Im März 2005 stand Amina Wadud, muslimische
Theologin afroamerikanischer
Herkunft und prominente Stimme
eines modernen islamischen Feminismus,
dem Freitagsgebet einer gemischtgeschlechtlichen
Gruppe aus Musliminnen
und Muslimen in New York City vor. Damit
brach sie mit gleich zwei Traditionen:
Zum einen versammeln sich Männer und
Frauen zum rituellen Gebet traditionell
voneinander getrennt, zum anderen leitet
ein Mann üblicherweise das Gebet vor
Männern. Manche Gläubige priesen daraufhin
Waduds Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit
und die Würde der Frau, andere
hingegen verurteilten ihr Verhalten
als blasphemisch.
Gemeinsam beten
und Gott gedenken
Auch in Deutschland engagieren sich seit
Jahrzehnten Musliminnen unter anderem
rund um das Zentrum für Islamische
Frauenforschung und Frauenförderung in
Köln für eine stärkere Berücksichtigung
ihrer Perspektiven innerhalb der islamischen
Theologie und Glaubenspraxis.
Trotz positiver Entwicklungen werden
inklusive Ansätze, die herkömmliche Geschlechterrollen
und patriarchale Weltbilder
infrage stellen, in der innerislamischen
Debatte immer wieder scharf
kritisiert.
Solche Aushandlungsprozesse eines
neuen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern
in der muslimischen Glaubensgemeinde
machen sich unter anderem am
Freitagsgebet fest. Am Freitag, dem sechsten
Tag der Woche, die nach muslimischer
wie jüdischer und christlicher Zählung mit
dem Sonntag beginnt, versammeln sich
Gläubige am Mittag in der Hauptmoschee,
auch Freitagsmoschee genannt, um eine
(zweiteilige) Predigt zu hören und anschließend
Gebete zu verrichten. Dieser „Tag der
Versammlung“, wie er im Koran genannt
wird, dient dem gemeinsamen „Gedenken
Gottes“ und bildet den Höhepunkt des wöchentlichen
Gebetsrhythmus. „Ihr Gläubigen! Wenn am Freitag zum Gebet
gerufen wird, dann wendet euch mit Eifer
dem Gedenken Gottes zu und lasst das
Kaufgeschäft (solange ruhen)! Das ist besser
für euch, wenn (anders) ihr (richtig zu
urteilen) wisst“, heißt es in Vers 9 der 62.
Sure, die auch mit „Der Freitag“ betitelt
ist. Von diesen Versen leiten Gelehrte eine
Pflicht zur Verrichtung des Freitagsgebets
ab, die für alle erwachsenen Männer gilt;
Frauen steht die Teilnahme am Gebet frei.
Eine Predigt wird im Koran nicht erwähnt,
auch wenn vieles dafürspricht, dass eine
solche bereits früh zur Freitagsliturgie gehörte.
Anders als beim jüdischen Sabbat oder
beim christlichen Sonntag handelte es sich
beim muslimischen Freitag von seinen Ursprüngen
her allerdings nicht um einen Ruhetag,
sondern – im Gegenteil – um einen
Markttag, der durch einen gemeinsamen
mittäglichen Gottesdienst unterbrochen
wurde. Das biblische Konzept der Heiligung
eines Tages durch Arbeitsruhe ist dem Islam
fremd. Zwar hat Gott auch nach koranischer
Darstellung die Welt in sechs Tagen erschaffen,
die anthropomorphe Vorstellung aber,
Gott habe nach seinem schöpferischen Werk
der Ruhe bedurft, ist mit dem Gottesbild im
Islam prinzipiell nicht vereinbar. Stattdessen
wird die immerwährende tätige Herrschaft
Gottes hervorgehoben. Erst im 20.
Jahrhundert führten einige mehrheitlich
muslimische Länder arbeitsfreie Ruhetage
nach westlichem Vorbild ein, die meist auf
Freitag und Samstag fallen, aber auch, wie
in der Türkei oder Marokko, den Sonntag
einschließen können.
Das gemeinschaftliche Gebet, bei dem
sich die Gläubigen Schulter an Schulter
mit Blickrichtung nach Mekka, angezeigt
durch die Gebetsnische in der Moschee,
aufreihen, versinnbildlicht die angestrebte
Einheit und Gleichheit aller (männlichen)
Betenden. Vor ihren Reihen steht der Vorbeter,
auch Imam genannt, der sich ebenfalls
Richtung Mekka ausrichtet. Er leitet
die unterschiedlichen Gesten und Körperhaltungen
in einem Wechsel zwischen Stehen,
Sich-Verbeugen, Sich-Niederwerfen
und Knien an und spricht die Gebete und
Koranverse, die von den Gläubigen in Stille
mitvollzogen werden. Diese Gebetsweise
ist Verkörperung dessen, was das arabische
Wort islām, das für den Glauben der Anhängerschaft
Mohammeds namensgebend
wurde, meint: nämlich sich dem Willen
Gottes hinzugeben, wie er nach muslimischer
Überzeugung vom Propheten verkündet
wurde und im Koran zum Ausdruck
kommt.
Im Mittelpunkt des rituellen Gebets
stehen das mehrfach zu wiederholende Bekenntnis
„Gott ist der Größere [oder: der
Größte]“ und „Die Eröffnende“, die erste
Sure des Korans, die einem Introitus gleicht:
„Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers!
Lob sei Gott, dem Herrn der Welten,
dem barmherzigen Erbarmer, dem Herrscher
[oder: König] des Gerichtstags! Dir
dienen wir und dich rufen wir um Hilfe an!
Führe uns den geraden Weg, den Weg derer,
denen du Huld erwiesen hast, nicht derer,
auf denen dein Zorn lastet, und nicht derer,
die irregehen.“ Dieses Gebet verbindet das
monotheistische Bekenntnis der Betenden,
dass Gott allein Verehrung gilt, mit der Bitte
um Rechtleitung für das eigene Leben.
Beides grenzt die muslimische Glaubensgemeinde
von anderen Gruppen ab und dient
der Identitätsbestimmung und Selbstvergewisserung
als Muslim oder Muslimin.
Geschlechterdifferenz
und Machtfragen
Im Hinblick auf die Rolle des Vorbeters
bzw. der Vorbeterin ist es wichtig, zu betonen,
dass diese weder Amt noch Rang, sondern
eine temporäre, funktionale Aufgabe
darstellt, die prinzipiell von jedem Muslim
bzw. jeder Muslimin wahrgenommen werden
kann. Obwohl der Koran Frauen nicht
verbietet, einem gemischtgeschlechtlichen
Gebet, wie im Falle von Amina Wadud, vorzustehen,
und sich in der Tradition hierfür
durchaus Belege finden, wird von traditionalistischer
Seite häufig der Versuch unternommen, eine solche Praxis als „unerlaubte
Neuerung“ und damit als „unislamisch“ zu
diskreditieren. Im Kern geht es in dem Konflikt
darum, wer in den religiösen Vollzügen
das Recht beanspruchen darf, eine herausgehobene
Position (vorübergehend) einzunehmen
und das Wort an die Gemeinde zu
richten, da die Aufgaben des Vorbeters und
des Predigers oftmals von derselben Person
ausgeübt werden.
In einem Positionspapier mit dem Titel
„Frauen als Vorbeterinnen (Imaminnen)“
des Liberal-Islamischen Bundes in Deutschland
vom April 2019, das die Praxis der von
Frauen geleiteten gemischtgeschlechtlichen
Gebete zu rechtfertigen sucht, stellen die
Autorinnen und Autoren die Frage: „Sind
es Machtfragen, die mit (vermeintlich) religiösen
oder (vermeintlich) moralischen
Vorstellungen legitimiert werden sollen?“
(S. 7). Um ihre Position zu begründen, ziehen
die Autorinnen und Autoren nicht nur
theologische und historische Argumente
heran, sondern verweisen auch auf die aus
ihrer Sicht basisdemokratische Struktur islamischer
Gemeinden, die jeweils für sich
entscheiden können, ob sie Frauen als Vorbeterinnen
zulassen. Eine übergeordnete
lehramtliche Institution, die solche Fragen
zentral zu entscheiden beansprucht, kennt
der Islam in der Tat ebensowenig wie das
Judentum.
Über die Geschlechterfrage des/der
Vorbetenden bzw. Predigenden hinaus reflektieren
neuere muslimisch-theologische
Ansätze vor allem aus Nordamerika und
Europa verstärkt die religiöse Praxis insgesamt,
und zwar aus einer postkolonialen
oder befreiungstheologischen Perspektive.
Dadurch werden auch Machtasymmetrien,
welche die ethnische Herkunft, das
Lebensalter oder die sexuelle Orientierung
betreffen, kritisch in den Blick genommen.
Erklärtes Ziel der muslimischen
Theologinnen und Theologen ist, die spirituelle
Ausrichtung des Gottesdienstes
in den praktischen Vollzügen zu fördern
und hierarchische Strukturen, die diese
zu überlagern drohen, durch eine kritisch
reflektierte Wahrnehmung abzubauen. Die
zentrale Botschaft des Korans, der Musliminnen
und Muslimen als das offenbarte
Wort Gottes gilt, ist die Einheit und Einzigartigkeit
Gottes. Überlegungen zu einer
entsprechenden Reform des gemeinschaftlichen
Gebets werden besonders von muslimischen
Theologinnen und Theologen
angestellt, die in westlichen Gesellschaften
leben oder ausgebildet wurden, dort mit
entsprechenden Fragen aus christlichen
Theologien in Berührung gekommen sind
und auch die Freiheit haben, ihre kritischen
Überlegungen öffentlich zu äußern.
Der kanadische Theologe Shadaab Rahemtulla,
der an der schottischen University
of Edinburgh lehrt, plädiert etwa für eine
„islamische liturgische Kultur“, die konsequent
pluralistisch, gleichberechtigt und
inklusiv ist. So kritisiert er die martialisch
anmutende Praxis des (männlichen) Predigers,
seine Freitagspredigt von den Stufen
einer Predigtkanzel zu halten, während er
einen Stab (früher ein Ritualschwert) in
seinen Händen führt. Hinsichtlich der rituellen
Eröffnungs- und Abschlussformeln
der Predigt plädiert er für eine inklusive
Sprache, die nicht nur die Anhänger/innen
der verschiedenen islamischen Richtungen
(Sunniten, Schiiten, Sufis, Aleviten u. a.)
gleichermaßen berücksichtigt, sondern
auch die fälschlicherweise angenommene
Rivalität mit Judentum und Christentum
beendet. Statt Nichtmuslime als „Ungläubige“
abzuwerten, plädiert er dafür, sie als
gesellschaftliche Bündnispartner im Kampf
gegen Ungerechtigkeiten zu begreifen und
dies auch in der religiösen Praxis sprachlich
deutlich zu machen. Exklusivistische
Sprache und diskriminierende Praktiken,
die im Widerspruch zur Vielfalt des Islams
stehen, entlarvt Rahemtulla als Ergebnis
historischer Prozesse und damit auch als
prinzipiell reformierbar, ohne das Wesen
der Offenbarungsreligion zu verändern.
Ein globaler Trend?
Die hier nur angedeuteten Konflikte rund
um die praktische Gestaltung des Freitagsgebets
sind Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher
Veränderungen, die auch
Muslime, zumindest im sogenannten Westen,
derzeit erleben. Die Konflikte zeigen,
dass Fragen nach Partizipation, Machtverteilung,
Geschlechtergerechtigkeit und
Inklusion ins Mark jeder Religion treffen,
weil Glaubwürdigkeit und Authentizität auf
dem Spiel stehen. Ob in einer Initiative wie
„Maria 2.0“ in der katholischen Kirche oder
bei den „Women of the Wall“ im Judentum,
die um ihr Recht kämpfen, als Frauen in
Gebetskleidung an der Klagemauer gemeinschaftlich
beten und aus der Thora
lesen zu dürfen – stets geht es um die Infragestellung
bestehender Strukturen, die
Frauen als ungerecht anprangern.
Wie reagieren Religionen adäquat auf
Umbrüche in der Gesellschaft, damit Menschen
weiterhin Vertrauen haben können,
dass es um Gott und um ihr Leben geht?
Rituelle Vollzüge, ob im Islam, Judentum
oder Christentum, müssen die Gläubigen
und ihre Lebenswirklichkeiten uneingeschränkt
ernstnehmen.