Orte der Entscheidung benennen50 Jahre französische COMMUNIO – Ein Gespräch mit Jean Robert Armogathe

COMMUNIO-Mitbegründer Jean Robert Armogathe spricht mit Jan-Heiner Tück über das Programm von COMMUNIO und die Lage des Katholizismus in Frankreich.

Jean-Robert Armogathe und Jan-Heiner Tück
Jean-Robert Armogathe und Jan-Heiner Tück© privat

Jan-Heiner Tück: COMMUNIO versucht, die theologischen Impulse der Gründer in die Gegenwart zu übersetzen. Was ist für das Programm der COMMUNIO wesentlich?

Jean Robert Armogathe: Ich halte zwei Aspekte für entscheidend. Das erste ist, die theologische Tradition in ihrer ganzen Tiefe zu sehen: von den Vätern über die mittelalterliche Tradition bis in die Gegenwart. Und zweitens: die Sorge um die Einheit in der Vielfalt. Unser COMMUNIO-Programm ist ein Programm der Einheit in der Vielfalt der Sensibilitäten und der Optionen innerhalb der Kirche.

Tück: Sie zählen mit Jean-Luc Marion, Jean Duchesne und Rémi Brague zu den Gründerfiguren der französischen Edition von COMMUNIO. Wie haben Sie in den Siebzigerjahren Hans Urs vom Balthasar, Henri de Lubac und Jean Daniélou erlebt?

Armogathe: Wir waren damals alle sehr jung, entweder Studenten oder junge Universitätsassistenten, ohne viel akademisches Gewicht. Ich war sehr beeindruckt von der großen Aufmerksamkeit, die diese Personen – Balthasar, de Lubac, Daniélou, Bouyer oder auch Le Guillou – uns jungen Leuten entgegenbrachten. Wir hatten keinerlei Erfahrung, einige von uns besaßen noch nicht einmal einen Abschluss in Theologie. Dabei ging es nicht um individuelle Sympathie. Ich glaube, es war vor allem Balthasars Lehre von den christlichen Ständen und seine Überzeugung, dass in allen Ständen die Dreifaltigkeit gegenwärtig ist und der Geist wirkt, die ihm das Vertrauen gaben, dass junge Laien – ich war damals Laie – diese theologische und kulturelle Arbeit angehen könnten, die ihn immer fasziniert hatte.

"Wichtiger als die Tatsache, dass die Zahl der Erwachsenentaufen gestiegen ist, ist für mich die Tiefe des Engagements vieler Katholiken in Frankreich."

Tück: In Deutschland registriert man neuerdings mit großer Aufmerksamkeit die Renaissance des Katholischen in Frankreich. Der Anstieg der Erwachsenentaufen – die Resonanz bei Jugendlichen. Wie würden Sie diese Phänomene beurteilen?

Armogathe: Zahlen sind nicht alles. Wichtiger als die Tatsache, dass die Zahl der Erwachsenentaufen gestiegen ist, ist für mich die Tiefe des Engagements vieler Katholiken in Frankreich. Ich bin im ländlichen Bereich als Ruhestandsgeistlicher tätig und bin beeindruckt von der Qualität des Laienengagements, das es vor 30 Jahren so noch nicht gab. Mütter und Väter opfern sehr viel Zeit, um sich fortzubilden und den Glauben weiterzugeben. Ich erhalte so viele Anfragen für Vorträge und Konferenzen und bekomme bei diesen Gelegenheiten sehr intelligente Fragen gestellt, die mir zeigen: Die Laien sind gut ausgebildet, sie sind neugierig, sie wollen die katholische Lehre kennen und verstehen – nicht aus einem dilettantischen persönlichen Vergnügen heraus, sondern weil sie das, was sie empfangen haben, an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben wollen.

Tück: Welche Rolle spielen die geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen?

Armogathe: Die Bewegungen haben sich vor allem in den Achtziger- und Neunzigerjahren verbreitet und hatten eine charismatische Kraft, die Papst Johannes Paul II. sehr schätzt. Aber sie haben heute an Bedeutung verloren. Es gibt heute ein starkes individuelles Engagement, auch von jungen Menschen, außerhalb der Bewegungen. Mir ist das zuletzt beim Weltjugendtag in Lissabon aufgefallen. Nun stellt sich die Frage: Wie kann es der Kirche gelingen, diese jungen Menschen zwischen 20 und 30 nicht zu enttäuschen? Sind wir in der Lage, ihre Fragen zu verstehen und ihre Sprache zu sprechen? Werden sie in der Kirche eine Antwort auf ihr Engagement finden?

Die Krise als Ort der Entscheidung

Tück: Beim Symposion anlässlich der 50-Jahr-Feier der französischen COMMUNIO in Paris wurde die Frage nach der Krise der Kirche und der Krise der Gesellschaft gestellt. Was ist angesichts dessen die Aufgabe von COMMUNIO?

Armogathe: Es ist sehr gut deutlich geworden, dass der Begriff der Krise mehrdeutig ist. Wenn wir ihn biblisch verstehen, geht es um den Ort einer Entscheidung, die aus einer Unterscheidung erwächst. Das ist übrigens auch der medizinische Sinn des Wortes: Die Krise ist der Moment, in dem sich entscheidet, ob der Kranke stirbt oder leben wird. Eine der Aufgaben der COMMUNIO ist die eines Wächters, wie Balthasar es ausdrückte. Wir treffen selbst nicht die Entscheidungen, aber wir benennen die Orte, die Orte der Entscheidung sein werden.

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