dass es erklärungsbedürftig war?
War es abstrakt und hatte nichts mit der Lebenswirklichkeit der
Menschen zu tun? Und wer waren „die Leute“? Der Ausdruck lässt
vermuten, dass es gewöhnliche Menschen waren, die dort lebten.
Und wie ist es heute? Auch wenn wir die Worte verstehen, ist
es immer wieder notwendig, zu prüfen, wie etwas gemeint ist. Warum
ist das so?
Sprachverstehen durch kombiniertes Wissen
Sprachverstehen findet auf verschiedenen Ebenen statt: 1. dem
Kontextwissen, 2. dem Weltwissen, 3. der Wortebene oder dem lexikalischen
Wissen.
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Was bedeutet Kontextwissen? Ein Text ist nicht einfach eine Ansammlung
von Wörtern, die für sich genommen einen Sinn haben
müssen. Ihre Bedeutung erschließt sich auch aus dem inhaltlichen
Zusammenhang. Durch ihn können wir den Text bzw. das Gehörte
einordnen und uns ein Bild machen. Ein Beispiel ist etwa ein „großes
Haus“, das nur vor dem Hintergrund dessen, was wir uns unter
einem Haus als Konzept vorstellen, groß oder klein ist. Sprache ist
immer abhängig von dem Bezugsrahmen und der Situation, in der
man sie benutzt.
Im Fall von Bibeltexten setzt hier die Exegese an. Nicht immer
gibt es eine eindeutige Antwort darauf, wie bestimmte Perikopen
und Verse zu verstehen sind. Und nicht immer ist es so, dass allein
Wissen und Erfahrung eine eindeutige und richtige Erklärung liefern.
Auch wer einen Text unvoreingenommen liest, kann sich in
den Kontext versetzen, mit den Figuren identifizieren und sich von
ihnen berühren lassen – oder natürlich auch distanzieren.
Diskussionen und kontroverse Meinungen zum „richtigen“
Verständnis von Texten oder Sprache überhaupt gibt es zuhauf;
bei einzelnen Perikopen ist dies nicht anders. Unterschiedliche
Auffassungen gegenüber bestimmten Textpassagen resultieren
oftmals daher, dass ein Detail nur in einem Ausschnitt betrachtet
wird. Weiteres Kontextwissen könnte gewissermaßen die Bühne,
die man betrachtet, reicher ausstatten. Ein stets kontrovers diskutiertes
Beispiel betrifft die Perikopen zu „Ihr Frauen“, vgl. Kol
3,18, Eph 5,22. Es muss immer wieder ausgehandelt werden, wie
die Worte in den Zusammenhang eingeordnet werden können.
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Was bedeutet Weltwissen? Wissen, das wir aus unseren Erfahrungen
über die Umwelt und Gesellschaft, in der wir leben, mitbringen,
geht über das Verständnis einzelner Wörter hinaus. Dieses Wissen
akkumuliert sich, sodass wir in der Lage sind, Neues zu lernen und
einzuordnen, dass wir Fähigkeiten erweitern und uns in der Welt
entsprechend zurechtfinden. Es handelt sich um enzyklopädisches
Wissen; Sach- und Fachwissen, das nicht nur auf einen bestimmten
Kontext begrenzt nutzbar ist. Bei dem Wort Maus denken wir etwa
heute ganz selbstverständlich auch an eine Computermaus.
Zu der Zeit, als biblische Bücher verfasst wurden, hat sich das
Wissen über die Welt von unserem heutigen unterschieden. Die
Grundzüge des sozialen Miteinanders dürften jedoch denen in der
heutigen Gesellschaft ähnlich gewesen sein. Die menschliche Natur
ist geblieben, nur schauen wir heute – geprägt von naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen – anders auf die Welt.
Wenn man die damals verfassten Texte verstehen will, kann
man sie daher nicht eindimensional mit dem heutigen Blick auf die Welt betrachten. Was wir über die Welt
wissen, liegt wie eine Folie hinter dem Text.
Weltwissen ist nicht nur die Bühne, auf die
wir blicken, sondern die gesamte Umgebung.
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Und lexikalisches Wissen? Um Sprache
überhaupt verstehen zu können, sind Wörter
die Grundvoraussetzung. Dabei sind sie
nicht einmal die kleinsten Bausteine, aus
denen Sprache zusammengesetzt ist. Entscheidend
ist, dass wir diesen Bausteinen
eine Bedeutung zuordnen können. Das ist
häufig eine bildliche Vorstellung, ein Konzept.
Nur wenn viele Menschen eine ähnliche
Vorstellung von einem Wort haben,
wird dies von den meisten „Sprachbenutzern“
verstanden. Das klingt sehr einfach
und plausibel, und das ist es auch, solange
es sich um alltägliche Wörter und Dinge
oder auch abstrakte Begriffe handelt.
Und doch bestehen schon bei alltäglichen
Gegenständen je nach Lebenswirklichkeit
unterschiedliche Konzepte. Welches Konzept
hat jemand beispielsweise von einem
Stuhl – in Österreich verbreitet als Sessel bezeichnet?
Die Frage der Übereinstimmung
von einem Laut- oder Schriftbild und dem
dazugehörigen Konzept ist die Quelle vieler
Missverständnisse und Diskussionen. Stets
spielen unsere persönlichen Einstellungen,
Erwartungen und Interessen eine Rolle.
Bedeutung und Deutung
Auch wenn die Wörter vertraut klingen
und den lautlichen Regeln unserer Sprache
entsprechen, bleibt die Frage: Welches
Konzept haben wir, und was bedeutet dies
für unseren Umgang beim Lesen und Hören
der Heiligen Schrift?
Da gibt es ungebräuchliche Wörter,
die in der Alltagssprache kaum oder nicht
mehr bekannt sind, etwa: Mühsal, Joch,
Pracht, laben, zürnen, Züchtigung, Pflugscharen,
oder solche, die in einem ganz anderen
Kontext gebraucht werden: Gespinst,
Zucht, getilgt, Begehren, Sänfte. Dazu treten
Wörter, die wahrscheinlich für die meisten
von uns leicht zu verstehen sind, aber nicht
genutzt werden: Zwietracht, Schuldigkeit,
Widersacher, Schlechtigkeit, geknechtet,
Lästerungen. Zudem gibt es Wörter, die
ausschließlich im biblisch-theologischen
Kontext gebraucht werden und nur mit
entsprechender Vorbildung – eben Kontextwissen
– verständlich sind, z. B. Sohnschaft,
Erstlingsgabe, Verheißung, Sündopfer, Huld.
Die Einheitsübersetzung von 2016 hatte
die möglichst originalgetreue Übersetzung
als Anspruch, und doch, oder gerade deshalb
finden wir in ihr auch Wörter vor,
die im heutigen Sprachgebrauch unüblich
sind. Ein Wort wie Volk hat heute eine andere
Konnotation als noch vor ein paar Jahrzehnten.
Wenn es durch das Wort Nation
ersetzt wird, ist es nicht das gleiche. Auch
ein Wort, das als Synonym aufgefasst wird,
hält nur so lange stand, wie der Kontext
oder die Situation es zulässt. Bedeutung ist
eben auch Deutung. Das ist die Grundlage
unzähliger Debatten darüber, welcher Begriff
der richtige oder welche Bezeichnung
für etwas aussagekräftig, eindeutig oder
eben korrekt sei.
An einem Wort aus der Alltagssprache
lässt sich dies leicht nachvollziehen: Ist billig
gleichbedeutend mit minderwertig, oder
ist es nur eine Bezeichnung für etwas, was
preisgünstig ist? Ein Wort, das fast nur noch
abwertend gebraucht wird. Bedeutungswandel
gibt es, so lange Sprache lebendig
ist und benutzt oder gesprochen wird.
Dem Wort der Weisung lauschen
Es sind nicht die einzelnen Wörter, die zu
schwierig oder veraltet sind, um einen Text
zu verstehen. Viele Wörter „sprechen“ für
sich selbst, weil sie etwa lautmalerisch
oder metaphorisch sind – beispielsweise
bezwingen, rechtschaffen, abtrünnig. Für
ein verstehendes Lesen hilft gerade das
Weltwissen. Mit kollektiven Erfahrungen
lassen sich die Texte vieler Generationen
auch heute einordnen und auf das eigene
Erleben beziehen. Ein wichtiger Schritt zur
professionellen Vorbereitung einer Schriftlesung
ist daher das unvoreingenommene
Lesen, das Raum lässt, um sich berühren
zu lassen. Dann entsteht auch Raum für
Fragen, denen man sich öffnen kann. Wo
es notwendig ist, lassen sich durch Kontextwissen
Details aufspüren und Antworten
finden. Entscheidend ist aber, wie man sich
der „Welt“ öffnet und „auf das Buch der
Weisung lauscht“, wie es in dem Abschnitt bei Nehemia beschrieben wird (V. 3). Dieses
bewusste Sich-Einlassen wird auch
einen emotional ansprechenden Lesevortrag
unterstützen.