Erfahrungen und EinsichtenVom Altwerden

Als Soziologieprofessor setzte er sich wissenschaftlich mit dem Alter auseinander. Heute, mit knapp 90, ist Altsein für ihn ein ganz existentielles Thema geworden.

Vom Altwerden
© Martin Wahlborg - GettyImages

Geschenkte Jahre – schmerzhafte Erfahrungen

2010, in meinem 78. Lebensjahr, begegnete ich erstmals der Verletzlichkeit meines Körpers in der Form einer chronischen Erkrankung. Diagnose: Prostata-Krebs mit Knochen-Metastasen. Ich beschloss, nicht am, sondern mit dem Krebs zu sterben, verzichtete auf eine Operation und ernannte ihn zu meinem „Haustier“. Bis heute ist das dank medizinischer Unterstützung gut gegangen, das Haustier schläft.
Es wurden mir noch fünf Jahre fruchtbarer Arbeit geschenkt, in denen ich meine geplanten und in Arbeit befindlichen Publikationen zum Abschluss bringen konnte. Aber dann ging es los: Ich verlor den Schlaf durch nächtliche Beinschmerzen. Die neurologische Diagnose ergab: Parkinson Syndrom sowie Poly-Neuropathie; beide Erkrankungen gelten bisher als unheilbar, bestenfalls als in ihrem Fortschreiten zu bremsen. Sie wurden mein „Duo infernale“, das mich täglich und vor allem nächtlich an meine Verletzlichkeit erinnert. Im Dezember 2020 erwischte mich der Covid 19-Virus und ich begann, mit meinem Scheiden aus dieser Welt zu rechnen. Gott sei Dank habe ich die vor allem meine Knochen-Metastasen schmerzhaft aktivierende Attacke nach sechs Wochen Quarantäne überstanden. Aber eine fortgesetzte Kurzatmigkeit ist mir geblieben.
Weitere „Zeitbomben“ wurden inzwischen diagnostiziert, aber die tun nicht weh. Ich weiß nun, wie Poly-Morbidität sich anfühlt. Ich nehme täglich 16 verschiedene Tabletten, bekomme periodisch drei verschiedene Spritzen, Bluttransfusionen und ein Schmerzpflaster. Und eines Tages wurde mir bewusst: Du bist ein kranker, alter Mann geworden ...

Was sich geändert hat

Ganz allgemein: Frühere Zeiten assoziierten Alter einerseits mit Gebrechlichkeit, andererseits mit Weisheit. Beides hat sich in der Moderne gewandelt. Gebrechlichkeit wurde zur Poly-Morbidität, die dank ärztlicher und pharmazeutischer Kunst die Zeit bis zum Tode immer mehr verlängert. Von Weisheit ist immer seltener die Rede, weil der rasche soziale Wandel, aktuell etwa die Digitalisierung, das Wissen der früheren Generationen immer schneller veralten lässt.
Vor allem aber hat sich zwischen die Erwerbsphase und die Altersphase ein neues Phänomen geschoben: Das so genannte „Dritte Lebensalter“ oder die Ruhestandsphase. Mein Vater hat noch bis zu seinem 86. Lebensjahr seine Praxis als Anwalt auf seinen schrumpfenden Kräften entsprechendem Niveau fortgeführt. Mit seinem 86. Geburtstag entließ er seine letzte Klientin und starb zehn Tage später an Nierenversagen. Heute sind in Deutschland über 90 Prozent aller alten Menschen durch staatlich regulierte Alterssicherungssysteme direkt oder indirekt (Witwenrente) mehr oder weniger auskömmlich gesichert; eine Bürgerversicherung wie z.B. in der Schweiz existiert allerdings nicht. Eine Regelaltersgrenze sorgt dafür, dass der Ruhestand für alle Beschäftigten obligatorisch wird.
Alter wird hier durch den Beginn der Rentenberechtigung bestimmt. Wer nicht mehr arbeiten kann oder muss, ist alt. Dieses Verrentungsalter tritt für die meisten Menschen viele Jahre vor der Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit durch ernsthafte Erkrankungen auf, und das dadurch entstehende „Dritte Lebensalter“ dehnt sich mit der Verlängerung der mittleren Lebenserwartung (jedes Jahr um ca. zwei Monate!) von Geburtsjahrgang zu Geburtsjahrgang weiter in die Länge. Die meisten Menschen empfinden sich in dieser Lebensphase noch nicht als alt. Viele genießen sie vielmehr als Chance eines selbstbestimmten Lebens – oft zum ersten Mal.

Veränderungen im vierten Lebensalter

Nicht von diesem dritten, sondern vom vierten Lebensalter möchte ich sprechen, in das ich selbst seit etwa sechs Jahren geraten bin. Bei manchen ist der Übergang vom dritten ins vierte Lebensalter ganz brüsk, etwa infolge eines Unfalls mit bleibenden Behinderungen. Bei vielen vollzieht er sich ganz allmählich, als Schwinden der Kräfte oder der Leistungsfähigkeit einzelner Organe. Jede und Jeder altert auf seine Weise. Immerhin drei Veränderungen lassen sich verallgemeinernd beschreiben.
Erstens: Der Lebensrhythmus verlangsamt sich. Ich kann immer weniger meiner Vorhaben oder Absichten in einem voraussehbaren Zeitrahmen realisieren. Das hat mehrere Gründe, die zunehmende Langsamkeit ist nur einer von ihnen. Immer mehr Zeit nimmt die Sorge um den eigenen Körper in Anspruch: Von Arztbesuchen, von Physio- und anderen Therapien, vom Pillenschlucken bis zu den notwendigen Erholungspausen. Besuche und telefonische Kontakte sind zwar hoch erwünscht, nagen aber auch an der verfügbaren Zeit. Ein anderer Aspekt ist der oft berichtete Eindruck oder die Erfahrung, dass die Zeit schneller vergehe als in jüngeren Jahren. Da sich weniger Merkwürdiges pro Zeiteinheit ereignet schrumpft die Vergangenheit in der Retrospektive.
Zweitens: Der Zukunftshorizont verengt sich. Wenn man im dritten Lebensalter noch eine Fülle von Interessen verfolgte und Pläne machte – so viel verfügbare Zeit war in der Berufsphase nie –, so zeigen die körperlichen Leiden die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten auf. Oft ist es das Herz, das nicht mehr mitspielt, oder der Leistungsverlust der Sinne oder die vielen Zipperlein, die einen die Konzentration kosten. Zusammen mit der Knappheit an verfügbarer Zeit verblassen infolge dessen die nicht mehr gepflegten Interessen. Und wenn sich die körperlichen Störungen verstärken, so tritt auch der Gedanke des Todes in den Horizont, wenn er nicht absichtsvoll verdrängt wird. Er stellt alle Zukunftsperspektiven unter die Bedingung: Wenn ich dann noch lebe …
Drittens: Das Naheliegende und die Nahestehenden werden wichtiger. Die eigene Wohnung und das nächste Essen, die Blumen auf dem Balkon und die alten Freunde und Bekannten. Vor allem aber die nahen Familienmitglieder. Ihre seelische und körperliche Nähe sind eine Wohltat, familiäre Konflikte besonders belastend. Die Beziehung zur großen weiten Welt verliert an Interesse, beschränkt sich zumeist auf das im Fernsehen Vermittelte. Jüngere Generationen mögen andere Medien bevorzugen, aber auch diese bleiben abstrakt, sie können den Stammtisch oder das Kränzchen nicht ersetzen.
Wer das Lob des Alters singt, denkt zumeist an das „Dritte Lebensalter“. Wer das vierte Lebensalter meint, klingt wie das Pfeifen im dunkeln Wald. Wenn es da Befriedigung oder in seltenen Momenten Glück gibt, so im Bewusstsein, in der Enge der Möglichkeiten wieder eine Herausforderung bestanden zu haben.

Woher ich Mut und Gelassenheit nehme?

Keine leichte Frage! Rudolf Walter, der Herausgeber dieser Zeitschrift, bittet mich, auch mitzuteilen, wie ich selbst mit den Herausforderungen des Alters umgehe. Nun, ich habe es verhältnismäßig gut. Zusammen mit meiner ebenfalls pflegebedürftigen Frau bewohne ich eine Zweizimmer-Wohnung in einem Seniorenstift mit Blick auf den Rhein. Es ist etwas eng, und wir mussten uns von vielem trennen, nicht zuletzt von einem Großteil meiner Bücher. Diese Reduzierungen unseres praktischen Lebensraums bewältigten wir mit Hilfe unserer beiden Söhne, die für vieles dankbare Abnehmer wurden. Einiges wurde von Sozialeinrichtungen übernommen – und ein Gutteil der Bücher von einer Warschauer Universitätsbibliothek – aber wohl das Meiste landete im Schredder. Da darf man kein Mitleid haben!
Rudolf Walter fragt: „Alt werden sei nichts für Feiglinge, sagt man ja. Woher nimmst du Mut, Hoffnung, Zuversicht, Gelassenheit, Sinn – trotz aller Belastung?“ Keine leichte Frage! Zunächst: Das Leben lebt sich weiter, ohne mein Zutun. Ich bin auf jeden Tag neugierig, ob er mir die Kraft und die Motivation zum Tätig-Sein bringt oder aber Schmerzen, die mich vom konzentrierten Tun abhalten. Manchmal wechselt das sogar im Laufe eines Tages. Und wenn die Schmerzen überhand nehmen, so lege ich mich hin und versuche, auf andere Gedanken zu kommen, häufig durch ein Gebet.
Ein wichtiges Motiv für den Willen zum Leben ist die Verantwortung für meine Frau, auch für meine Nachkommen, wenn ich ihnen dienlich sein kann.
Schließlich: Auch ich lebe nicht allein im Augenblick. Dass ich jederzeit stürzen oder die Blut-Transfusionen nicht mehr vertragen kann, also durch irgendein Ereignis meine immer noch vorhandene, bescheidene Handlungsfähigkeit verlieren könnte, diese Sorg begleitet mich täglich. Die Angst, hilf los zu werden, lässt sich nicht wegbeten. Es bleibt nur die Hoffnung dass mich die alltäglichen Herausforderungen nicht überfordern. Und während ich da rüber nachdenke und mich wundere, dass mich diese Perspektiven nicht lähmen, spüre ich eine tiefe Ruhe. Ich führe sie auf di Erfahrung einer beglückenden Wirklichkeit zurück, die die christliche Tradition „Gott“ nennt. Ich kann meine Gottesbeziehung am besten im 5. Und 6. Vers des 139. Psalmes wiederfinden: „Vom Rücken und von vorn umschließest Du mich. Zu staunenswert ist dies für mich und unbegreiflich, zu hoch ist dieses Wissen, ich fass es nicht.“ Deshalb komme ich in Verlegenheit, wenn ich meinen Glauben begründen soll.

Allerletzte Fragen – und vorläufige Antworten

Und was ist mit dem Ende? Gibt es ein Danach? Nahezu alle uns bekannten Kulturen entwickeln Vorstellungen über ein Leben nach dem Tode, wie Grabbeigaben und Totenrituale schon der frühen Zeiten bezeugen. Die christliche Religion war besonders produktiv in der Ausgestaltung des Jenseits, wie die vielfältige Ikonographie insbesondere des Mittelalters zeigt. Doch das Thema eines „Jüngsten Gerichts“ inspiriert auch noch die moderne Kunst. Aber es fällt uns „aufgeklärten“ Christen, also denjenigen, welche die Ergebnisse der Natur- und Geisteswissenschaften ernst nehmen, immer schwerer, sich mit diesen Traditionen zu identifizieren, zumal die Schriften des neuen Testaments – mit Ausnahme der stark in der jüdischen Tradition verankerten Apokalypse – sich bemerkenswert sparsam zu diesem Thema äußern. Das „Fegefeuer“ beispielsweise ist eine Erfindung des Mittelalters. Die frühchristliche Ikonographie kennt die Personalisierung des Bösen als Teufel meines Wissens noch nicht. Auch mir ist die Personalisierung des Bösen und damit die Vorstellung einer Hölle als Ort der Verdammnis unplausibel.
Auch der Himmel als Ort, an dem die Erlösten nach der Auferstehung von den Toten dauerhaft wohnen, ist mir fremd geworden. All diese postmortalen Vorstellungen postulieren eine Fortexistenz nach menschlichen Kategorien. „Raum“ und „Zeit“ sind menschliche Kategorien a priori, wie wir seit Kant wissen. Wenn wir diese Welt verlassen, so verlassen uns auch Raum und Zeit. „Ewiges Leben“ ist ein Zustand ohne Raum und Zeit, keine extensive Dauer. So konnte schon Meister Eckhart formulieren, dass das „Nu“ und „Ewigkeit“ gleichbedeutend seien.
Wenn wir an der Existenz eines Erlösergottes festhalten, zu dem sich unser Ich – was die Altvordern als „Seele“ bezeichneten – in einer den Tod übergreifenden Weise verhält, so erscheint es mir am plausibelsten, dass im Sterben ein Nu der Begegnung oder der Schau Gottes sich ereignet, in dem das Ich in Seiner Herrlichkeit verglüht.
Allerdings: Ignoramus et ignorabimus!

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