Der am 14. Oktober 2018 heiliggesprochene Paul VI. wird gerne als erster moderner Papst oder erster Papst der Moderne bezeichnet. Von symbolischer Bedeutung waren in dieser Hinsicht das Ablegen der Tiara und das Abschneiden mancher alten Zöpfe im vatikanischen Zeremoniell. In den Vatikanischen Museen ließ er eine Sammlung moderner Kunst einrichten und zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart. Zugleich wird er aber auch als zögerlicher Intellektueller charakterisiert, dessen Ängstlichkeit vor allem in der Enzyklika Humanae vitae (1968) zum Ausdruck kam. Im Blick auf die Erneuerung der Liturgie zeigte sich Papst Paul VI. alles andere als zögerlich und ängstlich: Er machte die Erneuerung der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu seinem persönlichen Anliegen und setzte sich mit aller Kraft für deren Umsetzung ein.
„Wenn je ein Papst all seine Energie für eine spezifische Arbeit eingesetzt hat, dann ist es Paul VI. im Hinblick auf die Liturgie“, resümiert Annibale Bugnini, der langjährige Sekretär der Kommission für die Ausführung der Liturgiekonstitution, in seinem umfassenden Werk „Die Liturgiereform“. Der Papst ließ sich von ihm stets über die Fortschritte der Arbeit unterrichten und brachte sich persönlich in die Erarbeitung der neuen liturgischen Bücher ein. Ohne dieses Engagement wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, innerhalb von nur zehn Jahren nahezu alle liturgischen Bücher neu herauszugeben. Deshalb ist es zweifellos berechtigt, Paul VI. als „Papst der Liturgiereform“ zu bezeichnen, wie ihn schon Prälat Johannes Wagner als ehemaliger Leiter des Deutschen Liturgischen Instituts in seinem Nachruf in dieser Zeitschrift titulierte (vgl. Gd 17/1978, S. 129–131). In den Würdigungen anlässlich der Heiligsprechung wurde dieser Aspekt seines fünfzehnjährigen Petrusdienstes (1963–1978) leider höchstens am Rande erwähnt.
Geprägt durch die Liturgische Bewegung
Bereits während seines Studiums war der 1897 bei Brescia geborene Giovanni Battista Montini über einen Lehrer mit den Gedanken der Liturgischen Bewegung in Berührung gekommen, die sein theologisches Denken nachhaltig prägten. Als Pro-Staatssekretär schrieb er 1953 im Auftrag Piusʼ XII. an den Liturgischen Kongress von Lugano: „Nichts ist in der Tat (...) so dringend wie die Aufgabe, das Volk Gottes (...) zu der kräftigen Speise der liturgischen Frömmigkeit zurückzuführen.“ Nachdem Montini 1955 Erzbischof von Mailand geworden war, stellte er einen seiner ersten Hirtenbriefe unter den Titel „Über die liturgische Erziehung“; eine deutsche Übersetzung dieses Hirtenbriefes wurde 1958 – lange vor seiner Wahl zum Papst – im Liturgischen Jahrbuch veröffentlicht (LJ 8 [1958] 166–178). Darin sprach er zentrale Themen liturgischer Bildung an, die später in der Liturgiekonstitution aufgegriffen wurden, und positionierte sich damit deutlich als Förderer der Liturgischen Bewegung. Auch Josef Andreas Jungmann SJ und Romano Guardini finden in dem Schreiben Erwähnung. Vor dem Konzil war Kardinal Montini einer der wenigen italienischen Bischöfe, die sich in einer Umfrage für die Zulassung der Volkssprache bei den Sakramenten und im Wortgottesdienst aussprachen. In einer Rede während der ersten Konzilssession am 22. Oktober 1962 trat er zwar für die Wahrung der Tradition ein, betonte aber zugleich, dass Änderungen in der Liturgie möglich seien. Eindeutig forderte er, das Hindernis der Sprache zu beseitigen, wodurch das Volk von der Teilnahme am Gottesdienst abgehalten werde, und formulierte: „Die Liturgie ist doch für den Menschen da, und nicht die Menschen für die Liturgie.“
Mit seiner Wahl zum Nachfolger Papst Johannes’ XXIII. am 21. Juni 1963 „erbte“ Montini zugleich das Konzil. Als er schon ein halbes Jahr später, am 4. Dezember, die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium feierlich promulgieren konnte, sagte er in seiner Ansprache: „Unser Herz jubelt darüber in aufrichtiger Freude.“ Er wollte „eine Liturgie, die leichter zum geistlichen Schatz des Volkes werden kann.“
„Der Papst hat alles geprüft.“
Bereits im Januar 1964 setzte Paul VI. das Consilium ad exsequendam Constitutionem de sacra Liturgia zur Umsetzung der Konzilsbeschlüsse ein. In einer Ansprache an die Mitglieder und Berater des Consilium am 29. Oktober 1964 bekannte er: „Ihr wisst sehr wohl, mit welcher Hochachtung und unablässigen Sorge Wir eure Arbeit verfolgen, der Wir, wie es sich geziemt, höchste Bedeutung zumessen.“ Paul VI. studierte gründlich die Entwürfe des Liturgierates, oft zusammen mit Bugnini, machte seine Anmerkungen und trug Fragezeichen ein. Bugnini konnte später im Rückblick sagen: „Der Papst hat alles gesehen, hat alles verfolgt, hat alles geprüft, hat alles gebilligt.“ Trotz seiner Zurückhaltung und diplomatischen Ausgewogenheit entschied Paul VI. bei einigen Fragen der Liturgiereform gegen den Rat einer Fachkommission. Als Beispiele lassen sich anführen: das Kreuzzeichen am Beginn der Messe, die Beibehaltung des Kyrie in jeder Messe, die Akklamationen der Gemeinde nach den Schriftlesungen, die stillen Gebete des Priesters bei der Gabenbereitung, der Erhalt des Canon Romanus als Erstes Hochgebet bei gleichzeitiger Einführung neuer Hochgebete, das Friedensgebet, der Abschluss des Agnus Dei mit der dritten Bitte „Gib uns deinen Frieden“. So konnte der Papst nach nochmaliger intensiver Prüfung des Ordo Missae schließlich das Missale Romanum am 11. März 1970 approbieren. Johannes Wagner bestätigt, dass die Messreform „sein ureigenster Wille und in einem entscheidenden Sinne sein Werk“ war. Gegen Angriffe und Vorwürfe hat Paul VI. den erneuerten Messordo stets verteidigt und die Rechtmäßigkeit der reformierten Liturgie betont. Immer wieder griff der Papst in Predigten und Ansprachen liturgische Themen auf, nicht zuletzt um zu betonen, dass es nicht bei einer bloßen Änderung der Rubriken und äußeren Vollzüge bleiben dürfe, wenn der hohe Anspruch der Reform sein Ziel erreichen und die Gläubigen wirklich bewusst und tätig an der Liturgie teilnehmen sollten. Er wusste aber auch um die Eigenmächtigkeiten mancher Priester und warnte davor, sich eine eigene Liturgie zu schaffen, die sich auf zwischenmenschliche Aspekte beschränkte.
Mit der Heiligsprechung Papst Pauls VI. tritt auch die Bedeutung seines großen Anliegens einer Erneuerung der Kirche aus dem Geist der erneuerten Liturgie wieder ins Bewusstsein – ein Anliegen, das nichts von seiner Aktualität verloren hat.
Handelnde statt Zuschauer
„Wir können ohne weiteres als bloße Zuschauer an der Liturgie teilnehmen; aber wenn wir tatsächlich Wert und Ziel der Liturgie verständen, dann müssten wir in gewissem Sinn die Handelnden sein oder wenigstens im Geist in jene Epoche und zu jener Szene zurückkehren, die in der Feier begangen wird. (...) Der Gläubige, der an der Liturgie teilnimmt, fühlt sich darin nicht fremd: Wenn er das Ostergeschehen feiert, dann ist er ganz hineingezogen, durchdrungen von der tragischen Stunde Christi.“
Papst Paul VI., Ansprache in der Generalaudienz am 26. März 1975