Ein Hauch von Apokalyptik scheint in der Luft zu liegen. Untergangszenarien dominieren nicht mehr nur Literatur und Film, sondern die Stimmung des absoluten Endes ist vermehrt auf den Straßen und Plätzen unserer Städte anzutreffen. Gruppierungen wie die "Letzte Generation" oder die Sammelbewegung "Fridays for Future" vereint die berechtigte Sorge um das gemeinsame Haus. Doch kommen ihre mahnenden Worte für eine verantwortungsvolle Zukunft mit dunklen Bildern und Ängsten daher.
Die große Erzählung vom Ende der großen Erzählung scheint aufgehoben, doch sind die vielen kleinen Erzählungen im kollektiven Blick auf den baldigen Abbruch der Geschichte wieder vereint. Es bleibt die apokalyptische Grundstimmung, die die Weltgeschichte der Gegenwart aufbürdet.
Zahme Eschatologie statt Apokalyptik?
Johann Baptist Metz, Begründer der Neuen Politischen Theologie, hat bereits vor Jahrzehnten vehement dafür geworben, dass Theologie die biblische Apokalyptik zu bedenken habe. Allzu oft werden allgemein apokalyptische Bilder und Vorstellungen für Untergangsängste in Anspruch genommen, aber zugleich von der konkreten Geschichte gelöst. In Theologie und Kirche wittert Metz einen latenten Abschied von der biblischen Denkform der Apokalypse "zugunsten einer sanften, idealistisch geglätteten und bürgerlich erträglichen Eschatologie". Der Ausweg, weg von der Apokalypse hin zu einer zahmen Eschatologie, führt auf die Fährte, das Leiden und das Unrecht der Geschichte vorschnell in Gott selbst einzuschreiben. Die passio caritatis scheut im letzten, so ist Metz überzeugt, die Rede von der Allmacht Gottes und verwandelt Theodizee in Anthropodizee, anstatt sich dem Leiden der Welt und darin dem Leiden an Gott auszusetzen.
Christliche Theologie als Theologie der Apokalyptik ist für Metz die zentrale Zeitbotschaft der christlichen Hoffnung.
Anders eine apokalyptische Theologie: Sie kann nach Metz die Theologie davor bewahren, die Theodizeefrage vorschnell zu beantworten. Es ist Aufgabe des christlichen Denkens, die Frage nach dem "Warum" des Leids und des Bösen in der Welt immer wieder neu zu stellen und dadurch offen zu halten. In apokalyptischer Sprache ist Gott das noch ausstehende Geheimnis der Zeit, das ermöglicht, die Antlitze der vielen Opfer aufzudecken. Hierin ist das christliche Gottesgedächtnis zutiefst Leidensgedächtnis: memoria passionis! Apokalyptische Sprache ist geschichtsträchtig und trostspendend, da sie über das Leiden der Opfer nicht hinweggeht. Christliche Theologie als Theologie der Apokalyptik ist für Metz die zentrale Zeitbotschaft der christlichen Hoffnung.
Gott an die Lebenswelt herantragen
Die Theologie von Metz hat vielfach Fortführungen gefunden. Der emeritierte Wiener Fundamentaltheologe Johann Reikerstorfer hat sich nicht nur als Herausgeber der gesammelten Schriften seines Münsteraner Kollegen verdient gemacht, sondern er hat den Metz'schen Ansatz in sein Denken aufgenommen und fortgeschrieben. Zuletzt hat er dies in dem Band "Lernbedürftiger Glaube. Orientierungen in der Moderne und an ihren Grenzen" mit gesammelten Aufsätzen zusammengetragen. Leitende Frage ist, wie Theologie und Kirche sich zu einer postmodern-säkularisierten Welt verhalten und sich im gesellschaftlichen Diskurs behaupten können.
Die Sprache der Theologie muss eine praktische Relevanz aufweisen und in den Gedanken einer Dialektik der Aufklärung einstimmen. Theologie kann den "lebensgeschichtlichen Fragen der Menschen eine Sprache geben, sich als eine ebenso unbeantwortbare wie unvergessliche Frage nach Gott selber ausarbeiten und so ihre Kompetenz innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit […] einzubringen suchen." (64) Der Gottessinn, von dem auch die Welt erfüllt ist, darf nicht zu einer geschichtsenthobenen und geschichtsfernen Metaphysik verkehrt werden. Im Angesicht der Welt und der Menschen weist christliche Theologie ihre Gottesrede aus und findet hier ihren geschichtlichen Ort. Eine Gefahr stellt für Reikerstorfer die Konstruktion einer Theologie dar, man könnte sie "theologia pura" nennen, die in keiner Verbindung zur konkreten Geschichte der Menschheit steht. Aufgabe der Theologie ist vielmehr, Gott an die Lebenswelt heranzutragen und zugleich den Sinn für Gott in das Denken über Gott aufzunehmen. Zentral für den Fährmannsdienst der Theologie ist das Eingedenken des Leids in der Welt (memoria passionis) und das Bewusstmachen einer apokalyptischen Zeit.
Mit dem Gedanken der memoria passionis zielt Reikerstorfer ähnlich wie Metz auf den lauten Schrei, den das Leid und das Böse in der Welt ausrufen lässt. Die Theodizeefrage, die Wunde in der Gottesfrage, will das allzu kultivierte Vergessen und eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Unrecht durchkreuzen. Theologie hat keine beruhigenden Antworten zu geben, um die Gottesrechtfertigung im Angesicht des Leids ruhig zu stellen; der Schrei der Opfer und Besiegten muss wach gehalten werden:
"Die Entfaltung des im biblischen Gottesgedächtnis eingeschlossenen Leidensgedächtnisses hätte dann nicht nur theologische Bedeutung, sondern als Widerstand gegen eine Kultur des Vergessens zutiefst auch humane Relevanz in unserer pluralistischen Öffentlichkeit oder erlangte […] seine theologische Kraft aufgrund seines humanen Potentials." (83)
Das Gottesgedächtnis, das mit dem Leidensgedächtnis der Welt zusammengeht, zielt in das Herz biblischen Glaubens. Der Leidensruf sprengt den Zirkel einer in sich geschlossenen Offenbarungstheologie sowie ein selbstgenügsames Denken der Aufklärung ohne Dialektik.
Die Gottesfrage als apokalyptische Frage
Reikerstorfer sucht das Gespräch zwischen Theologie und Philosophie, die im Angesicht der Leidfrage etwas zu sagen haben: "Schreie sind in ihrer menschlichen Ungetröstetheit immer Gottesschreie." (86) Die humanisierende Kraft von Religion liegt in der Aufdeckung der Passionsgeschichte jedes einzelnen Opfers durch das Gottesgedächtnis. Gerade dazu braucht es ein geschichtliches Bewusstsein. Leid ist immer Leid in der Geschichte, es steht niemals über der Geschichte. In einem solchen Bewusstsein stärkt auch Religion das säkulare Anliegen, Subjekthaftigkeit des Menschen zu bilden. In den Schreien von Leid als Grunderfahrung des Selbstbewusstseins. Reikerstorfer weist immer wieder auch auf die Schreie in den menschlichen Gebeten hin, hier kann eine Gotteserfahrung geschehen. Gott ist nicht einfach die Antwort auf das Leid, die Gottesfrage deckt vielmehr das Leid auf. Die Gottesfrage ist eine apokalyptische Frage.
Ist Gott in den Passionsgeschichten der Zeit zugegen, ist Gott das Thema der Geschichte. Der geschichtliche Blick richtet sich auf die "Transzendenz nach unten" (59). Die vielen Passionsgeschichten finden ihren Kulminationspunkt in der einen Passionsgeschichte Jesu. Hier ist Offenbarungsgeschichte zutiefst apokalyptische Geschichte. Die memoria passionis sperrt sich dagegen, die Theodizeefrage ruhig zu stellen; als apokalyptisches Ereignis verweist es auf die Gegenwart Gottes in der Passion. Im Eingedenken ist der Schrei des Leidens nicht ein Zufallsprodukt der Zeit, sondern wirkliche Geschichtszeit, die den Menschen unbedingt angeht. Eine messianische Hoffnungszeit, nichts anderes ist Apokalyptik, wird freigesetzt, die existentiell angenommen werden kann.
Jede Zeit braucht Apokalyptik, die den Schleier des Vergessens immer wieder aufreißt und auf das Dilemma der Geschichte verweist. Apokalyptische Geschichte als Offenbarungsgeschichte ist Krisengeschichte, die die entscheidende Frage an den Menschen stellt.
Apokalyptik steht dafür, dass Gott in einer verzeitlichten Zeit zu finden ist, einer Zeit, die sich dem Leid des Menschen stellt und integriert. Dies ist der Stachel im Fleisch aller gnostischen Varianten, die das Böse und Leid in der Welt als notwendiges Übel anerkennt, aber ansonsten darüber stillschweigend hinweggeht. Jede Zeit braucht Apokalyptik, die den Schleier des Vergessens immer wieder aufreißt und auf das Dilemma der Geschichte verweist. Apokalyptische Geschichte als Offenbarungsgeschichte ist Krisengeschichte, die die entscheidende Frage an den Menschen stellt. Im Kreuz Christi, der "Transzendenz nach unten", tut sich endlich die "Transzendenz nach oben" des Menschen auf. Weil sein Leid offengelegt ist, kann er Hoffnung auf Eingedenken seines Leids haben.
Den Schatz der Apokalyptik neu heben
In Momenten des Leids und apokalyptisch anmutender Bedrohungen ist es Zeit, den Schatz apokalyptischen Denkens neu zu heben. Memoria passionis und apokalyptisches Denken können sowohl vor einer Funktionalisierung des Gottesgedanken wie auch vor einer Ideologisierung eines Weltuntergangsszenarios bewahren. Haben sich Metz und Reikerstorfer insbesondere auf den Schrei des Leids als offenbarendes Moment Gottes in der Geschichte konzentriert, so darf die andere Seite der Medaille nicht vergessen werden. Die "Spuren des Heiligen heute" (Jan-Heiner Tück) bergen ebenfalls apokalyptisches Potential in sich.
In der Wahrnehmung der Schönheit, im Gefühl von Glück und in der Erfahrung des Erhabenen zeigt sich ebenfalls die memoria passionis et resurrectionis. Die Schönheit von Kunst integriert den Schmerz der Welt und transformiert ihn. Religion als "Unterbrechung" (J. B. Metz) ist Glaube an das Eingedenk-Sein im Leiden und im Guten. Apokalyptik setzt dem Leid die Hoffnung entgegen. Die Irritation des Leidens, das nicht vergessen werden darf, lässt zugleich die Frage nach dem Guten aufkommen. Der Schrei des verborgenen Antlitzes Gottes in den vielen Antlitzen der Leidenden steht in Verbindung mit dem Ruf "Marána thá – Komm, Herr Jesus" (1 Kor 16,22; Offb 22,20).
Nicht die Weltgeschichte wird das Weltgericht sein, sondern die demütige Haltung des Gottes, der sich in die "Transzendenz nach unten" entäußert hat, um den Menschen die "Transzendenz nach oben" in der Hoffnung des Eingedenkens zu ermöglichen.
Apokalyptik legt nicht nur das Unrecht offen, sondern tut den wiederkommenden Gott kund. Geschichte ist in dieser apokalyptischen Form zutiefst adventliche Geschichte, die das Kommen des Richters nicht nur erwartet, sondern im Bewusstsein der ankommenden Hoffnung Geschichte erinnert und verändert. Apokalyptische Geschichte zeugt von den Spuren der Heilsgeschichte und der Hoffnung, dass am Ende Gott alles in allem sein wird (vgl. 1 Kor 15,28).
Die Offenbarung des Johannes zeugt von dieser apokalyptisch-adventlichen Hoffnung. Es werden keine ideologischen Parolen geschrien, die den Schrei der Verfolgten übertönen würden. Es wird die Doxologie auf das Lamm angestimmt, das die Siegel des Geschichtsbuches zu öffnen vermag. Die im Buch des Lammes Reingewaschenen – auch ein Zeichen für die eschatologisch vollendeten Opfer der Geschichte? – stimmen in den Hymnus der Offenbarung ein. Im Lobpreis des Lammes, das die Passionen der Geschichte erlitten hat, ist der Ausweis auf Heilung der Geschichte eingeschlossen. Nicht die Weltgeschichte wird das Weltgericht sein, sondern die demütige Haltung des Gottes, der sich in die "Transzendenz nach unten" entäußert hat, um den Menschen die "Transzendenz nach oben" in der Hoffnung des Eingedenkens zu ermöglichen.