Das Elefantengedächtnis der KircheSowohl Johannes XXIII. als auch Johannes Paul II. sind vor zehn Jahren heiliggesprochen worden

Im Jahr 2014 sprach Papst Franziskus zwei seiner Vorgänger heilig. Mit beiden verbindet ihn die besondere Bedeutung, die sie der Barmherzigkeit Gottes zuschrieben.

Johannes Paul II.
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Dass Päpste selig- oder heiligsprechen, ist in der Geschichte der katholischen Kirche immer wieder vorgekommen, hat sich in letzter Zeit aber auffällig gehäuft. Im Jubiläumsjahr 2000 hat Johannes Paul II. (1978-2005), der mehr Selig- und Heiligsprechungen vorgenommen hat als alle seine Vorgänger auf der cathedra Petri, Pius IX. (1848-1876) und Johannes XXIII. (1958-1963) seliggesprochen. Man konnte darin ein theologiepolitisches Signal erblicken, das die Weite des katholischen Traditionsbegriffs unterstreichen sollte. Sowohl der modernitätsskeptische Pius IX., der das Erste Vatikanische Konzil einberief und im Syllabus errorum die Irrungen der modernen Welt geißelte, als auch der betagte Roncalli-Papst, der überraschend das Zweite Vatikanische Konzil einberief und seiner Kirche eine Therapie des Aggiornamento verordnete, sollten gewürdigt werden. Die Lektion an die Adresse der Traditionalisten, aber auch der Reform-Avantgardisten war, dass im Elefantengedächtnis der Kirche jeweils auch das Gegenläufige seinen Platz hat. Man muss das nicht gleich als Strategie einer complexio oppositorom (Carl Schmitt), also einer "Verbindung der Gegensätze" einstufen, darf es aber als Fingerzeig sehen, dass unter dem Dach der katholischen Kirche unterschiedliche Auffassungen Platz haben. Im Sinne des "et – et" können die Hüter der Tradition und die Pioniere der Erneuerung so lange koexistieren, als sie sich nicht anmaßen, für das Ganze zu stehen.

Santo subito

Im September 2011 hat dann Benedikt XVI. (2005-2013) mit Rückendeckung der santo subito-Rufe auf dem Petersplatz, aber unter Umgehung der üblichen Fristen seinen polnischen Vorgänger in Rekordzeit seliggesprochen – und vor zehn Jahren, am 27. April 2014, hat Papst Franziskus in einem spektakulären Großereignis auf dem Petersplatz gleich zwei Päpste – Johannes XXIII. und Johannes Paul II. (1978-2005) – zur Ehre der Altäre erhoben.

Die Kirche hat als Communio Sanctorum eine eschatologische Tiefendimension, sie glaubt an ein Leben der Toten und erschöpft sich nicht darin, eine soziologisch beschreibbare Größe zu sein.

Dem religiös unmusikalischen Zeitgenossen – und nicht nur ihm – dürfte sich die Häufung dieser Selig- und Heiligsprechungen von Päpsten durch Päpste allerdings nur schwer erschließen. Zunächst darf man daran erinnern, dass sich die katholische Kirche als Gemeinschaft der Heiligen versteht, zu der, wie es in der Sprache des Konzils heißt, neben der "irdisch pilgernden" auch "die himmlische Kirche" gehört. Die Kirche hat als Communio Sanctorum eine eschatologische Tiefendimension, sie glaubt an ein Leben der Toten und erschöpft sich nicht darin, eine soziologisch beschreibbare Größe zu sein. In der Liturgie feiert sie das Zusammenspiel von himmlischer und irdischer Kirche. Konkret werden zur "himmlischen Kirche" die Märtyrer und Heiligen gezählt, in deren Leben und Sterben das Evangelium auf einmalige Weise Gestalt angenommen hat.

Schon in der frühen Kirche wurden herausragende Zeugen des Glaubens verehrt und als "Freunde Gottes" (Origenes) und Fürsprecher angerufen. Anders als von durchschnittlichen Gläubigen, die mutmaßlich noch einen therapeutischen Prozess der Läuterung durchlaufen müssen, bevor sie die ewige Seligkeit erlangen, glaubt die katholische Kirche von kanonisierten Heiligen sagen zu können, dass sie schon jetzt bei Gott leben. Sie geht davon aus, dass ihr Urteil über die Heiligen mit dem Urteil Gottes zusammenfällt. Wer darin eine kühne Vorwegnahme des Jüngsten Gerichtes sieht, wird sich damit trösten können, dass den Heiligsprechungen keine entsprechenden Verdammungen gegenüberstehen. Im Blick auf die Hölle übt die Kirche, die für die Dauer der irdischen Pilgerschaft sehr wohl Exkommunikationen ausgesprochen hat, eschatologische Urteilsenthaltung: kein Mensch ist bisher amtlich verdammt worden!

Selbstverständlich gibt es in der Kirche aber auch Heilige, die nicht offiziell als solche verehrt werden. Schon Paulus bezeichnete alle Christen mit dem Ehrentitel der Heiligen – und in der Alten Kirche wurde vor der Kommunion gerufen: Sancta sanctis – die heiligen Gaben allein den Heiligen! Allerdings ist klar, dass es in der Kirche neben dem Glanz der Heiligkeit auch die dunkle, zum Himmel schreiende Wirklichkeit der Sünde gibt. Daher geht einer jeden Selig- oder Heiligsprechung ein akribisches und oft langjähriges Prüfverfahren voraus, das unter Papst Johannes Paul II. noch einmal neu geordnet wurde. Die Untersuchungen werden in der Diözese eingeleitet, wo der Kandidat oder die Kandidatin verstorben ist; ein Postulator sammelt alle relevanten Daten vor Ort und leitet nach Abschluss der Arbeiten die Akte nach Rom. Dort wird der Prozess durch das Dikasterium für die Heiligsprechung fortgesetzt und mündet im besten Fall ein in die Entscheidung des Papstes, den Namen des Kandidaten oder der Kandidatin in das Verzeichnis der Heiligen – den Kanon – aufzunehmen.

Die "Heilmittel der Barmherzigkeit"

Große Aufmerksamkeit hat vor zehn Jahren die öffentliche Zeremonie auf dem Petersplatz gefunden, in der Papst Franziskus zwei prominente Vorgänger kanonisiert hat. Über die Würdigung der persönlichen Vollkommenheit hinaus sind Heiligsprechungen immer auch ein Instrument kirchlicher Gedächtnispolitik. Gerade dann, wenn Päpste heiliggesprochen werden, geht es neben der Person auch um das theologische Programm des jeweiligen Pontifikats. So drängt sich die Frage auf, warum Franziskus nicht etwa Pius XII., dessen Seligsprechungsverfahren wegen seiner umstrittenen Haltung gegenüber den Juden seit Langem stagniert, sondern Johannes XXIII. und Johannes Paul II. heiliggesprochen hat. Dies dürfte nicht nur mit der besonderen, ja geradezu charismatischen Volksnähe, sondern auch mit dem Leitbegriff der Barmherzigkeit zu tun haben, den der Lateinamerikaner auf der cathedra Petri zum theologischen Vorzeichen seines Pontifikats erhoben hat.

Beide Päpste, die 2014 heiliggesprochen wurden, haben zur Rehabilitierung der Barmherzigkeit – bei aller Differenz der Amtsführung – wichtige Impulse gegeben. Johannes XXIII., der im Volksmund schon bald il papa buono genannt wurde und in seinen Aufzeichnungen "Tagebuch einer Seele" berührende Einblicke in seine Frömmigkeit gegeben hat, wollte die antimodernistische Lähmung und kirchliche Strenge unter Pius XII. (1939-1958) überwinden. Er gab den Anstoß zu einer folgenreichen Erneuerung. Die Kirche sollte sich den gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit nicht in defensiver Abgrenzung, sondern im konstruktiv-kritischen Dialog stellen. In seiner unvergessenen Ansprache zur Konzilseröffnung Gaudet mater ecclesia hat er den "Unglückspropheten" eine Absage erteilt und gefordert, statt der "Waffen der Strenge" die "Heilmittel der Barmherzigkeit" zu gebrauchen. Die in der Konzilsaula versammelten Bischöfe haben sich diese Vorgabe zu eigen gemacht und auf dogmatische Definitionen und disziplinarische Weisungen ebenso verzichtet wie auf lehramtliche Verurteilungen. Der neue pastorale Lehrstil des Konzils sieht potenziell alle Menschen als Adressaten des Evangeliums und versucht, die Botschaft vom Heil in einer werbenden Sprache darzulegen.

Auch Johannes Paul II., der als junger Bischof von Krakau am Konzil beteiligt war und in Polen bereits zu Lebzeiten im Ruf der Heiligkeit stand, hat eine Affinität zum Thema der Barmherzigkeit. In seiner Enzyklika Dives in misericordia (1980) hat er eine reiche, noch kaum rezipierte Theologie entwickelt, die in Jesus Christus die Inkarnation des göttlichen Erbarmens sieht. In Anlehnung an die Parabel vom verlorenen Sohn wird dort die Einladung zur Umkehr und Erneuerung mit dem Gestus der offenen Arme des barmherzigen Vaters verdeutlicht. Im Jahr 2000 hat Johannes Paul II. unter Berufung auf die heilige Ordensschwester Faustyna Kowalska (1905-1938) den Sonntag nach Ostern als Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit in den kirchlichen Kalender eingeführt.

Johannes Paul II. hat das Gedächtnis an die menschenverachtenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts mahnend wachgehalten und daraus ein Konzept moralischer Erinnerung abgeleitet. Die anamnetische Solidarität mit den Opfern der Geschichte müsse in der Gegenwart zu einem Einsatz für die Schwachen und Entrechteten führen. Seine Absage an eine "Kultur des Todes" sowie sein kompromissloses Eintreten für die Stimmlosen am Anfang und am Ende des Lebens haben darin ihren Grund.

Die charismatische Persönlichkeit Karol Wojtylas, sein wacher Sinn für symbolische Gesten, sein souveräner Umgang mit den Medien sind noch gut in Erinnerung. Auf seinen mehr als hundert "Pastoralreisen" hat er bis zur physischen Verausgabung seine Verbundenheit mit den Ortskirchen demonstriert, auf den Weltjugendtagen hat er seinen guten Draht zur jungen Generation unter Beweis gestellt. Dieser rastlose Einsatz für das Evangelium dürfte für Franziskus vorbildlich sein, der die Kirche seit seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (2013) seinerseits durch viele Initiativen ebenfalls in einen Zustand der permanenten Mission versetzen will. Um die Präsenz des Evangeliums zu stärken, hat Johannes Paul II. nicht weniger als 1338 Selig- und 482 Heiligsprechungen vorgenommen. Man hat darin nicht ohne Grund eine inflationäre Entwertung gesehen, aber der polnische Pontifex wollte gerade jungen Ortskirchen lokale Vorbilder im Glauben geben. Das Gedächtnis an die menschenverachtenden Diktaturen des 20. Jahrhunderts hat er mahnend wachgehalten und daraus ein Konzept moralischer Erinnerung abgeleitet. Die anamnetische Solidarität mit den Opfern der Geschichte müsse in der Gegenwart zu einem Einsatz für die Schwachen und Entrechteten führen. Seine Absage an eine "Kultur des Todes" sowie sein kompromissloses Eintreten für die Stimmlosen am Anfang und am Ende des Lebens haben darin ihren Grund. Als blinden Fleck der gesellschaftlichen Vulnerabilitätsdiskurse hätte er das stumpfe Sich-Abfinden mit der Tatsache markiert, dass durch die schleichende „Normalisierung“ der Abtreibung hunderttausenden potenziellen Subjekten der menschlichen Diskursgemeinschaft die Stimme genommen wird, bevor sie sie erheben können. Sein Eintreten für Religions- und Gewissensfreiheit, für die Verständigung zwischen den Religionen und den Frieden in der Welt sind unvergessen. Daran hat Franziskus angeknüpft, um in einer zunehmend multireligiös geprägten und von multiplen Krisen heimgesuchten Welt für die humanisierende Kraft des Evangeliums zu werben. 

Unvergessen ist das unerschrockene Auftreten bei seinen apostolischen Reisen in das kommunistische Polen 1979, 1983 und 1987, wo er für Freiheit und Menschrechte eingetreten ist. Nach dem Urteil von Michail Gorbatschow hat Johannes Paul II. maßgeblich zur Implosion der Sowjetunion beigetragen. Auch hat Karol Wojtyla, der in der Nähe von Auschwitz aufgewachsen ist und bis zum Ende seines Pontifikats Freundschaften mit Juden gepflegt hat, vom „nie gekündigten Bund“ Gottes mit Israel gesprochen. Im Jahr 1986 hat er als erster Papst in der Geschichte die Große Synagoge in Rom besucht und den antijüdischen Topos vom „Gottesmord“ zurückgewiesen. Bevor er den damaligen Oberrabbiner Elio Toaff unter Beifall der Anwesenden umarmte, prägte er das Wort: "Ihr seid unsere bevorzugten Brüder, unsere älteren Brüder."

In seinem viel beachteten Schuldbekenntnis hat der polnische Papst im Jahr 2000 schließlich auch für die Verfehlungen der Söhne und Töchter der Kirche um Vergebung gebeten. Bei einem ungeschönten Rückblick auf sein Pontifikat wird man daher auch Probleme ansprechen müssen. Für den dunklen Komplex des sexuellen und geistlichen Missbrauchs in der Kirche hatte Johannes Paul II. ein eher schwach ausgeprägtes Organ. In seinem Pontifikat wurde das immer neu auszubalancierende Verhältnis zwischen Universal- und Ortskirchen zugunsten des römischen Zentralismus weiterentwickelt; auch gab es höchst umstrittene Bischofsernennungen, die manche Ortskirche nachhaltig polarisiert haben. Die Dissonanzen zwischen römischem Lehramt und akademischer Theologie nahmen zu.

Franziskus in den Fußspuren seiner Vorgänger

In den Fußspuren seiner beiden vor zehn Jahren heiliggesprochenen Vorgänger hat auch Franziskus für das Heilmittel der Barmherzigkeit – gerade für die Armen und Marginalisierten – geworben. Die strukturelle Aufarbeitung des Missbrauchskomplexes hat ihn allerdings zugleich zur Nachschärfung der kirchlichen Rechtskultur veranlasst. Während der betagte Roncalli-Papst in Paul VI. (1963-1978) einen weniger charismatischen Nachfolger gefunden hat, der das Zweite Vatikanische Konzil ab der zweiten Session entschieden fortgesetzt und trotz kirchenpolitischer Spannungen zu einem erfolgreichen Abschluss geführt hat, wurden die programmatischen Grundlinien des Pontifikats von Johannes Paul II. durch seinen Nachfolger aus Deutschland weiter ausgezogen. Neben Stildifferenzen in der Amtsführung gab es bei Benedikt XVI. das klare Bemühen um theologische Vertiefung. Schwer zu sagen, ob Papst Franziskus, dessen Pontifikat sich dem Ende zuzuneigen scheint, ebenfalls einen Nachfolger finden wird, der sein Erbe – eine stärker synodale und dem Primat der Evangelisierung verpflichtete, missionarische Kirche – fortführen wird. Videbimus.

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