"Seine Gegner beschlossen schon früh, ihn aus dem Weg zu räumen"Kardinal Kasper über die Ereignisse der Karwoche und ihre Bedeutung – Erster Teil

Was geschah vor mehr als 2000 Jahren zum Pessachfest in Jerusalem? Warum musste Jesus von Nazareth sterben? Wer trägt dafür die Verantwortung? Und was ist für Christen der religiöse Sinn dieses Todes Jesu am Kreuz? Ein Gespräch mit Walter Kasper über Tage, die die Welt verändert haben – und Menschen seitdem zu denken geben.

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Jan-Heiner Tück: Herr Kardinal, wir gehen in die Karwoche. Was bedeutet Ihnen das Kreuz?

Walter Kasper: In meiner Privatkapelle hängt die Kopie eines romanischen Kreuzes, dessen Original aus den Jahren 1180-1190 stammt. Wenn ich zu Hause bin, sitze ich fast jeden Tag nachdenklich vor diesem Kreuz. Die Augen des Gekreuzigten sind liebevoll auf den Betrachter gerichtet. "Für dich habe ich das alles getan." Doch die Arme sind weit ausgebreitet: "Alle sind willkommen. Für alle bin ich da." Die Wundmale sind deutlich sichtbar. Der am Kreuz hängt, weiß um die Verwundungen und die Todesnot vieler Menschen. Doch auf dem milden Gesicht scheint der Schmerz wie überwunden. "Seid getrost. Ich habe den Tod besiegt." Nicht Lüge und Gewalt, nicht der Tod, das Leben hat gesiegt. Gott, der sich am Kreuz offenbart, ist ein Gott des Lebens. So ist das Kreuz eine gute Botschaft, die uns Trost und Hoffnung schenkt: Gott ist mit uns und bei uns auf dem Weg durch die Passionsgeschichte unserer Tage.

Tück: Der Theologie des Westens ist oft eine staurozentrische (also auf den Kreuzestod Jesu bezogene) Engführung vorgeworfen worden. Sie habe die Reich-Gottes-Verkündigung und Praxis Jesu in den Hintergrund gedrängt, hieß es. Daher die Frage: Wie hängen Leben und Sterben Jesu zusammen?

Kasper: Wir sind gewohnt, von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zu sprechen. Das Johannesevangelium sagt es genauer: "Der Logos, in dem alles erschaffen wurde, ist Fleisch geworden" (Joh 1,14). Das heißt in der Sprache der Bibel: Er ist ein schwacher, sterblicher Mensch geworden. Er teilte die menschliche Mühsal und ist uns bis in die Not des Sterbens in allem gleich geworden, die Sünde ausgenommen (Hebr 4,15). Wenn wir die Evangelien lesen, dann wird deutlich, dass Jesu öffentliches Auftreten von Anfang an unter Todesdrohung stand. Seine Gegner beschlossen schon früh, ihn aus dem Weg zu räumen (Mk 3,9). Der gewaltsame Tod Johannes des Täufers war ein Warnzeichen. Als sich während seines Wegs nach Jerusalem die düsteren Wolken immer mehr zusammenzogen, wollte Jesus seine Jünger vorbereiten, indem er sich auf die Vorhersagen des Propheten Jesaja vom leidenden Gottesknecht bezog (Jes 53) und bereit war, den Willen seines Vaters im Himmel zu erfüllen.

Tück: Welche Faktoren sehen Sie, die zur Kreuzigung geführt haben? Nur politische – oder auch theologische?

Kasper: Offensichtlich gab es auch politische Gründe. Der Hohe Rat war durch den Eklat der Tempelreinigung nervös geworden und wollte einen ähnlichen Eklat am Pessachfest, an dem Jerusalem mit Pilgern vollgestopft war, vermeiden. Doch ein Todesurteil war dem römischen Prokurator Pilatus vorbehalten. Theologische Fragen interessierten ihn nicht. Darum mussten sie einen Trick anwenden und behaupten, Jesus habe sich zum König der Juden gemacht und sich gegen den Kaiser in Rom gestellt, das heißt Hochverrat begangen. Pilatus durchschaute den Trick, gab aber dem Tumult der aufgehetzten Menge nach. So sind nicht die Juden, sondern der römische Prokurator juristisch verantwortlich für den Justizmord. Die Gründe einflussreicher Kreise der Juden waren theologischer Art. Sie warfen Jesus Gotteslästerung vor, weil er Sünden vergab, was nur Gott kann (Mk 2,7). Außerdem warfen sie ihm Sabbatschändung vor, weil er am Sabbat Menschen heilte (Mk 3,5). Beides waren nach der Tora todeswürdige Vergehen. Der eigentliche Grund war das Zentrum der Botschaft Jesu, sein Evangelium von Gott, der nicht rächt, sondern befreit, dem reuigen Sünder vergibt und einen neuen Anfang schenkt, Gott, für den nicht der Mensch für den Sabbat, sondern der Sabbat für den Menschen da ist (Mk 2,27). Natürlich verkündete Jesus keine Freiheit ohne jede Bindung. Jesus fasst alle Gebote zusammen im Gebot der Liebe zu Gott, die über alles andere geht, und in der Liebe zum Nächsten, die bis zur Feindesliebe gehen kann (Mk 12,28-34). Beides ist für ihn das ganze Gesetz. Das neue Gesetz der Freiheit in der Liebe schließt die Nähe zu den Armen und Ausgestoßenen ein. Anders Jesu Gegner, für sie waren Jesu Mahlfeiern mit Menschen, welche sie für Sünder hielten, ein Skandal. Für Jesus ist das Kreuz Zeichen der Zuwendung zu allen Leidenden und Geschundenen, Vergessenen und Ermordeten seines Volkes und in der Welt.

"Als Christen können wir nie Antisemiten sein. Papst Franziskus hat es soeben nochmals klipp und klar gesagt: Antisemitismus ist Sünde."

Tück: Wenn die Juden nicht verantwortlich sind für den Kreuzestod Jesu, was bedeutet dann der Ruf: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder"?

Kasper: Es handelt sich um einen Zusatz, der sich im Matthäusevangelium (Mt 27,25) findet, der in der Geschichte leider viel Leid und auch Hass über das jüdische Volk gebracht hat. Das Zweite Vatikanische Konzil hat festgestellt: Das Blut Jesu ist kein Fluch, es ist das Blut der Versöhnung. Jesus ist als Jude für sein Volk in den Tod gegangen. Es ist das Volk, das aufgrund von Gottes Erwählung das Volk des ersten Bundes ist und bleibt. Als Christen können wir darum nie Antisemiten sein. Papst Franziskus hat es soeben nochmals klipp und klar gesagt: Antisemitismus ist Sünde.

Tod und Auferstehung Christi sind der Anfang einer neuen Schöpfung

Tück: Die Kirche glaubt, dass Christus stellvertretend für unsere Sünden gestorben sei. Kant hingegen hat die sittliche Unvertretbarkeit des Subjekts betont, Schuld sei das "Allerpersönlichste" und nicht übertragbar wie eine Geldschuld, die ich für einen anderen begleichen kann. Wie würden Sie auf diesen Einspruch antworten?

Kasper: Zunächst ist Kant recht zu geben. Das Innerste, ja das Heiligtum im Menschen, das wir das Gewissen nennen, ist unvertretbar. Auch Gott, der die Herzen der Menschen kennt, respektiert unsere Gewissensentscheidungen. Stellvertretung ist darum kein Ersatz; Gott tut im Tod und in der Auerweckung Jesu vielmehr etwas, was wir gar nicht tun können und was unsere menschlichen Möglichkeiten übersteigt. Tod und Auferstehung Christi sind Anfang der neuen Schöpfung, sie schaffen eine neue Situation, in welcher die Macht der Sünde und des Todes gebrochen ist und wir zu unserer Freiheit befreit sind (Gal 5,1). Unsere Freiheit wird nicht substituiert, vielmehr evoziert und neu ermöglicht. Nach Thomas von Aquin ist diese Neuschöpfung ein größeres Wunder als die Erschaffung des Himmels und der Erde. Sie setzt uns frei für Gott und für den Nächsten. Wir sollen weitergeben, was wir empfangen haben und für den Anderen gerade dort eintreten, wo er in Not ist und sich selbst nicht mehr helfen kann. Das gilt vollends für die Kirche. Das Heil, das sie verkündet, ist nichts Individualistisches, es ist Sendung und Berufung, für andere stellvertretend einzutreten, Befähigung zur Heilssolidarität. Dabei kann darf sich die Kirche nicht an die Stelle der Gewissensentscheidung anderer stellen. Ihre Aufgabe ist es, die Gewissen zu bilden, damit sie in der Lage sind, selbst zu entscheiden.

Tück: Im Agnus Dei bekennt die Kirche, dass Christus die Schuld der Welt hinweg-getragen habe. Robert Spaemann hat einmal gesagt, die Kategorien der modernen Subjektphilosophie reichten nicht aus, das abgründige Mysterium der Erlösung zum Ausdruck zu bringen. Hier geschehe reale Sühne unserer Sünden. Können Sie ihm folgen?

Kasper: Das Agus Dei, welches die Kirche bekennt, findet sich bereits im Bekenntnis Johannes des Täufers: "Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt" (Joh 1,29). Der Täufer knüpft dabei an das vierte Lied vom Gottesknecht an (Jes 53,7) und weist voraus auf das stellvertretende Leiden Jesu, durch das Jesus die Macht der Sünde und des Todes besiegt hat. Das Wort Sühne, wie man es heute in der Theologie versteht, meint darum nicht, dass er die Sündenschuld ausgeglichen und stellvertretend für uns bezahlt hat, vielmehr hat er die Macht der Sünde überwunden und uns davon befreit. Wenn wir das Agnus Dei in der Liturgie sprechen oder singen, dann stimmen wir in die himmlische Liturgie ein, welche das erhöhte Lamm preist, das uns mit seinem Blut für Gott erworben und uns zu einem Königreich von Priestern gemacht hat (Offb 5,6 ff). Das Agnus Dei ist ein Lob- und Dankgesang dafür, dass Christus die Macht der Sünde und des Todes besiegt und die neue Schöpfung heraufgeführt hat, in der Freiheit und Friede möglich sind. Selbstverständlich lässt sich dieses abgründige theodramatische Geschehen nicht mit den Kategorien der modernen Subjektphilosophie, sondern bestenfalls mit Kategorien des dialogischen Personalismus – und auch da nur annähernd – begreifen. In diesem Sinn kann ich Robert Spaemann gerne zustimmen.

"Das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Freiheit wird immer ein 'nicht ausdenkbares' Geheimnis bleiben."

Tück: Stellvertretung geschieht nicht an uns ohne uns, sondern mit uns. Die vertretene Person muss frei einstimmen, sich vertreten zu lassen, ansonsten wäre es Substitution, Ersatz. Hier tut sich allerdings ein ökumenisches Problem auf, denn lutherische Theologie betont, dass der Sünder mere passive, also ohne aktive Mitbeteiligung aus Gnade allein gerechtfertigt wird. Sehen Sie eine Lösung?

Kasper: Die Frage der Mitwirkung des Menschen bei der Rechtfertigung ist eine der kniffligsten Fragen des ökumenischen Dialogs zwischen Lutheranern und Katholiken. Sie hat uns bei der Vorbereitung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (1999) viel Kopfzerbrechen gemacht. Zunächst muss man darauf hinweisen, dass "mit-wirken", griechisch synergein, im Verhältnis von Gott und Menschen ein biblischer Begriff ist (Röm 8,28 u.a.). Das Problem ist, dass sich Katholiken und Lutheraner darunter Unterschiedliches vorstellen. Luthers These, dass wir gerechtfertigt werden "allein durch Glauben" und "allein aufgrund von Gnade", richtete sich vor allem gegen die Behauptung von Theologen seiner Zeit, wonach wir aufgrund unserer natürlichen Fähigkeiten des Verstandes und des Willens bei unserer Rechtfertigung mitwirken können. Die korrekte katholische Lehre war und ist, dass die Annahme der Gnade nur durch die von der Gnade geleitete Freiheit des Menschen geschehen kann. Die gegenseitigen Verurteilungen des 16. Jahrhunderts treffen darum das heutige Verständnis nicht mehr. Wenn es allerdings darum ging, das Verhältnis von Gnade und menschlicher Freiheit positiv zu formulieren, konnte die lutherische Seite ihr "Markenzeichen" sola fide und sola gratia nicht einfach aufgeben; sie formulierte, dass beim rechtfertigenden Handeln Gottes das Herz des Menschen immer dabei ist. Alles in allem kann man sagen: Die Anathematismen (Verurteilungen) des 16. Jahrhunderts haben ihre kirchentrennende Bedeutung verloren, in der Sache besteht aber noch Klärungsbedarf. Das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Freiheit wird jedoch immer ein "nicht ausdenkbares" Geheimnis bleiben.

Tück: Um die theologische Bedeutung des Kreuzes herauszustellen, haben Sie in Ihrem Buch "Jesus, der Christus" neben den Begriff der Stellvertretung auch den der Solidarität gesetzt. Warum?

Kasper: Da das Wort Stellvertretung oft missverstanden wird, habe ich nach einem anderen Wort gesucht. Das Wort Solidarität war in den frühen Siebzigerjahren, in denen ich meine Christologie geschrieben habe, sehr in Mode. Es wurde jedoch meist als politische Kampfparole gegen andere verstanden, während ich es im Sinn der christlichen Anthropologie und Soziallehre als Solidarität für Andere, als Für-die-Anderen-sein und als Grundexistenzial des Menschen verstanden habe. Es sollte ausdrücken, dass Gott ganz für uns und mit uns da ist und keinen von uns jemals aufgibt und fallen lässt, der umkehrwillig ist.

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