Für eine theologischere TheologieEine Antwort auf die Kritik von Rainer Bucher und Michael Schüßler

Die Debatte um die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) hat die Wogen hoch gehen lassen: Ein Essay, in dem Jan-Heiner Tück und Ulrich Körtner "eine Theologie, die von Kirche her und auf Kirche hin denkt" forderten, wurde von den beiden Pastoraltheologen Rainer Bucher und Michael Schüßler als ein Rückzug ins binnenkirchliche Ghetto gedeutet. Hier antworten Tück und Körtner: Wo Religiosität und theologisches Nachdenken nicht mehr kirchlich rückgekoppelt sind, drohen sie sich zu verflüchtigen.

Gläubige in Kirchenbänken
© privat

Hermeneutik, so lautet ein bekanntes Diktum Odo Marquards, ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht. Gemeint ist nicht wegzulassen, was nicht passt, und zu unterschieben, was man gerne hätte. Nach dieser Methode aber verfährt die Replik der beiden Pastoraltheologen Rainer Bucher und Michael Schüßler auf unser gemeinsames Votum für eine theologischere Theologie im Nachgang zur jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6). Zu Beginn greifen Bucher und Schüßler unsere Forderung auf: "Was wir brauchen, ist eine akademische, von Kirche her auf Kirche hin denkende Theologie", um uns sofort reflexhaft eine in der Geschichte des Katholizismus bekannte Defensivstrategie zu unterstellen: den Rückzug ins Ghetto. Dabei lassen sie einfach den Nachsatz weg, der ihnen offensichtlich nicht passt, dass nämlich diese von Kirche her auf Kirche hin denkende Theologie eine sein müsse, "die sich gleichwohl nicht auf binnenkirchliche Milieus verengt, sondern den wissenschaftlichen Austausch mit anderen universitären Disziplinen sucht". Der Vorwurf, wir würden eine kirchliche Ghetto-Theologie befürworten, ist demnach fingiert. Er basiert wenn nicht auf Vorurteilen, so doch auf einer verkürzten Lektüre, die leichtfertig überliest, dass wir uns ausdrücklich gegen eine "Wagenburgmentalität" ausgesprochen haben. Etwa ein Schnellschuss?

Aber es kommt noch besser: Die Pastoraltheologen äußern ihre Verwunderung, dass sich der evangelische Systematiker Körtner dem katholischen Dogmatiker Tück mit seinem Votum für einen – vermeintlichen – Rückzug in eine Ghetto-Theologie angeschlossen habe. Anstatt die konfessionsübergreifende Ko-Autorschaft ernstzunehmen, insinuieren sie, der eine habe es nötig, sich dem anderen anzuschließen. Eine ökumenisch taktvolle Replik sieht anders aus. 

Kirche als ökumenische Aussage und Herausforderung

Mit Bedacht haben wir übrigens nicht von der Kirche, sondern – ohne bestimmten Artikel – von Kirche gesprochen. Der Satz unterstellt mitnichten ausschließlich ein römisch-katholisches Kirchenverständnis. Eine konfessionelle Engführung auf "die" katholische oder "die" evangelische Kirche liegt uns fern. Beide sind eine spezifische Ausprägung der einen geglaubten Kirche. Die bestehenden Unterschiede in der Ekklesiologie sind uns bewusst und werden von uns als bleibende ökumenische Herausforderung ernst genommen. Umso wichtiger ist es uns, die Forderung, von Kirche her und auf Kirche hin zu denken, als ökumenische Aussage und Herausforderung zu verstehen. 

Doch kommen wir zur Sache, d.h. zum anhaltenden Streit um die Deutung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die inzwischen ein polyfones Echo sowohl von katholischen wie von evangelischen Stimmen gefunden hat. Schon der Religionssoziologe Detlev Pollack hatte in seinem Beitrag für die F.A.Z. herausgestellt, dass sich der christliche Glaube auf Dauer nicht ohne die Kirche halten lasse. Das religiöse Individualisierungsparadigma sei an Grenzen gestoßen, die These, dass bei aller Kirchenschmelze der individuelle Glaube in vielfältigen Formen konstant bleibe, ja floriere, sei so nicht länger haltbar.

Immer mehr Zeitgenossen vermissen nicht einmal, Gott nicht mehr zu vermissen, entweder weil sie nie von ihm gehört, geschweige denn ihn erfahren haben, oder weil sie die kirchliche Sozialisation in den Wind geschrieben haben.

Die anhaltenden Säkularisierungsschübe in der Gesellschaft haben, so die KMU, nicht nur die kirchliche, sondern auch die alternative Religiosität erfasst, die Zahl der religiös Distanzierten und weltanschaulich Säkularen nimmt zu. Die Konfessionslosen und bewusst Areligiösen nun als anonym religiös zu bezeichnen, dürfte ein Akt subtiler Vereinnahmung sein. Immer mehr Zeitgenossen – nicht nur in Ostdeutschland – antworten auf die Frage "Was fehlt, wenn Gott fehlt?" achselzuckend mit "Nichts", weil sie mit "Gott" nichts anfangen können. Den Phantomschmerz nachdenklicher Agnostiker, dass mit der Erosion des Gottesglaubens auch das Transzendenzbegehren und Trostbedürfnis des Menschen ins Leere gehen könnten, kennen sie nicht, ein "Unbehagen an der Immanenz" (Charles Taylor) ist ihnen fremd. Sie vermissen nicht einmal, Gott nicht mehr zu vermissen, entweder weil sie nie von ihm gehört, geschweige denn ihn erfahren haben, oder weil sie die kirchliche Sozialisation in den Wind geschrieben haben.

Nun gibt es Stimmen, die die Methode der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung als einseitig kritisieren. Der Religionsbegriff sei zu eng gefasst gewesen, die Studie gehe von problematischen Vorannahmen aus, ihr entgehe die Diversität der freien Formen von Religiosität. Vielfältige Transzendenzvorstellungen, -erfahrungen und -praktiken seien auch bei Konfessionslosen zu finden. Das ist gewiss richtig. Aber wenn man den Religionsbegriff so weit fasst, dass schon der vage Bezug auf kosmische Mächte, Erfahrungen der Selbsttranszendenz bei einem Spaziergang im Wald oder fernöstliche Meditationspraktiken ohne Gott unterschiedslos als religiös qualifiziert werden, verliert der Begriff seine distinktive Kraft. Dann sind irgendwie alle Menschen religiös. Die Kritik an der Methode ist daher mit Recht von Friederike Erichsen-Wendt, Johannes Wischmeyer und Edgar Wunder zurückgewiesen worden.

Individuelle Religiosität ohne rituelle Praktiken versickert

Dass die Pastoraltheologen Bucher und Schüßler uns nun die vielen ausgetretenen Katholiken vorhalten, die auch ohne eine durch Missbrauchsskandale angeschlagene Kirche ihren Glauben weiterleben, ist ihr gutes Recht. Es gibt die, die aus der Kirche austreten und sich dennoch weiter als gläubig verstehen und private Frömmigkeitspraktiken aufrechterhalten. Übrigens nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten. Aber der Hinweis trifft unseren Punkt nicht. Es geht ja in der KMU gerade darum, das Zeitfenster über zwei bis drei Generationen zu weiten. Und hier zeigt sich ein klarer Trend, dass Formen individueller Religiosität ohne rituelle Praktiken der Kirche und ohne Einbindung in Gemeinschaftsvollzüge eben doch versickern. Selbst wenn die langfristige Validität der KMU Restunsicherheiten aufweisen mag, stellt sich die Frage, ob die Kinder und Enkel derer, die heute aus der Kirche ausgetreten sind, morgen und übermorgen noch glauben werden.

Gewiss, zeitdiagnostische Kompetenz ist wichtig, aber wenn der Rekurs auf externe Wissenschaftsangebote zur Vernachlässigung des theologischen Profils führt, dann verdoppelt die akademische Theologie am Ende nur die Krise, in der die Kirche steht.

Wenn aber umgekehrt gilt, dass der Glaube nachhaltig nur in der Glaubens- und Überlieferungsgemeinschaft der Kirche gelebt werden kann, dann hat das für die Ortsbestimmung der Theologie heute Konsequenzen. Gewiss, zeitdiagnostische Kompetenz ist wichtig, das Gespräch mit Soziologie, Philosophie und anderen Humanwissenschaften kann das Sensorium für die Transformationsprozesse der Gesellschaft schärfen, das Gespräch mit den Suchbewegungen der Gegenwartsliteratur kann auf die latente Sehnsucht metaphysisch Obdachloser hinweisen, auf die hin Theologie ihre Deutungsangebote adressieren muss – aber wenn der Rekurs auf externe Wissenschaftsangebote zur Vernachlässigung des theologischen Profils führt, ja, wenn die Weitung des Religionsbegriffs die "Weiterentwicklung" der Theologie unter der Hand zu einer Gestalt von kulturhermeneutischer Religionswissenschaft fördert, dann verdoppelt die akademische Theologie am Ende nur die Krise, in der die Kirche steht. Sie ist ja nicht primär eine Wissenschaft für vage Transzendenzvorstellungen, -erfahrungen oder -praktiken, sondern eine Disziplin, die aus der Teilnehmer- und Bekenntnisperspektive die semantischen Gehalte des Glaubens reflexiv thematisiert und vor den Anfragen der säkularen Vernunft verantwortet.

Gewiss sind sexueller und geistlicher Missbrauch sowie die Dimension der systematischen Vertuschung virulente Themen, die einer kompetenten Antwort nicht nur von Seiten der Theologie, sondern auch von anderen Disziplinen bedürfen. Gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimakrise, Postkolonialismus und die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit verdienen theologische Aufmerksamkeit. Ihre Wichtigkeit zu bestreiten, kommt uns nicht in den Sinn. Wenn diese Themen allerdings für den Relevanzaufweis der Theologie einseitig funktionalisiert werden und überproportional den Diskus bestimmen, drohen andere Fragestellungen in den Hintergrund zu treten, die für das Selbstverständnis der Theologie wesentlich sind.

Theologie mehr als eine religiöse Kulturhermeneutik

Um die besonders katholischerseits viel diskutierten Zeichen der Zeit im Licht des Glaubens zu deuten (vgl. Gaudium et spes 4), muss man den Glauben hermeneutisch erschließen. Es sei denn, man wollte mit der Weitung des Religionsbegriffs auch die Theologie zu einer Art religiöser Kulturhermeneutik transformieren, um das Gespräch mit den frei flottierenden und semantisch diffusen Formen von Religiosität besser führen zu können. Der Vorzug mag sein, dass man die Krise nicht als Krise beschreiben muss, weil man unter dem Leitbegriff der Transformation davon ausgehen kann, dass Religion nicht verschwindet, sondern nur ihre Gestalt verändert. Aber diese Annahme, die irritationsresistent über die Ergebnisse der KMU hinweggeht, könnte sich als Illusion entpuppen. Methodisch ist an ihr auch zu kritisieren, dass die These von der Allgegenwart des Religiösen in dieser Allgemeinheit nicht falsifizierbar ist. Folglich handelt es sich nicht um eine wissenschaftlich überprüfbare These, sondern um ein unausgewiesenes Vorurteil.

Eine Theologie, die von Kirche her auf Kirche hin denkt, um unsere Formel noch einmal aufzunehmen, ist nicht zu verwechseln mit einem ekklesiozentrischen Narzissmus, der Gottesfrage, Christologie und Anthropologie abblendet. Im Gegenteil: mit der Kirche bezieht sich eine solche Theologie auf die Institution, die das Gottesgedächtnis wachhält, die an die rettende und versöhnende Kraft des Todes und der Auferstehung Christi erinnert und das Wirken des Geistes in der Geschichte bezeugt. Sie ist die Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, die in Zeiten der Traditionsabbrüche und Krisen die Geschichten vom Nahekommen Gottes in der Geschichte präsent hält und in der Gegenwart je neu interpretiert. Daher ist es sachlich verfehlt, dass Bucher und Schüßler das Gottesthema als Menschheitsthema gegen die kirchliche Orientierung der Theologie ausspielen wollen.

Es besteht die Gefahr, dass Gott in einem Verständnis innerweltlicher Transzendenz aufgeht, das Gott nur noch im Anderen, im Mitmenschen zu finden meint.

Ohne solche Orientierung droht sich der Gottesgedanke ins Nebulöse zu verflüchtigen. Man könnte auch sagen: Es besteht die Gefahr, dass Gott in einem Verständnis innerweltlicher Transzendenz aufgeht, das Gott nur noch im Anderen, im Mitmenschen zu finden meint. In diesem Sinne wird gern das berühmte Diktum Dietrich Bonhoeffers zitiert, wonach die Kirche nur noch als Kirche für andere denkbar und glaubhaft ist. Um Kirche für andere zu sein, muss sie aber überhaupt erst einmal Kirche sein, die sich von Christus her auf Christus hin versteht. Ohne Rückbesinnung auf diese Vertikale hat das Christentum keinen Bestand.

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